Literary Studies and Praxis
Anna-Maria
Senuysal
Cincinnati

»In völliger Verrükung / constant zu werden«

Verrückung als deterritorialisierende Textstrategie in Peter Weiss’ »Hölderlin«

Einleitung

1970 erschien mit Peter Weiss’ Hölderlin ein Stück, das sich mit dem Wahnsinn des im Titel benannten Dichters auseinandersetzt und die Thematik um eine zunächst distinkt politische Dimension erweitert, indem es den Dichter insbesondere als gescheiterten Revolutionär darstellt. Die Forschung liest Hölderlin als dezidiert politische Umdeutung des Diskurses über den Dichter.1 Über jene Umdeutung schreiben Thomas Beckermann und Volker Canaris im Vorwort zu Der andere Hölderlin: »Denkbar wäre auch ein Stück gewesen, das der Legende um Friedrich Hölderlin getreu verliefe: Hölderlin, der reine Tor, als Dichter verkannt, unglücklich verliebt […]. Mit seinem Hölderlin hat Peter Weiß dieses Stück nicht geschrieben – schon deshalb erregte es Aufsehen, ja Ärgernis«.2 Anstatt dessen portraitiere Weiss den Dichter als »politisch Handelnden und Leidenden«.3 Manfred Haiduks Lesart fokussiert ebenfalls die Figur Hölderlins als (gescheiterten) Revolutionär, der »[ä]hnlich Marat […] als zu früh gekommener Held konzipiert« ist, »dessen Ideale mit der schäbigen Wirklichkeit in Widerspruch stehen. Seine Suche nach Identität, nach dem Ich, nach Selbstbetätigung und Subjektbewährung scheitert an gesellschaftlichen Grenzen, an der fehlenden Realisierung revolutionärer Ideen«.4 Auch Pierre Bertaux liest Weiss’ Figur vor allen Dingen als gescheiterten Revolutionär,5 der aber als Literat nicht nur mit dem Scheitern seiner ideologie-, sondern auch ästhetikbezogenen Ideen kämpft. Im hier vorliegenden Beitrag jedoch wird eine alternative Lesart vorgestellt, die den Text nicht als Geschichte des Scheiterns versteht, sondern ihm ein subversives politisches Potenzial zuschreibt.

Die These besagt, dass im Text Bewegungen auf den Ebenen von Temporalität, Subjekthaftigkeit und Ausdruck auftreten, die unter dem Begriff der Verrückung zusammengezogen werden. In diesen Bewegungen werden eindeutige Kodifizierungen und Fixierungen von Zeitlichkeit, Ausdruck und Subjekt dekonstruiert und der Text kann entlang der Linien der von Gilles Deleuze und Felix Guattari entwickelten Konzepte von Deterritorialisierung und Werden interpretiert werden. Um dies zu zeigen, führt der Beitrag zunächst in die relevanten theoretischen Konzepte ein, um daraufhin die verschiedenen Verrückungsprozesse nachzuzeichnen. Abschließend werden Theorie und Analyse in Synthese gebracht und das sich aus dieser Synthese ableitende revolutionäre Potenzial des Stücks dargelegt.

Die Konzepte der De- und Reterritorialisierung wurden durch Deleuze und Guattari zunächst in enger Beziehung zum Marxismus und zur Psychoanalyse in Anti-Oedipus (1972) entwickelt. Acht Jahre später jedoch hat sich ihr Verständnis der Konzepte in A Thousand Plateaus hin zu vermehrt von diesen Denkschulen abgelösten, weiter gefassten Phänomenen gewandelt. De- und Reterritorialisierung werden hier als verwobene Prozesse entworfen, in denen sich Dekonstruktion, Destabilisierung und Auflösung von Systemen mit ihrer Rekonstruktion, Restabilisierung und Erneuerung ablösen. In der Konklusion von A Thousand Plateaus wird die Funktion der Deterritorialisierung folgendermaßen beschrieben: »D[eterritorialization] is the movement by which ›one‹ leaves the territory. It is the operation of the line of flight«.6 Das ›Territorium‹ wird hier nicht ausschließlich im geographischen Sinne verstanden; es bezeichnet einen definierten, geordneten Raum, der im Prozess der Deterritorialisierung verlassen wird. In Hölderlin werden, wie gezeigt wird, sowohl Zeitlichkeit als auch Subjekt und Ausdruck deterritorialisiert und in einen Status verrückt, aus dem heraus sich keine Reterritorialisierung oder Reintegration in Ordnungssysteme mehr ereignet. Es handelt sich somit im Sinne Deleuze‘ und Guattaris um eine absolute Deterritorialisierung.

