Digital Journal for Philology
»This is your coming century!«
Mandus Processing Company, London, 31. Dezember 1899: Der Protagonist des Horrorspiels Amnesia: A Machine for Pigs – der Großindustrielle, Philantrop und Witwer Oswald Mandus – begegnet den Geistern, die er rief: dem ›Geist in der Maschine‹, die er schuf, die sich jedoch schon lange seiner Kontrolle entzogen hat. In den tiefsten Tiefen seiner Fleischverarbeitungs-Fabrik teilt dieser Maschinengott seine Vision vom bevorstehenden 20. Jahrhundert mit Mandus:
I have stood knee deep in mud and bone, and filled my lungs with mustard gas. I have seen two brothers fall. I have lain with holy wars and copulated with the autumnal fallout. I have dug trenches for the refugees; I have murdered dissidents where the ground never thaws, and starved the masses into faith. A child’s shadow burnt into the brickwork. A house of skulls in the jungle. The innocent, the innocent, Mandus, trod and bled and gassed and starved and beaten and murdered and enslaved. This is your coming century! They will eat them, Mandus. They will make pigs of you all, and they will bury their snouts into your ribs, and they will eat your hearts!1
Angefangen bei der ›Urkatastrophe‹ des Ersten Weltkriegs über Genozid und Massenvernichtungswaffen bis zu globalen Konflikten und Terror sieht er ein Jahrhundert des Schreckens, des Krieges und der Grausamkeit. Darum möchte er die Zivilisation lieber zu einem gewaltsamen Ende führen, als ihren Niedergang zuzulassen.
Diese Idee erscheint im bürgerlichen Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht so wahnwitzig, wie sie heutige Amnesia-Spieler vielleicht einschätzen mögen: Die Zeit des sogenannten fin de siècle ist mehr als nur das Ende eines Jahrhunderts: Die Zeitspanne von den 1880ern bis zum Ersten Weltkrieg wird tatsächlich »als Endzeit verstanden, als Auflösung kultureller und sozialgeschichtlicher Einheiten im besseren, als Untergang im schlimmsten Falle.«2 Zumindest unter der intellektuellen Bevölkerung Europas sind Pessimismus und der Glaube an einen nicht aufhaltbaren Verfall – décadence – weit verbreitet. Hier zeigt sich, dass das Setting von A Machine for Pigs nicht etwa zufällig oder aus rein ästhetischen Gründen gewählt wurde. Die Jahrhundertwende ist weitaus mehr als bloßer Hintergrund für eine Schauergeschichte. Ort und Zeit spiegeln, im Kontext der kulturellen Strömungen des fin de siècle betrachtet, zentrale Ideen und Motive des Spiels wider, so etwa das Ende einer alten und den Beginn einer neuen Ära. Der mathematisch korrekte Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert ist selbstverständlich der vom Jahr 1900 zum Jahr 1901; Historiker sprechen häufig vom »langen 19. Jahrhundert«, das mit dem Ersten Weltkrieg endet;3 die Zahlen 1899 und 1900 symbolisieren jedoch wesentlich deutlicher das Ende einer alten und den Beginn einer neuen Einheit.
Im Folgenden untersuche ich, auf welche Weise das Spiel den kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Kontext, der über die zeitliche Verortung des Setting bereits angedeutet ist, im Detail aufgreift und wie darin ästhetische, philosophische und gesellschaftliche Ideen des fin de siècle verhandelt werden. An diesem Beispiel zeigt sich die Relevanz kulturhistorischer Ansätze für die Analyse von Computerspielen. Darum nehme ich A Machine for Pigs nach Ansätzen einer kulturgeschichtlichen Literaturwissenschaft unter die Lupe. Die Anwendung literaturwissenschaftlicher Methoden auf Computerspiele steht unter dem Verdacht, wichtige medienspezifische Aspekte dieses interaktiven Mediums zu vernachlässigen. In der vorliegenden Arbeit steht mit dem kulturhistorischen Kontext jedoch ein Aspekt im Vordergrund, der bei einer rein ludologischen Betrachtung unter Umständen vernachlässigt würde. Die kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft versteht sich als eine dezidiert intertextuelle und intermediale Disziplin:
Sie untersucht Wechselwirkungen zwischen der Literatur und dem Wissenssystem, zwischen Literatur und anderen Medien (Intermedialität und Medienkonkurrenz) und den literatureigenen medialen Beitrag zu kultureller Kommunikation, Zeichenbildung und Wahrnehmungsformung.4
Amnesia: A Machine for Pigs handelt vom Großindustriellen Oswald Mandus, der in der Silvesternacht 1899 ohne Erinnerung an die letzten Monate in seiner Villa in London aufwacht. Spieler nehmen die Umgebung aus seiner Egoperspektive wahr. Ziel ist es, das menschenleere Anwesen sowie die angeschlossene Fleischfabrik auf der Suche nach Mandus’ Söhnen und nach Hinweisen auf die Geschehnisse des letzten halben Jahres zu durchsuchen. Eine mysteriöse Stimme am Telefon erzählt, Mandus’ Kinder hätten sich in den Tiefen der riesigen Fabrik verlaufen und er müsse die Maschinen in Gang setzen, um sie zu befreien. Im Laufe der Handlung finden Spieler zahlreiche Briefe und Tagebucheinträge – ein großer Teil davon optional –, die offenbaren, dass Mandus vor den Ereignissen des Spiels allmählich dem Wahnsinn anheimfiel und seine riesige Fleischverarbeitungsmaschine als eine Art Gott verehrte. Außerdem treffen die Spieler auf bizarre Monster – halb Mensch, halb Schwein –, die in den Gängen der Fabrik hausen. Diese können die Spieler nicht bekämpfen; stattdessen müssen sie ihnen aus dem Weg gehen, sich verstecken oder fliehen.
