Andreas
Degen
Potsdam

Analyse visueller Wahrnehmungsqualitäten von Lyrik

Gegenstand und Problemstellung

Traditionell und bis in die Gegenwart gilt als adäquater Rezeptionskanal von Lyrik das Hören. Dem steht die Tatsache gegenüber, dass seit etwa 200 Jahren Gedichte zumeist in stiller Lektüre rezipiert werden. Auch wenn eine solche Lektüre üblicherweise von einem ›inneren‹ Hören der Stimme begleitet ist, erfolgt in diesem Fall die Erstbegegnung durch den Sehkanal. Vergleichbar der prosodischen Modulation, in der ein vorgetragenes Gedicht gehört wird, wird die Lektüre eines Gedichtes von seiner visuellen Darstellungsqualität grundiert: Ein Gedicht zu lesen bedeutet immer auch, ein Gedicht zu sehen.

Hier setzt das mit der visuellen Ästhetik von Lyrik und der Möglichkeit ihrer Analyse befasste Projekt an. Abgesehen von der langen Tradition des europäischen Figurengedichtes und der Ende des 19. Jahrhunderts von Frankreich ausgehenden modernen visuellen Experimentalpoesie hat die visuelle Qualität des Gedichttextes in der Forschung bislang nahezu keine Beachtung gefunden.1 Dies ist umso erstaunlicher, als sich die als gattungskonstitutiv angesehene Versform von Lyrik mit der Erfindung nicht-metrischer Verse durch Friedrich Gottlieb Klopstock zunehmend visuell herleitet. Lässt sich nämlich beim metrisch geregelten Vers die Schriftform als Abbild des – prosodisch definierten – gesprochenen Verses auffassen, verhält es sich beim nicht-metrischen Vers umgekehrt: Die Schriftform definiert in diesem Fall die Einheit des Verses, die dann stimmlich abgebildet wird. Die Einheit des schriftlichen Verses wird – für syntaktische Einheiten sind Verszäsuren bekanntlich nicht verbindlich (Enjambement) – weniger lesend als auf einen Blick sehend wahrgenommen.

Der Untersuchungsfokus richtet sich nicht auf sogenannte visuelle Poesie, sondern auf Texte in Versform und mit (überwiegend) deutschen Wörtern. Es werden Gedichte in metrischen, freirhythmischen und prosanahen Versen untersucht.

Zielsetzung

Ziel des Projektes ist, analytisch handhabbare Kategorien für die Beschreibung der visuellen Dimension von rezitierbarer Lyrik zu gewinnen. Visualität wird dabei als eine allgemeine Dimension des ästhetischen Erlebens schriftbasierter Lyrik angesehen. Das Ziel wird in drei Schritten angesteuert:

1. Theoriebildung: Vorliegende medien- bzw. literaturtheoretische, lyrik- und buchgeschichtliche, sprachwissenschaftliche, wahrnehmungspsychologische und semiotische Arbeiten insbesondere zu den Themenfeldern Schriftbildlichkeit, Typographie, Graphematik, und Leseforschung werden in Hinblick auf für die Fragestellung relevante und analytisch operationalisierbare Beobachtungen, Begriffe und Hypothesen ausgewertet.

2. Exemplarische Textanalysen: Davon ausgehend werden 40 Gedichte (z. B. J.W. Goethe, F. Hölderlin, H. Heine, P. Celan, J. Bobrowski, D. Danz) verschiedener Formtraditionen aus dem Zeitraum von 1770 bis 2020 (250 Jahre) hinsichtlich ihrer textuellen Anordnung, ihrer typografisch-graphematischen Erscheinungsweise, ihrer visuellen Prozessierung und ihrer grafisch-syntaktisch-semantischen Relationen untersucht.

3. Generalisierung der Befunde: Aus den Ergebnissen der visualitätsbezogenen Einzeluntersuchungen werden allgemeine Parameter und Vorgehensweisen für eine Analyse der visuellen Wahrnehmungsqualität von Lyrik ermittelt.

Die Ergebnisse der drei Teilziele werden in Form einer Monographie publiziert. Anschlussmöglichkeiten bieten sich zu Visualitätsanalysen nicht deutscher Lyrik oder zu einer empirischen Untersuchung des Leseverhaltens im Wechsel von Kurz- und Langzeilen.