Im Text sind die Deterritorialisierungen eng mit dem verknüpft, was in A Thousand Plateaus als ›Werden‹ beschrieben wird – ein prozessualer ›Non-Status‹, in den jene Verrückungen führen. Deleuze und Guattari beschreiben das Werden als »the movement by which the line frees itself from the point, and renders points indiscernible: the rhizome, the opposite of arborescence; break away from arborescence«.7 Werden ist ein fluider Prozess, der einem statischen Sein entgegengesetzt wird, ähnlich wie das Rhizom in seiner dezentralisierten Struktur dem fest verwurzelten und linear wachsenden Baum. Das Konzept ist durchaus heterogen und wird hier insbesondere im Sinne Rosi Braidottis verstanden, die ›Werden‹ als fortwährenden Prozess beschreibt, in dem »[b]oth teleological order and fixed identities«8 zugunsten eines »flux of multiple becoming«9 aufgegeben werden. Weiterhin hebt sie eine »emphasis on processes, dynamic interaction and fluid boundaries« hervor.10 Um darzulegen, inwiefern sich die Verrückungsprozesse in Hölderlin entlang der hier beschriebenen theoretischen Konzepte lesen lassen, werden sie im Folgenden zunächst skizziert.

Verrückungsprozesse

Terminologisch weist der Begriff der Verrückung verschiedene Bedeutungsebenen auf: Während er im Sinne von ›Verrücktheit‹ zum einen umgangssprachlich häufig auf den Wahnsinn bezogen ist, kann er sich zum anderen auch auf tatsächliche Verschiebungen oder Verlagerungen beziehen: etwas wird ver-rückt. Beide Bedeutungsebenen treffen in Peter Weiss’ Hölderlin-Stück (hier vorgestellt in der überarbeiteten Fassung von 1971/1972) aufeinander. Der Text thematisiert den geistigen Verfall des Dichters zunächst auf semantischer Ebene und spielt dementsprechend auf erstere Bedeutung an. Verrückungen als Bewegung hingegen vollziehen sich in Bezug auf die oben genannten Kategorien von Zeitlichkeit, Subjekthaftigkeit und Ausdruck. Bereits das Grimm’sche Wörterbuch definiert den Begriff der Verrückung als einerseits räumlich und andererseits geistig. Beide Definitionen werden zusammengeführt, wenn der Begriff eine »auch positive unvernunft« bezeichnet, »d. i. eine andere regel, ein ganz verschiedener standpunkt, worein so zu sagen, die seele versetzt wird .. und aus dem sensorium commune .. sich in einen davon entfernten platz versetzt findet: daher das wort verrückung«.11 In Hölderlin vollziehen sich Bewegungen, aufgrund derer die drei elementaren Kategorien von Zeit, Subjekt und Sprache nicht länger als greifbar, eindeutig oder einer Norm entsprechend begriffen werden können.

Entgrenzung von Zeitlichkeit

Wir haben die Gestalt des Hölderlin so angelegt / dass er sich drinn befindet und bewegt / als spiegle er nicht nur vergangne Tage / sondern als ob die gleichen Aufgaben er vor sich habe / denen auch manche von den heutgen gegenüber stehn / ohne die Lösung aus den Widersprüchen zu erkennen12

Das Drama vereint in sich drei zeitliche Ebenen, auf die inhaltlich und grammatisch angespielt wird: Erstens die Antike, auf die wiederholt verwiesen wird13 und die insbesondere im Rahmen der ›Empedokles-Szene‹ (Akt 2, Szene 6) in das Stück ›einbricht‹, zweitens die Zeit um 1800 – die binnenfiktionale Gegenwart –, sowie drittens seinen Entstehungszeitraum. Jedoch werden diese Ebenen nicht als chronologisch aufeinanderfolgende Episoden in einem linearen Zeitverlauf situiert, sondern die zeitliche Struktur des Stücks bricht gänzlich mit einer solchen linearen Zeitkonzeption. Die Zeitlichkeiten sind komplex und lassen sich anhand dreier inkompatibler Denkbilder erfassen, die hier als nebeneinander existierend begriffen werden: des Zirkels, des Palimpsests und schließlich des Möbiusbands. Es sind Strukturen, die partiell gegeneinander arbeiten, beziehungsweise sich gegenseitig aushebeln. Hierbei entsteht ein unlösbares Spannungsverhältnis, durch das die erste Verrückung im Text stattfindet.