1. Fin de siècle und décadence
In welchem Zusammenhang stehen fin de siècle und der Gedanke der décadence? Gegen Ende des 19. Jahrhunderts greifen in Europa Pessimismus und das Gefühl, einer Spätzeit anzugehören, um sich. Gesellschaftliche Zersetzungsprozesse nach dem Vorbild des späten römischen Imperiums, aber auch individuelle Niedergangserscheinungen sind in diesem Zeitraum beliebte Themen in Kunst und Literatur.5 Das Wissen um die eigene décadence bestimmt das Lebensgefühl des späten 19. Jahrhunderts. Helmut Koopmann schreibt: »Décadence war ermüdendes Leben, Kennzeichen waren schwindende Vitalität, Zersetzung und biologischer Niedergang, Abnutzungs- und Auflösungserscheinungen jeder Art, Labilität, Willensschwäche, Verlust aller Lebenskräfte, Zukunftslosigkeit; zur Décadence gehörten Neurosen und Selbstzerstörungsgedanken bis zur Todessehnsucht.«6
Auch Oswald Mandus leidet anscheinend an jenen Symptomen: In A Machine for Pigs können Spieler Auszüge aus dem Tagebuch des Protagonisten finden. Aus jenen geht hervor, dass er seelisch am Elend in der Welt und am Tod seiner Frau, finanziell am Misserfolg seiner Firma und körperlich an einem Fieber, mit dem er sich auf einer Mexikoreise infiziert hat, leidet. Er ist ein Philanthrop, der einsieht, wie ohnmächtig er den Schattenseiten der modernen Gesellschaft gegenübersteht, obwohl er Waisenhäuser baut und Bettlern Arbeit gibt. Gleichzeitig entwickelt er einen Hass auf die kränkelnde Menschheit, aus dem ein neuer Lebensantrieb entspringt – der Wille, die Welt durch Industrie und eine neue Ordnung zu verbessern. Dieser Wille manifestiert sich in der zu wahnwitziger Größe ausgebauten Maschinerie seiner Fabrik und macht sich schließlich selbstständig.
Das Bewusstsein der Maschine ist ein Teil von Mandus’ eigenem Bewusstsein: der verbitterte, pessimistische, nihilistische Teil. Verschiedene Notizen und Tagebucheinträge legen nahe, dass diese Spaltung durch ein mysteriöses Artefakt hervorgerufen wurde, das Mandus auf seiner Mexikoreise in einem alten Tempel fand. Dieses schenkte ihm auch die Zukunftsvision. Er sah, wie seine Söhne im Ersten Weltkrieg während eines Gasangriffs einen grausigen Tod sterben. Das will er nicht zulassen, weshalb er die Kinder im Wahn umbringt. Er will ihnen die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ersparen, wie die Maschine sie der Menschheit ersparen will. An anderer Stelle wird nahegelegt, dass es zu der Spaltung kam, als Mandus’ Ehefrau im Kindbett starb. Im Tagebuch schreibt er über die Geburt seiner Söhne: »I looked at them, covered in the blood of their dead mother, little piglets […] and my heart at once was filled with a great love and a consuming hate I could never have imagined. At that point, did my soul split, creating him?« (A:AMfP) In der Beziehung zu seinen Kindern spiegelt sich also seine ambivalente Beziehung zur Menschheit wieder – die Beziehung des prototypischen décadence-Bürgers zur Menschheit.
Eine Seite seiner Persönlichkeit will die Grauen des 20. Jahrhunderts mit aller Gewalt verhindern und hat in ihrem Wahn nur noch den einen Wunsch: »to save humanity, ridding them of their painful, stupid, pointless lives.« (A:AMfP) Die Todessehnsucht der dekadenten Gesellschaft wird also bedient, allerdings von einem Individuum, das ihr nicht selbst angehört. Die Maschine kennt keine Lebensmüdigkeit, keine Trägheit und keinen ennui. Sie strebt nach Perfektion. Inspiriert durch Mandus’ von Fieberträumen begleitete Mexikoreise will sie Menschenopfer nach aztekischem Vorbild auf dem Niveau der Massenindustrie ausführen, um sich in den Status eines Gottes zu erheben. Sie ist davon überzeugt, der Menschheit so einen Gefallen zu erweisen: »I seek to save the world by blood now, before millions fall beneath history, pushed under by blade, bullet and gas.« (A:AMfP)
2. Bezüge zu Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts
Intermediale und intertextuelle Verweise fungieren in A Machine for Pigs nicht nur als atmosphärischer Schmuck, sondern greifen zentrale Aspekte der Erzählung voraus.