Vorgehen

Innerhalb der dreischrittigen Zielsetzung stehen die exemplarischen Untersuchungen von Gedichten im Zentrum: Hier werden die aus der Forschung ermittelten Hypothesen, Begriffe und die Vorgehensweise adaptiert, erprobt, modifiziert und durch neue Zugänge ergänzt. Das in der Textanalyse untersuchte Korpus von 40 deutschsprachigen Gedichten aus dem Zeitraum von 1770 bis 2020 wird nach den Kriterien ›Versform‹, ›Textumfang maximal eine Seite‹, ›formale, stilistische, epochale Vielfalt‹ und ›vermutete Diversität an visuellen Phänomenen‹ zusammengestellt. Ein Anspruch auf Repräsentativität der Selektion wird nicht erhoben, vielmehr wird eine breite Phänomenvielfalt angestrebt. Der Zeitraum umfasst den gattungshistorisch gravierenden Wechsel von dominant metrischer zu dominant nicht-metrischer Lyrik. Die ausgewählten Gedichte werden anhand des ersten oder eines frühen, in jedem Fall autorisierten Druckes in Buchform untersucht.

Bei den Untersuchungen der Gedichte wird von visuellen Einheiten ausgegangen, die sich durch eine Verbundenheit der grafischen Struktur gegenüber leeren Flächen (Wortabstand, Zeilenabstand, Strophenabstand) definieren. Dabei wird zwischen den makrostrukturellen visuellen Einheiten Wort, Vers, Textfeld (wie Strophe oder Versgruppe) und Textgestalt (Gesamttext, differenzierbar etwa als stehend oder liegend) differenziert. Von diesen Einheiten unterschieden werden die mikrostrukturellen visuellen Einheiten der graphematischen Silbe und des Buchstaben. Diese Einheiten definieren sich nicht durch Leerflächen, sondern durch Formenunterschiede. Der visuelle Status von Satzzeichen muss noch ermittelt werden. Die Textanalysen fokussieren in erster Linie makrostrukturelle Visualitätseffekte; mikrostrukturelle Phänomene werden nur punktuell berücksichtigt. Je nach Befund können diese jedoch stärker in die weitere Untersuchung einbezogen werden.

In der Textanalyse wird für jedes Gedicht zunächst – gegebenenfalls auf der Grundlage von Forschung – die vorliegende syntaktische, prosodische und semantische Struktur in mittlerer Schärfe erschlossen; Detailfragen werden nicht erörtert. Daran schließt die Analyse visueller Phänomene und Strukturen im Zusammenhang mit anderen Textstrukturen an.

Zugriffe

Zur Veranschaulichung werden abschließend einzelne visualitätsbezogene Kategorien nach dem bisherigen Arbeitsstand erläutert:

Textfeld, Umriss: Das zusammenhängende Textfeld wird durch eine voranstehende und eine folgende Leerzeile (obere und untere Textgrenze) sowie die dazwischenliegenden Versanfänge (linke Textgrenze, fast immer linksbündig) und Versenden (rechte Textgrenze, meist mehr oder weniger flatternd) begrenzt. Die vier Grenzlinien können in ihrer Proportion (Höhe zu Breite) qualifiziert werden. Die visuelle Signifikanz eines Textfeldes, gleich ob ikonisch (diagrammatisch) oder prozessual aufgefasst, resultiert meist aus dem Charakter der rechten Textgrenze. Dieser kann z. B. harmonisch alternierend, spannungsvoll oder statisch ausfallen. Die rechte Textgrenze kann durch eine sukzessive Anordnung der Mehrheit der Versenden einzelne weiter nach rechts ragende Versenden visuell isolieren bzw. exponieren. Das extensivste Versende scheint zudem auf der weißen Fläche des Blattes eine virtuelle Vertikallinie zu markieren, zu der die kürzeren Vers enden in Spannung stehen, so dass etwa die ihnen ‚folgende‘ freie Fläche als Raum der Abwesenheit, der Nichtsprache oder des Potentiellen semantisiert wird.

Visueller Rhythmus: Der Leseprozess eines Gedichtes ist durch die horizontale Anordnung der Wörter im Vers und die vertikal absteigende Anordnung der Verse bestimmt. Da die Wahrnehmungsspanne des Auges mehrere Buchstaben umfasst, kann bei kurzen Versen die vertikale gegenüber der horizontalen Lesebewegung dominieren; die Verslänge regelt also die dominante Leserichtung. Das Versende bedeutet ein visuelles Ereignis im Leseprozess: a) Wechsel von grafischer Struktur zu weißem Untergrund; b) nach links und tiefer rückender Blick. Die Verslänge ist somit Maß für den visuellen Rhythmus im Leseprozess.