Zunächst weist das Stück eine zirkuläre Struktur auf, da Epilog und Prolog ähnlich aufgebaut sind und das Stück rahmen. In der Anfangs- und der Endszene treten dieselben Figuren auf: Hegel, Hölderlin, Hiller, Sinclair und Schelling, die sowohl zu Beginn als auch zum Ende des Stücks laut Regieanweisung Kränze und Girlanden tragen; weiterhin sind sie im Epilog »gekleidet wie am Anfang des Stücks«.14 Während sich die Figuren im Prolog zunächst lediglich zu »einem Tableau rings um Hölderlin«15 aufstellen, ist es im Epilog das »Tableau einer Apotheose«.16 Nebst dieser Rahmung des Stücks kann jedoch auch das stets erneute Ankommen am selben Punkt als eine zirkuläre Bewegung semantischer Natur interpretiert werden: Wie im Text deutlich wird, sind es in allen gegebenen Zeitebenen stets dieselben Debatten, die geführt werden – namentlich jene um die Möglichkeit politischer Veränderung, über Regelhaftigkeit und ihre Subversion. Hölderlin referiert dieses Wiederkehren und die zirkuläre Struktur, wenn er in Akt 1, Szene 2 proklamiert: »Und hört auch jetzt mich keiner / so ist doch später einer / in dem ich wieder werde zum Beginn«.17

Während in diesem Zitat einerseits ein konstruktives Potenzial der Zirkelstruktur ausgedrückt wird – auch wenn Hölderlin selbst kein Gehör findet, wird ein anderer zu späterem Zeitpunkt kommen, der sein Wirken wieder beginnt –, fungiert sie andererseits auch als kritisches Moment im Text. So wird in der zirkulären ›Endlos-Schleife‹ der stets selben Problematiken und Positionen deutlich, dass kein Fortschritt, kein Erkenntnisgewinn stattgefunden hat. Die Verhandlungen der immer wieder auftretenden Themen werden als vergeblich und das Aufgreifen und Re-Konstellieren stets selben Positionen als wirkungsohnmächtig ausgestellt. Denn wie das einleitende Zitat zu diesem Unterkapitel verdeutlicht, ist Hölderlins Gestalt »so angelegt / dass er sich drinn befindet und bewegt / als spiegle er nicht nur vergangne Tage / sondern als ob die gleichen Aufgaben er vor sich habe / denen auch manche von den heutgen gegenüber stehn / ohne die Lösung aus den Widersprüchen zu erkennen«.18 Der Text verfügt über ein Figurenensemble, das als Ansammlung historisch, literatur- und ideengeschichtlich gemeinhin als relevant wahrgenommener Personen bezeichnet werden kann, und es sind deren Positionen und Beiträge, die in der Zirkelstruktur als unwirksam ausgestellt werden. Auch institutionalisiertes Wissen wird kritisch gewürdigt. So bemerkt etwa Hölderlin über die philosophische Fakultät der Universität zu Tübingen: »Dies ganze Studio ecelt mich / all die verstaubte Weisheit / die uns eingetrichtert wird / verstopft uns nur den Blik / ins Eigentliche«.19 Der häufig als kommentierende Instanz fungierende Sänger, der in die Szenen einführt und dabei auch teilweise aus der Diegese heraustritt, nimmt besonders das humanistische Bildungsideal der Klassik in den Fokus und stellt fest: »Zu dieser Zeit als man gross redete von den Begriffen / des Guten und des Wahren und des Schönen / da waren sie schon hohl und abgegriffen / und konnten nur die Noth und Plagerey verhöhnen«.20