Einen deutlichen Bezug zur Kultur der Jahrhundertwende stellt A Machine for Pigs durch intertextuelle Referenzen auf literarische Traditionen jener Zeit her, vor allem auf die der Schauerliteratur. Seelische Spaltung, Doppelgänger und innere Zerrissenheit zwischen extrem polaren Bedürfnissen sind wichtige Themen der Literatur des 19. Jahrhunderts. Das bekannteste Beispiel dürfte Robert Louis Stevensons Novelle Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde aus dem Jahr 1886 sein. Auch A Machine for Pigs greift diese Themen auf: Mandus ist auf der Suche nach seinen Söhnen – eineiigen Zwillingen – und spricht immer wieder davon, dass er sich zweigeteilt fühle; die Schweinemenschen, die im Inneren der Maschine leben, werden als Doppelgänger der Menschheit verstanden, so wie die Maschine selbst als Mandus’ Doppelgänger identifiziert werden kann. Sigmund Freud, der die Grundzüge seiner Psychoanalyse zur Zeit des fin de siècle entwickelte, hebt das Doppelgänger-Motiv als typischen Aspekt des Unheimlichen hervor, das in Bezug steht »zum Spiegel- und Schattenbild, zum Schutzgeist, zur Seelenlehre und zur Todesfurcht«.7 Der Doppelgänger sei in frühen Kulturen ein positives Motiv gewesen, seine Wahrnehmung habe sich jedoch gewandelt – von »einer Versicherung des Fortlebens […] zum unheimlichen Vorboten des Todes.«8
Handlung und Setting von A Machine for Pigs knüpfen ebenfalls direkt an die Tradition der Schauerliteratur des 19. Jahrhunderts an. So werden Erwartungshaltung und Atmosphäre einer Horrorgeschichte aufgebaut, ohne dass Spieler mit expliziten Darstellungen fantastischer, unnatürlicher Ereignisse konfrontiert werden müssen. »Selbst ohne eine direkte Affizierung des Spielers konzentriert sich das Design der Spielumgebungen von Horror-Spielen darauf, klassische Konnotationen des Unheimlichen zu evozieren, setzt also auf die persönlichen Erfahrungen sowie die Kenntnis von Genre-Konventionen seitens des Spielers.«9 A Machine for Pigs wartet zwar nicht wie der Vorgänger Amnesia: The Dark Descent mit einem klassischen ›Geisterschloss‹ auf, doch auch das menschenleere, düstere Mandus-Anwesen ist ein Schauplatz, wie man ihn in einer gothic novel finden könnte. Die verlassene Fabrik, in deren Inneren der größte Teil der Handlung stattfindet, weist zahlreiche genretypische Raummerkmale auf, etwa eine verwirrend labyrinthische Architektur, gewaltige Rohre, Fließbänder und Generatoren, deren Zweck nicht spezifiziert wird und ständige, aus dem Augenwinkel wahrnehmbare Bewegung im Dunkeln, die lediglich zur Maschinerie gehören, aber auch auf ein sich anschleichendes Monster hindeuten kann.
Die Soundkulisse bedient sich Konventionen des stark von der Tradition der gothic novel beeinflussten Horror-Genres, um Spielern das Gefühl zu vermitteln, nicht alleine an einem vermeintlich verlassenen Ort zu sein: Dielen knarren, Maschinen brummen und klappern, ferne Schritte sind zu hören. Kein Geräusch ist extradiegetisch; selbst die Musik ist fast ausschließlich innerhalb der Spielwelt verortet. Wenn sich also immer wieder Schritte oder schweres Atmen unter die Geräusche mischen, weisen sie eindeutig auf eine nahende, aber noch nicht sichtbare Bedrohung hin. In vielen anderen Spielen würden diese als Warnung dienen und Spieler auf eine Auseinandersetzung vorbereiten, ihnen so die Angst teilweise nehmen. Laut Guillaume Roux-Girard haben sie in Horrorspielen jedoch den gegenteiligen Effekt, da sie eine Erwartungshaltung aufbauen und so »terror by anticipation based on a fear of the unseen«10 erzeugen. In A Machine for Pigs sind tatsächliche Begegnungen mit Monstern überraschend selten, die Geräusche führen meist in die Irre und erzeugen das paranoide Gefühl, andauernd beobachtet und verfolgt zu werden.
Mithilfe modernster Technik und mysteriöser Chemikalien erschafft Mandus aus den Kadavern von Menschen und Schweinen eine neue Spezies. Die Darstellung und Erschaffung der Schweinemenschen, über die die Spieler schrittweise aufgeklärt werden, erinnert stark an das Monster aus Mary Shelleys Frankenstein. Wie dieses sind sie lebendige, denkende Wesen, die aus Leichenteilen anderer Lebewesen zusammengesetzt wurden. Diese Wiederkehr des Toten ins Reich der Lebenden ist ein klassisches Motiv der Horrorliteratur. Freud erklärt: »Im allerhöchsten Grade unheimlich erscheint vielen Menschen, was mit dem Tod […] und mit der Wiederkehr der Toten […] zusammenhängt«, denn diese Motive konfrontierten den Menschen mit der »unableugbaren Tatsache des individuellen Todes«.11 Wie der Wissenschaftler Frankenstein begreift Mandus sich als moderner Prometheus, der der Menschheit die Erlösung durch technischen Fortschritt bringen will. Die Schweinemenschen sind zwar nicht so intelligent wie Frankensteins Monster, aber auch hier wird eine eigenartige Vater-Sohn-Beziehung zwischen dem künstlichen Menschen und seinem Schöpfer evoziert. In der bereits erwähnten Tagebuchpassage zur Geburt seiner Kinder bezeichnete er sie als »little piglets«. (A:AMfP) Diese Analogie zieht sich durch das gesamte Spiel. Bald ist klar, dass die Stimme der Maschine eigentlich die Schweinemenschen meint, wenn sie sagt, dass Mandus seine Kinder befreien soll.
Auch zu anderen Kunstformen des fin de siècle werden Bezüge hergestellt. An den Wänden des Mandus-Anwesens hängen unter anderem verschiedene Gemälde des belgischen Malers Antoine Wiertz, der meistens sehr makabre bis verstörende Motive abbildete. Besonders häufig taucht das Bild Faim, folie et crime auf. Es zeigt eine ungepflegte, anscheinend geistig verwirrte Frau in einer chaotischen Küche. Bei genauerer Betrachtung sind grausame Details erkennbar: Die Frau hält ein blutiges Messer in der Hand, das Bündel in ihrem Schoß ist die Leiche eines Kindes, ein Kinderbein ragt aus dem Topf über der Feuerstelle. Das Gemälde dient nicht nur dazu, eine unheimliche Atmosphäre zu erzeugen, sondern deutet verschiedene Aspekte der Hintergrundgeschichte an, die die Spieler zu Beginn noch nicht kennen – so etwa Mandus’ Wahn, den Mord an seinen Kindern und das Motiv des Kannibalismus12 der Schweinemenschen.