Textfeld, Dichte: Die visuelle Binnenstruktur des Textfeldes resultiert aus Anzahl und Länge der Verse und der Anzahl und Länge der sie konstituierenden Wörter sowie der Zwischenräume zwischen den Wörtern. Verschiedene Textfelder (z. B. Versgruppen) eines Gedichtes lassen sich hinsichtlich der Anzahl und der Binnenordnung der Wörter, Zwischenräume oder Buchstaben vergleichen. Trotz unterschiedlicher Umrissformen kann z. B. zwischen zwei Textfeldern eine Äquivalenz der Buchstabenzahl bestehen, die sich visuell etwa als unsymmetrische Balance qualifizieren lässt.

Literaturverzeichnis

METZ, Bernhard: Die Lesbarkeit der Bücher. Typographische Studien zur Literatur. Paderborn 2020.

MÜLLER, Lisa: Schriftpoesie. Eigenbedeutung lyrischer Schriftlichkeit am Beispiel Thomas Klings. Paderborn 2021.

POLASCHEGG, Andrea: »Literatur auf einen Blick. Zur Schriftlichkeit der Lyrik«. In: Sybille Krämer u. a. (Hg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin 2012, S. 245–264.

POLASCHEGG, Andrea: Der Anfang des Ganzen. Eine Medientheorie der Literatur als Verlaufskunst. Göttingen 2020.

SCHENK, Klaus: Medienpoesie. Moderne Lyrik zwischen Stimme und Schrift. Stuttgart u. a. 2000.

SPITZMÜLLER, Jürgen: »Typographie«. In: Christa Dürscheid (Hg.): Einführung in die Schriftlinguistik. 5., aktual. u. korr. Aufl. Göttingen 2016, S. 209–241.

STÖCKL, Hartmut: »Typographie: Gewand und Körper des Textes – Linguistische Überlegungen zu typographischer Gestaltung«. In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik 41 (2004), S. 5–48.

WEHDE, Susanne: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000.

WITTE, Georg: »Das Gesicht des Gedichts. Überlegungen zur Phänomenalität des poetischen Textes«. In: Susanne Strätling u. ders. (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift. München 2006, S. 173–190.

ZYMNER. Rüdiger: »Begriff der Lyrikologie. Einige Vorschläge«. In: Claudia Hillebrandt u. a. (Hg.): Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 1: Lyrisches Ich, Textsubjekt, Sprecher. Berlin u. a. 2019, S. 25–50.

 

  • 1. Vgl. Bernhard Metz: Die Lesbarkeit der Bücher. Typographische Studien zur Literatur. Paderborn 2020; Lisa Müller: Schriftpoesie. Eigenbedeutung lyrischer Schriftlichkeit am Beispiel Thomas Klings. Paderborn 2021; Andrea Polaschegg: »Literatur auf einen Blick. Zur Schriftlichkeit der Lyrik«. In: Sybille Krämer u. a. (Hg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin 2012, S. 245–264; Andrea Polaschegg: Der Anfang des Ganzen. Eine Medientheorie der Literatur als Verlaufskunst. Göttingen 2020; Klaus Schenk: Medienpoesie. Moderne Lyrik zwischen Stimme und Schrift. Stuttgart u. a. 2000; Jürgen Spitzmüller: »Typographie«. In: Christa Dürscheid (Hg.): Einführung in die Schriftlinguistik. 5., aktual. und korr. Aufl. Göttingen 2016, S. 209–241; Hartmut Stöckl: »Typographie: Gewand und Körper des Textes – Linguistische Überlegungen zu typographischer Gestaltung«. In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik 41 (2004), S. 5–48; Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000; Georg Witte: »Das Gesicht des Gedichts. Überlegungen zur Phänomenalität des poetischen Textes«. In: Susanne Strätling u. ders. (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift. München 2006, S. 173–190, Rüdiger Zymner: »Begriff der Lyrikologie. Einige Vorschläge«. In: Claudia Hillebrandt u. a. (Hg.): Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 1: Lyrisches Ich, Textsubjekt, Sprecher? Berlin u. a. 2019, S. 25–50.

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