Bei näherer Betrachtung jedoch wird deutlich, dass sich die Zeitlichkeit des Stücks anhand einer zweiten Struktur beschreiben lässt: des Palimpsests. Der Begriff beschreibt ursprünglich eine Schreiboberfläche, von der Text abgeschabt oder -gewaschen wird, um sie neu beschreiben zu können. Fragmente des Originaltexts bleiben jedoch häufig erhalten, überlagern sich mit der neuen Beschriftung und scheinen durch sie hindurch. Verschiedene Textebenen sind somit partiell (un-)sichtbar und nicht eindeutig voneinander trennbar. Aufgrund dieser Qualitäten des zugleich unsicht- und sichtbaren sowie des Durchscheinens und der Überlagerungen wird der Begriff des Palimpsets häufig als Metapher oder Denkfigur genutzt. So etwa in Bezug auf Erinnerungsstrukturen bei Thomas de Quincey, Sigmund Freud oder Aleida Assmann, in der Erzähltheorie bei Gérard Genette, in Bezug auf Orte etwa bei Hito Steyerl oder in postkolonialen Ansätzen.21 Bereits in den obig aufgeführten Zitaten wird evident, dass die verschiedenen Zeitebenen nicht nur in einer kreisförmigen Bewegung – und dementsprechend nicht linear – verlaufen, sondern vielmehr ineinander einbrechen und verschwimmen. Hier entsteht jene palimpsesthafte Struktur, in der die verschiedenen Zeitebenen stets von der Antike bis in die Gegenwart durchscheinen und die Positionen, Aussagen und Personen aller historischen Verortungen ineinander verlaufen und sich überlagern.

Der Prolog verortet die Handlung des Dramas im Jahr 1793. Jedoch wird bereits einige Zeilen später deutlich, dass die Handlung nicht vollständig in dieser dramatischen Gegenwart verankert ist:

HÖLDERLIN / Sich nicht an das Vereinzelte zu binden / auf Erden überall Beheimathung zu finden / in Sprache ganz seine Bestimmung zu erfüllen / dafür so gut es ging spannt er den Willen / doch zogen sich um seine Stimme Mauern immer enger / bis daß er es ertragen konnte nicht mehr länger […]

ALLE: Und das führt weiter bis in unsre Zeit / so lang ein solcher nicht aus seinem Turm befreyt / und fortbestehn Auszehrung und Laid22

In dieser Proklamation, in der die Figur des Hölderlin über sich selbst spricht, zeigt sich bereits auf der grammatikalischen Ebene die uneindeutige Trennung des ›Jetzt‹ und ›Damals‹: Während ›spannt‹ hier im Präsens steht, stehen die restlichen Verben des Zitats im Präteritum. Weitaus klarer wird aber die Auflösung der Trennung zwischen den Zeitebenen auf semantischer Ebene durch die Äußerung ALLER, da hier dezidiert ›unsere‹ Zeit, ergo der Entstehungszeitpunkt, nebst der binnenfiktionalen Verortung (1793) ins Stück eingebunden wird. Auch Tempiwechsel führen zu einer solchen Auflösung von Grenzen, wie etwa in einer Äußerung des Sängers gegen Ende der vierten Szene. Während er bis hierhin in der Regel im Präsens das Geschehen auf der Bühne einführt und kommentiert, wechselt er nun vom Präsens ins Präteritum: »Dieses Stük stellt vor allem zur Schau / Filosofen und Dichter im ÜberBau […] wol stand das Künstlerische bei Schiller und Göthe / im hoffnungsvollen Zeichen der Morgenröthe […] doch waren sie beide nicht zur Einsicht bereit / dass sich nur von den grossen und breiten Massen / die eigentlichen Umwälzungen vollziehen lassen«.23 An dieser Stelle verlässt die Figur den diegetischen Zeitraum und springt in die Gegenwart, indem im Präteritum über die weiteren Figuren gesprochen wird.