Der Soundtrack des Spiels stammt von Jessica Curry, die sich beim Komponieren nach eigener Aussage an der Musik des viktorianischen Englands orientierte, aber auch an den Kunstliedern deutscher Komponisten jener Zeit wie Franz Schubert oder Gustav Mahler.13 Das von ihr komponierte Stück Dieses Herz ist im Stil dieser Kunstlieder mit Klavierbegleitung gehalten und greift damit den typischen Stil der Jahrhundertwendemusik auf. In dieser war das Klavier »dominant in der Erfindung und Entwicklung der Motive und Themen, während die Singstimme in einem rezitativischen oder ariosen Stil den Text deklamierte.«14 Der Text verwendet Versatzstücke verschiedener traditioneller Schlaflieder, während er dem Motiv des herausgerissenen Herzen, das in der Erzählung an späterer Stelle eine Rolle spielt, analeptisch vorausgreift.
3. Industrialisierung und Kapitalismus
A Machine for Pigs greift das Formeninventar der fin de siècle-Kunst auf, referiert somit auch auf ihren historischen und thematischen Kontext, vor allem auf Industrie und Technik der Jahrhundertwende. Zwischen den Kapiteln erscheinen Ladebildschirme mit Illustrationen, die im Stil von Holzstichen aus dem 19. Jahrhundert das Innenleben der Fabrikhallen der Mandus Processing Company zeigen.
Das gesamte 19. Jahrhundert war eine Zeit zahlreicher technischer Neuerungen, und sein Ende markiert den Beginn der industriellen Massenproduktion. Das Technikverständnis des europäischen Bürgertums war nicht so stark geprägt vom Pessimismus des fin de siècle wie andere gesellschaftliche Bereiche. Die Fortschrittsgläubigkeit der vorangehenden Jahrzehnte blieb im Allgemeinen erhalten: Dampfmaschinen wurden mit gotisch geschmückten Säulen versehen, Bahnhöfe wurden als moderne Kathedralen betitelt, die Elektrizität wurde in der Kunst allegorisch als Freiheitsgöttin dargestellt, die Licht und Aufklärung selbst in die dunkelsten Stuben bringen sollte.15
Auch Oswald Mandus glaubt daran, mit dem Bau seiner Maschine zu einer besseren Welt beitragen zu können. Anfangs soll sie so viel Nahrung produzieren und so viele Arbeitsplätze schaffen wie möglich. Doch nach der Zukunftsvision und dem Mord an seinen Kindern will Mandus eine Vernichtungsmaschine schaffen, die seinen neuen Plan von der Rettung der Menschheit durch ihre Auslöschung umsetzt. Es findet eine schon religiöse Verklärung der Technik statt: »We need a new deity«, sagt Mandus, »one of steam and the wheel, of magnetism and progress.« (A:AMfP) Der optimistische Traum eines Kollegen von einer Maschine, die wie ein Mensch denken kann, stößt ihn ab, da er ihm nicht weit genug geht: »No, this is not the machine we seek. Such an entity should be nothing less than a deity, and we would fall upon our knees and worship it. We shall not carve gods to bicker and fornicate, they will exist to clean the world and set us free.« (A:AMfP) Mandus’ Technikverständnis ist ein extremes Beispiel eines um 1900 um sich greifenden Konzepts, das Uwe Spörl als gottlose Mystik bezeichnet.16
Mandus’ neuer, aus dem technischen Fortschritt geborener, perfekter Gott braucht auch neue, aus dem technischen Fortschritt geborene, perfekte Diener und Arbeiter. Aus diesem Grund erschafft er die bereits erwähnten Schweinemenschen. Denn im Gegensatz zum Menschen seien diese Kreaturen »loyal, clever, strong, and easily sated«. (A:AMfP) Sie können als Metapher für das sich selbst verwertende Proletariat, das sich gegen das Bürgertum erhebt, gelesen werden. Tim Youngs schreibt, dass solcherlei Transformationen von Mensch und Tier in der englischen (Schauer-)Literatur der Jahrhundertwende keine Seltenheit seien und häufig der Reflektion gesellschaftlicher Veränderungen dienten: »Some of these have been the subject of considerable critical attention, but rather than timeless mythical or psychological examples of metamorphosis […] these physical alterations might be viewed more productively as reflections of changes to the social body.«17 Schweine, die in einer Fleischfabrik arbeiten, können eine Arbeiterklasse, die die kapitalistische Wirtschaft am Laufen hält, aber gleichzeitig von ihr ausgenutzt wird, darstellen. Diese Lesart legt das Spiel nahe, da an prominenter Stelle (am Ende des Abspanns) ein Zitat von Leo Trotzki platziert ist: »The party that leans upon the workers but serves the bourgeoisie, in the period of the greatest sharpening of the class struggle, cannot but sense the smells wafted from the waiting grave.« Mandus erschafft mit den Schweinemenschen eine Parallelgesellschaft, eine seiner Meinung nach perfekte Arbeiterklasse. Die Maschine weist Mandus an, die Kreaturen zu befreien und eine Revolution einzuleiten, die die Menschheit auslöschen soll. Die Schweinemenschen sollen die Menschheit ersetzen, wie das Proletariat am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Bedeutung zunahm und das Ende eines weltfremden, lebensfernen, dekadenten Bürgertums einleiten sollte.18
4. Pessimismus und Wille zur Macht
Neben Trotzki kommen auch zwei andere bedeutende philosophische Vordenker des fin de siècle in A Machine for Pigs zu Wort: Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche.
Schopenhauers Betonung des Willens, dem er den Primat gegenüber dem Denken einräumt, hat nicht nur durch seinen grundlegenden Pessimismus einen Teil der Grundstimmung des Fin de Siècle mitgetragen, sondern über Nietzsches Konzeption des ›Willens zur Macht‹ zur Entstehung jener Art von Lebensphilosophie beigetragen, die um die Jahrhundertwende als Reaktion auf steril gewordenes akademisches Philosophieren erscheint.19
Für Schopenhauer ist die Welt das Ergebnis eines irrationalen Lebenswillens. Dieser rastlos strebende Wille kann nicht befriedigt werden, der Mensch ist nicht zu wahrem Glück fähig und die Welt darum ein durch und durch schlechtes ›Jammertal‹. Der Tod ist ein besserer Zustand als das Leben. Suizid ist jedoch keine sinnvolle Alternative, da der metaphysische Wille umgehend eine neue Form findet. Stattdessen soll der Mensch den nicht zu befriedigenden Willen vollends negieren, gegen den Lebenstrieb ankämpfen und so einen Zustand erreichen, der ihm Glück bringen kann. »Erkenntnis der Einheit aller Wesen und Askese, Verneinung des Willens zum Leben allein kann uns erlösen, nicht der Selbstmord, der nur die individuelle Erscheinung des Allwillens vernichtet«,20 sagt Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung. Mandus teilt dieses Weltbild zum Zeitpunkt der Spielhandlung gewissermaßen. Er ist ein zutiefst pessimistischer Mensch, der den Willen zum Leben lange überwunden hat. Selbstmord kommt für ihn auf keinen Fall in Frage; gleichzeitig will er aber seinen Kindern und potentiell der gesamten Menschheit das Jammertal der Welt durch den Tod ersparen.
Nietzsches Philosophie hingegen ist absolut lebensbejahend. Der ewige Kreislauf von Entstehen und Vergehen ist für ihn Ausdruck eines wahren, natürlichen Lebens. »Leben: das war Ursprünglichkeit, […] ein Mysterium jenseits aller Kultur, war Trieb, ein Dasein ohne Intellekt, unbewusste Fülle des Augenblicks, ursprüngliches Dasein, Freiheit vom Wissen um Vergangenheit und Zukunft, das Gegenwärtige als höchstes Glück.«21 Nietzsche verachtet die Müdigkeit und Lustlosigkeit der fin de siècle-Gesellschaft. Der Mensch darf sich der Ohnmacht nicht ergeben. Er muss seinem Schicksal entgegenstreben, es wollen, auf sich selbst beziehen und so förderlich in das eigene Leben integrieren. Seinen weisen Heilsbringer Zarathustra lässt Nietzsche sagen: »[M]ein Wollen kommt mir stets als mein Befreier und Freudebringer. Wollen befreit: das ist die wahre Lehre von Wille und Freiheit – so lehrt sie euch Zarathustra. Nicht-mehr-wollen und Nicht-mehr-schätzen und Nicht-mehr-schaffen! ach, dass diese grosse Müdigkeit mir stets ferne bleibe!«22 Ein starker Geist interpretiert die gesamte Welt, auch das Leiden, auf sich selbst zu und verleibt sie sich somit ein. Mandus hat den Willen zur Macht. Er macht sich die Welt zu Eigen und will ihr Schicksal kontrollieren. Er will das »Rad des Seins« am Laufen halten, die alte Zivilisation zu einem Ende führen und eine neue aufbauen. Auch diese Gedanken lassen sich in seinem Tagebuch finden: »We will build a new world from the ruins of the old. We will plant flowers in the rotten ribcage and let them grow to hold the sky from falling.« (A:AMfP) An anderer Stelle bezeichnet die Maschine ihn (also eigentlich er sich selbst) darum als den Übermenschen.
Sein Handeln ist motiviert von zwei gegensätzlichen Idealen. Auch hier zeigt sich Mandus’ Zerrissenheit – zwischen zwei Weltbildern und zwei Wesen.
5. Macht- und Orientierungslosigkeit
Durch seine Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit ist Mandus ein perfekter Repräsentant der fin de siècle-Gesellschaft. Diese erlebte das Aufbrechen und Wegfallen tradierter Werte und Ordnungen. Zurück blieben Identitätsverlust, Entfremdung und innere Zerrissenheit. Die partizipatorische Natur des Mediums Computerspiel erlaubt Spielern, sozusagen aus erster Hand an dieser Erfahrung der Verunsicherung teilzuhaben.
Spieler können sich nicht gegen die Monster wehren; sie sind unbewaffnet und hilflos ausgeliefert. Die zentralen Spielerhandlungen sind nicht, wie in vielen anderen Computerspielen, Bekämpfen und Überwinden einer Bedrohung, sondern das Verstecken und Fliehen vor selbiger. In einem Medium, das traditionell gerne Machtfantasien bedient, ist ein Gefühl der Machtlosigkeit potentiell äußerst angsteinflößend. Spieler sind im Computerspiel handelndes Subjekt, fühlen sich also auch selbst bedroht, wenn ihre Handlungsmacht eingeschränkt wird – vor allem, wenn wie im Fall von A Machine for Pigs, die Welt aus der Egoperspektive des Protagonisten wahrgenommen und so gut wie vollkommen auf ein die Immersion potentiell störendes grafisches Interface verzichtet wird. Doch die Spieler unbewaffnet vor Bedrohungen zu stellen ist nur eine Strategie, die Horrorspiele anwenden, um Verunsicherung zu erzeugen. Odile Strik erklärt, dass auch beschränkte – und damit stark subjektivierte – Wahrnehmung die Kontrolle der Spieler beschränkt und damit Spannung erzeugt:
Equally important, if not more so, is clarity of perception and awareness of your surroundings. Obviously, darkness is threatening because our vision is constrained. One of the strongest ways to make use of this is to provide a character with a flashlight or similar tool, which illuminates part of the scene at the expense of decreased visibility anywhere else.23
In beiden Teilen der Amnesia-Reihe ist der Protagonist mit einer Laterne ausgerüstet, die nur einen Teil des Sichtfeldes erhellt. Zu der Angst vor den Wesen, die im Dunkeln lauern könnten, gesellt sich also die Sorge, ob die einzige Lichtquelle überhaupt ausreicht, um das Dunkel wenigstens etwas erträglicher zu machen. Weiter eingeschränkt wird die Wahrnehmung durch die Tatsache, dass Gegner nicht nur nicht bekämpft, sondern nicht einmal betrachtet werden dürfen. Monster spüren den Blick des Avatars; wer nicht erwischt werden will, muss also wegsehen und bleibt so im Ungewissen darüber, wie nahe ihm die Gefahr wirklich ist. So ist gewährleistet, dass das Fremde, Unbekannte und Unheimliche tatsächlich fremd bleibt, nicht erkannt, sondern nur erahnt werden kann.