Auch in einer der Schlüsselszenen, der sogenannten Empedokles-Szene,24 findet sich eine solch explizite Vernetzung verschiedener zeitlicher Ebenen. In ihr legt Hölderlin, wie der Sänger einführt, »den herbeigereisten Freunden / den Grund des Empedókles [dar]«.25 Während die Szene ebenfalls durch den Text zeitlich verortet wird, nämlich im Jahr 1799, entsteht in den Aussagen und auch in der Besetzung der Figuren wiederum temporale Ambivalenz. So erhält der Chor, der Hölderlin befragt, zu welcher Zeit das Stück spiele, die Antwort: »Fünfhundert Jahr eh / unsre Zeitrechnung begann / und heut«.26 Hier wird das Jahr 500 v. Chr. als Zeitpunkt gesetzt, ebenso wie auch das Jahr 1799 und die Gegenwart. Auch die Besetzung der Szene ist relevant, da Charaktere aus der Empedokles-Handlung, über die Hölderlin spricht, aktiv in die Szene eintreten und von denselben Darstellern gespielt werden wie die Figuren des Hölderlin. In dieser ›Überlagerung‹ der Figuren wird eine zweite und relevantere Ebene deutlich, welche die Zeiträume verknüpft. Die Figuren treten nicht länger als individuelle Charaktere auf, sondern werden zu Typen, in denen sich Diskurse und Positionen kondensieren, die in allen Zeitebenen auftreten und wiederholt werden, wie bereits zuvor beschrieben wurde. Die Figuren aus Empedokles werden zu Figuren im Hölderlin und umgekehrt. Die Übertragung von Charakteren aus dem einen in das andere Stück ist dabei nicht arbiträr: So repräsentiert etwa der Darsteller des Hölderlin auch Empedokles (beide Charaktere verbindet ihre Darstellung als Revolutionäre). Der Darsteller des Herzogs, der im ersten Akt des Hölderlin einen Studentenaufstand niederschlägt, spielt auch die Figur des regressiven Hermokrates im Empedokles. So zieht sich eine Überlagerung des Hölderlin- mit dem Empedokles-Figurenensembles durch die ganze Szene. Hier kondensiert sich auch die oben genannte Repetition von Debatten und Positionen. Es wird deutlich, dass die Problematik, mit der Empedokles/Hölderlin sich konfrontiert sieht, ebenso aktuell wie ungelöst ist.

Es ergeben sich zusammenfassend sowohl auf inhaltlicher als auch auf grammatischer Ebene Auflösungen der Grenzen zwischen einzelnen Zeitebenen. Wie beim Palimpsest entsteht eine Überlagerung, in der aber die bereits überschriebenen Ebenen stets durchscheinen und sich als nicht voneinander abgetrennt darstellen. Dieser Betrachtungswinkel von Zeitlichkeit(en) als Palimpsest lässt sich im Sinne Deleuze‘ und Guattaris als rhytmisch bezeichnen, begreift man die Zeitebenen als Milieus. Rhythmus existiert »whenever there is a transcoded passage from one milieu to another, a communication of milieus, coordination between heterogeneous space-times«.27

Aus dem dritten und letzten Blickwinkel betrachtet aber geht der Text in der Absage an eine lineare, eindeutig definierbare Zeitlichkeit noch weiter. Beide oben dargestellten Lesarten schreiben dem Text drei Zeitebenen zu. Jedoch kann in Bezug auf Zeitlichkeiten auf die häufige Verwendung von Phrasen wie »heute« oder »zu unserer Zeit« eingegangen werden, da diese letztendlich zu einer völligen Entgrenzung von Zeit führen. So tritt nicht nur der Entstehungszeitpunkt als ›heute‹ in den Text ein, sondern auch jeder Rezeptionszeitpunkt und damit jede mögliche Gegenwart. In dieser letzten Lesart kann Zeit als entlang eines Möbiusbands verlaufend gedacht werden. Das Möbiusband geht in sich selbst über, hat keinen Beginn und kein Ende und entzieht sich einer Orientierung, da eine Unterscheidung von Innen und Außen, Oben und Unten nicht möglich ist. Deleuze selbst nutzt das Möbiusband als Denkbild durch Die Logik des Sinns hindurch. Guillaume Collett beschreibt das Deleuze’sche Möbiusband als »a reversible fold, a continuous surface that imperceptibly passes from one side of a quasi-dualism [hier der Zukunft] to another [der Vergangenheit]«.28 Hier findet die Zeitlichkeit in Hölderlin eine Entsprechung, da diese sich im steten Fluss befindet und sich jegliche Konstruktion von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer unendlichen Verweisstruktur auflöst; die Zeit wird auf sich selbst zurück gefaltet. Dies geht über eine Kreisbewegung hinaus: In einer permanenten Bewegung schließt eine nicht definierte Zukunft unmittelbar zurück an Vergangenheit an und geht erneut in sie über. Hieraus resultiert eine gänzliche Absage an eine zeitliche Verortung, die sich auch textuell manifestiert, da der Epilog (der, wie oben angeführt, als ›Wiederkehr‹ zum Beginn des Stücks gelesen werden kann) keinem spezifischen Zeitpunkt zugewiesen ist.