Während sie im Vorgänger Amnesia: The Dark Descent enthalten sind, fehlen in A Machine for Pigs die für Horrorspiele typischen sogenannten sanity effects, die Spieler durch verschwimmende Sicht, Kontrollverlust oder Halluzinationen am fortschreitenden geistigen Verfall ihrer Protagonisten teilhaben lassen. Diese Effekte sollen »nicht nur die psychische Schwäche des eigenen Charakters, sondern auch die eigene Anfälligkeit für Irritation und die Gemachtheit des Spiels vor Augen führen.«24 Die Entwickler von A Machine for Pigs verzichteten jedoch gerade aus Gründen des Horrors auf dieses System:
As for the game’s mechanical core, the removal of the sanity meter was a primary aim from the outset. TCR [The Chinese Room] recognized the likely controversy of this, but felt that the system was fundamentally flawed as a means of telling the player they should now be scared, and approximately ›how much‹ they should be scared. The aim was to create a game that was inherently horrifying, and thus did not require a meter or gauge to tell the player to be scared.25
In Amnesia: A Machine for Pigs spielt, wie der Titel bereits verrät, Gedächtnisverlust eine wichtige Rolle. Das Spiel beginnt in medias res: Der Avatar erwacht, kann sich nicht an die vorangehenden Ereignisse erinnern und muss sie durch das Erkunden seiner Umgebung, das Sammeln von Hinweisen und das Lesen von Tagebüchern und ähnlichem rekonstruieren. Der Protagonist hat seinen Gedächtnisverlust bewusst durch das Einnehmen eines Trankes herbeigeführt, um seine grauenvollen Taten zu vergessen. Es fand also eine ganz konkrete Verdrängungstechnik statt. Im Laufe des Spiels kehrt das Verdrängte jedoch nach und nach wieder zurück. Die Angst vor der Wiederkehr des Verdrängten ist laut Freud ausschlaggebend für das Phänomen des Unheimlichen: »[D]ies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.«26 Der Gedächtnisverlust sorgt zu Beginn des Spiels für ein größeres Identifikationspotential, da die Spieler und der Avatar mit demselben Wissensstand ins Geschehen treten. Doch durch das Enthüllen seiner grauenvollen Vergangenheit findet eine langsame Entfremdung vom Avatar statt, der gewissermaßen den Körper der Spieler innerhalb der Spielwelt darstellt. Die Distanz zum eigenen Körper, die etwa dadurch unterstrichen wird, dass Spieler das Zähneknirschen des Avatars hören, wenn dieser besonders nervös wird, führt zu Irritation und Desorientierung, da kein klares Verorten des Selbst in der Welt mehr möglich ist.
Je tiefer die Reise in die Eingeweide der Maschine führt, desto weitläufiger und verwinkelter werden die Areale. Auch Details in der Raumgestaltung generieren zusätzlich Verwirrung. Zum Beispiel tauchen immer wieder Schweinemasken und makabre Gemälde an Orten auf, wo sich kurz zuvor noch keine Objekte befanden und zeigen so: »not only are your expectations about a space untrustworthy, but your immediate experience is as well.«27
Im letzten Abschnitt konfrontiert das Spiel die Spieler in einem Moment der Selbstreferentialität direkt mit ihrer Orientierungs- und Hilflosigkeit: Bis zu diesem Punkt hält Mandus in einem jederzeit einsehbaren Notizbuch die aktuellen Ziele und den einen oder anderen Lösungshinweis fest. Nun steht im Buch unter der Überschrift »Mandus is Alone« jedoch lediglich geschrieben: »I search for instruction, for advice, for help in my goals, but in return the system mocks me. Simpleton, it says, you must find your own answers now.« (A:AMfP) Das System verweigert sich der Sinnsuche, es liefert keine Antworten mehr auf die Fragen, die es selbst aufwirft – so wie der Mensch in der Zeit des fin de siècle ein »Bewusstsein der Ohnmacht gegenüber den modernen Lebensprozessen«28 entwickelt.
Die Geschichte um Oswald Mandus gleicht selbst einer komplexen Maschine aus Zahnrädern, die unerwartet ineinandergreifen und anderen Komponenten, die scheinbar vollkommen unabhängig voneinander arbeiten. Die genauen Stationen von Mandus’ Vorgeschichte lassen sich nur mühsam rekonstruieren und nicht in eine befriedigende, sinnvolle Reihenfolge bringen. Gegen Ende ist überhaupt nicht mehr klar, wann die Ereignisse der von Mandus erlebten Wahrheit entsprechen, wann sie von Wahnvorstellungen und Rückblicken verzerrt sind und wann sie rein symbolischer Natur sind. Befindet sich im Herzen der Maschine tatsächlich der Nachbau einer aztekischen Pyramide? Oder bildet Mandus sie sich ein? Oder dient sie als Symbol, das die Menschenopfer der Azteken, den Mord an Mandus’ Kindern, das Gemetzel in London und die Kriege des 20. Jahrhunderts in einen kausalen Zusammenhang stellt? Spricht Mandus wirklich mit der Maschine? Ist die Stimme nur ein Produkt einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung? Oder ist der Dialog eine Illustration des inneren Konflikts, den Mandus austrägt? Erst eine sinnvolle Interpretation und Verortung der Ereignisse würde eine gewisse Kontrolle über die Situation ermöglichen, doch A Machine for Pigs bleibt bewusst kryptisch, um eben jenen Triumph des Willens zur Macht zu verhindern. Stattdessen leistet es sich das Spiel, das wesentliche Leitmotiv der décadence, das vollkommene Unverständnis, zum eigenen dominanten Prinzip zu erheben. Rainer Sigl hält fest:
Der Horror hier ist, wie jeder wahre Schrecken, der Horror des Nicht-Verstehens, der Schrecken der Irrationalität. […] Denn nicht zuletzt ist genau das die große Pointe eines Spiels, das sich nicht zufällig das 20. Jahrhundert als Thema gewählt hat: Dass sich vor dem mechanistisch-nüchternen Hintergrund einer vernunftvoll geplanten Industriearchitektur das irrationale Morden eingerichtet hat, in der wir, als deren Erbauer, nun auf der Suche nach Antworten sind, warum wir das alles selbst getan haben – und wir schlussendlich nur Bruchstücke finden, Beweise unserer Schuld und unseres Wahnsinns. Die Lösung, sie fehlt. Dieser Spuk verschwindet nicht.29
6. Game Studies und (Kultur-)Geschichte
Die erspielten Erlebnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts können Spieler mit der eigenen Lebenswirklichkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Verbindung bringen. A Machine for Pigs ist ein Computerspiel, das sich motivisch und narrativ der Tradition der Literatur des fin de siècle verschreibt, daran anschließt und diese im Modus des Interaktiven ästhetisch neu verhandelt. Zugleich spannt es einen Bogen von der industrialisierten Gesellschaft zur digitalisierten Gesellschaft. Auch diese Jahrhundertwende ist geprägt von Fortschrittsgläubigkeit bei gleichzeitiger Zukunftsangst. Die Industrialisierung der Wirtschaft im 19. Jahrhundert führte auch zu einer Industrialisierung des Krieges mit Massenherstellung von Bomben und Panzern, die durch ihren vernichtenden Einsatz im Ersten Weltkrieg zu einer weitgehenden Ernüchterung führten.30 Heute ist eine Digitalisierung des Krieges zu beobachten, mit ferngesteuerten Drohnen und Hackerangriffen, die ganze Regierungen lahmlegen. Auch die genetische Modifikation des Menschen und die Erschaffung künstlicher Intelligenz, wichtige Themen des 21. Jahrhunderts, behandelt das Spiel in einem fin de siècle-Kontext. A Machine for Pigs inszeniert Diskurse und Probleme der Jahrhundertwende, die auch in der Gegenwart relevant sind. In der Kunst und im gesellschaftlichen Diskurs im Europa beider Jahrhundertwenden spiegeln sich eine innere Zerrissenheit und Angst vor den sozialen und technischen Entwicklungen der nahen Zukunft wider. Die titelgebende Amnesie des Protagonisten kann in diesem Kontext gelesen werden als das Verdrängen und Vergessen der Tatsache, dass diese Probleme bereits in der Vergangenheit bestanden. A Machine for Pigs als Vertreter eines modernen Erzählmediums stellt einen Bezug zum Verdrängten her, zerrt es wieder ans Tageslicht und aktualisiert es.
Bei der Analyse und Interpretation des Settings von Computerspielen ist es wichtig, nicht nur nach der historischen Authentizität, sondern auch nach der kultur- und geistesgeschichtlichen Relevanz ihres Settings zu fragen. So zeigt sich am Beispiel Amnesia: A Machine for Pigs die Relevanz einer in der Untersuchung von Computerspielen oft vernachlässigten Methode. Dient die Epoche, in der die Spielhandlung stattfindet, lediglich als ansprechendes, originelles Setting, oder finden sich in der darin zitierten Philosophie, Literatur, Kunst und Architektur der Zeit zentrale Themen und Ideen des Spiels wieder? Nicht nur die korrekte Wiedergabe geschichtlicher Fakten von weltpolitischer Bedeutung rechtfertigt die Verwendung historischer Szenarien für Computerspiele. Auch die kultur- und geistesgeschichtliche Dimension dieser Szenarien bestimmt die Bedeutung und Relevanz eines Computerspiels.
Literatur- und Medienverzeichnis
Amnesia: A Machine for Pigs. Frictional Games 2013 (gespielt in der Version vom 27. Dezember 2015).
ENGEL, Manfred: »Kulturwissenschaft/en – Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft – kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft«. In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 1 (2001), S. 8–36.
FREUD, Sigmund: »Das Unheimliche«. In: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Bd. 12. Werke aus den Jahren 1917–1920. Hg. v. Anna Freud. Frankfurt / M. 1999, S. 227–278.
HÅRD, Mikael: »Technik und Kultur«. In: Sabine Haupt u. Stefan Bodo Würffel (Hg.): Handbuch Fin de Siècle. Stuttgart 2008, S. 680–693.
HAUPT, Sabine: »Themen und Motive«. In: Dies. u. Stefan Bodo Würffel (Hg.): Handbuch Fin de Siècle. Stuttgart 2008, S. 138–158.
HIRSBRUNNER, Theo: »Musik«. In: Sabine Haupt u. Stefan Bodo Würffel (Hg.): Handbuch Fin de Siècle. Stuttgart 2008, S. 543–582.
HOWELL, Peter: Post Mortem: The Chinese Room’s Amnesia: A Machine for Pigs, 23. Mai 2014. http://www.gamasutra.com/view/feature/218372/postmortem_the_chinese_room... (zuletzt eingesehen am 27. Dezember 2015).
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- 1. Amnesia: A Machine for Pigs. Frictional Games 2013 (gespielt in der Version vom 27. Dezember 2015, im Folgenden zitiert als A:AMfP).
- 2. Helmut Koopmann: »Fin de Siècle und Décadence – Erscheinungsformen, Begründungen, Gegenbewegungen«. In: Johannes G. Pankau (Hg.): Fin de Siècle. Epoche – Autoren – Werke. Darmstadt 2013, S. 70.
- 3. Vgl. Jürgen Kocka: »Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten«. In: Ders. (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. München 1988, S. 11.
- 4. Manfred Engel: »Kulturwissenschaft/en – Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft – kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft«. In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 1 (2001), S. 21.
- 5. Vgl. Sabine Haupt: »Themen und Motive«. In: Dies. u. Stefan Bodo Würffel (Hg.): Handbuch Fin de Siècle. Stuttgart 2008, S. 141.
- 6. Koopmann: »Fin de Siècle und Décadence« (Anm. 2), S. 69.
- 7. Sigmund Freud: »Das Unheimliche«. In: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Bd. 12. Werke aus den Jahren 1917–1920. Hg. v. Anna Freud. Frankfurt / M. 1999, S. 260.
- 8. Ebd., S. 261.
- 9. Felix Raczkowski u. Sabine Schollas: »›And we’re stayin’ alive‹ – Atmosphären in Horror- und Musikspielen zwischen Design und Interaktion«. In: Christian Huberts u. Sebastian Standke (Hg.): Zwischen|Welten. Atmosphären im Computerspiel. Glückstadt 2014, S. 157.
- 10. Guillaume Roux-Girard: »Listening to Fear: A Study of Sound in Horror Computer Games.« In: Mark Grimshaw (Hg.): Game Sound Technology and Player Interaction. Concepts and Developments. Hershey 2011, S. 205.
- 11. Freud: »Das Unheimliche« (Anm. 7), S. 268.
- 12. Es wird mehrmals angedeutet, dass Mandus Besucher in sein Haus einlud – vor allem Angehörige der upper class –, um sie von den Schweinemenschen in seiner Fleischfabrik verarbeiten zu lassen.
- 13. Vgl. Emily Reese: Jessica Curry and ›Amnesia: A Machine for Pigs‹ on Top Score, 26. September 2013. http://www.classicalmpr.org/story/2013/09/26/jessica-curry-and-amnesia-a... (zuletzt eingesehen am 27. Dezember 2015).
- 14. Theo Hirsbrunner: »Musik«. In: Sabine Haupt u. Stefan Bodo Würffel (Hg.): Handbuch Fin de Siècle. Stuttgart 2008, S. 543–582, hier S. 569.
- 15. Vgl. Mikael Hård: »Technik und Kultur«. In: Sabine Haupt u. Stefan Bodo Würffel (Hg.): Handbuch Fin de Siècle. Stuttgart 2008, S. 680–693, hier S. 681f.
- 16. Vgl. Uwe Spörl: »Mystisches Erleben, Leben und Schreiben um 1900. Überlegungen zu den Grenzen der Literaturwissenschaft«. In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 2 (2001), S. 214–230, hier S. 215f.
- 17. Tim Youngs: Beastly Journeys. Travel and Transformation at the fin de siècle. Liverpool 2013, S. 1.
- 18. Zum Status des europäischen Bürgertums um 1900 vgl. Koopmann: »Fin de Siècle und Décadence« (Anm. 2), S. 84.
- 19. Peter Kampits: »Philosophie«. In: Sabine Haupt u. Stefan Bodo Würffel (Hg.): Handbuch Fin de Siècle. Stuttgart 2008, S. 601–619, hier S. 604f.
- 20. Arthur Schopenhauer: »Die Welt als Wille und Vorstellung II«. In: Ders.: Sämtliche Werke. Fünf Bände. Bd. 2. Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Hg. v. Wolfgang von Löhneysen. Darmstadt 1986, S. 46.
- 21. Koopmann: »Fin de Siècle und Décadence« (Anm. 2), S. 75.
- 22. Friedrich Nietzsche: »Also sprach Zarathustra«. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 4. Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari. München 2005, S. 111.
- 23. Odile Strik: The Possibilities of Horror in Games, 17. Oktober 2013. http://www.ontologicalgeek.com/the-possibilities-of-horror-in-games (zuletzt eingesehen am 27. Dezember 2015).
- 24. Raczkowski u. Schollas: »›And we’re stayin’ alive‹« (Anm. 9), S. 158.
- 25. Peter Howell: Post Mortem: The Chinese Room’s Amnesia: A Machine for Pigs, 23. Mai 2014. http://www.gamasutra.com/view/feature/218372/postmortem_the_chinese_room... (zuletzt eingesehen am 27. Dezember 2015).
- 26. Freud: »Das Unheimliche« (Anm. 7), S. 267.
- 27. Strik: The Possibilities of Horror in Games (Anm. 23).
- 28. Koopmann: »Fin de Siècle und Décadence« (Anm. 2), S. 70.
- 29. Rainer Sigl: Lost in the dry paper soul of the world: A Machine for Pigs, 09. September 2014. http://www.videogametourism.at/content/lost-dry-paper-soul-world-machine... (zuletzt eingesehen am 27. Dezember 2015).
- 30. Vgl. Hård: »Technik und Kultur« (Anm. 15), S. 683.
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