Alle drei Zeitstrukturen, die der Text anbietet, schließen einander letztlich aus. Einem – wie auch immer gearteten – kohärenten Zeitverständnis wird eine Absage erteilt, da alle möglich denkbaren Zeitkonzepte durch die jeweils beiden anderen ausgesetzt werden. Aus ihrem dissonanten Zusammenspiel resultiert eine Verrückung von Zeitlichkeit aus einer definierbaren Ordnung in einen gänzlich entgrenzten, unmöglichen Raum. Partiell wird eine solche Entgrenzung von Zeit auch im Text selbst angespielt, etwa wenn Hölderlin im Gespräch mit Wilhelmine Kirms postuliert: »Soll das Gedicht doch frey stehn / im Ganzen rings die Zeit sehn / nicht nur den krancken Tag«; worauf Kirms erwidert: »Wenn Sie so reden Hölderlin / ist mir immer / als hör ich Sie von weit / zurük her rufen oder / als kläng es erst / den Zukünftgen auf«.29 Aus der multilateralen Konzeption von Zeitlichkeit entsteht eine Dekonstruktion von Fixierung; Handlung und Subjekt sind nicht mehr klar zu verorten und befinden sich im Prozess eines kontinuierlichen Flusses und Werdens. Zeit wird als undefinierbar und nicht mehr eindeutig kodiert begriffen. Sie kann nicht länger in ein kohärentes Ordnungssystem eingeordnet werden, sondern befindet sich in einem Fluxus. Zurückgreifend auf die eingangs vorgestellte Theorie lässt sich an dieser Stelle deshalb festhalten, dass sich im Hinblick auf Zeit die erste Deterritorialisierung im Text darin vollzieht, dass jene aus einem ‚Territorium‘ (hier: einer kohärenten Konzeption) in einen nicht mehr (be-)greifbaren Raum verrückt wird. Im Folgenden wird beschrieben, inwiefern sich dieser Prozess auch auf anderen Ebenen vollzieht.

Zu Ausdruck und Subjekthaftigkeit

Wie bereits angemerkt, finden im Text zwei weitere Verrückungsprozesse statt, die sich auf Sprache (respektive Ausdruck) und Subjekthaftigkeit beziehen. Sie werden im Folgenden gemeinsam vorgestellt, da beide Kategorien im Text eng miteinander verwoben sind: Die fortschreitende Asignifikation, die im Verstummen des Dichters endet, sowie auch die Dekonstruktion beziehungsweise Multiplikation von Identität, die im Text erfolgen, sind miteinander verknüpft. Dies ist darin begründet, dass Sprache oder die Möglichkeit zur (Ver-)Äußerung eine maßgebliche Rolle in der Konstitution des Subjekts gegenüber seiner Außenwelt spielt. Sowohl Sprache als auch eine kohärente Subjektkonstitution werden im Verlauf des Dramas zunehmend auf den Prüfstand gestellt. Hölderlin äußert im Prolog über die eigene Figur:

Sich nicht an das Vereinzelte zu binden / auf Erden überall Bestimmung zu finden / in Sprache ganz seine Bestimmung zu erfüllen / dafür so gut es ging spannt er den Willen / doch zogen sich um seine Stimme Mauern immer enger / bis daß er es ertragen konnte nicht mehr länger / Von stetem Druck wird größte Klarheit auch entmachtet / und dürr und dumpf der Tag bis er sich ganz umnachtet / Lang noch vernahm er wie sie Wahnsinn nannten / die Worte ihm weil sie nicht deren Wahrheit kannten.30

Diese Einführung beinhaltet relevante Vorausdeutungen auf den geistigen sowie sprachlichen Verfall Hölderlins, dessen Ausdruck hier als extern begrenzt bezeichnet ist. Der Druck, dem er sich ausgesetzt sieht, besteht in den gegebenen politischen und ästhetischen Regelsystemen, denen der Protagonist sich nicht entziehen kann. Hier wird deutlich, wie eng Subjekt und Sprache verknüpft sind: Hölderlins Ziel ist es, in der Sprache ganz seine Bestimmung als Subjekt zu finden, seine (Ver-)Äußerung wird jedoch durch seine Umwelt gehemmt. Fixierte Identität und Subjektkonstitution werden bereits zu Beginn des ersten Aktes problematisiert, wie in der oben zitierten, zweiten Äußerung Hölderlins ebenso deutlich wird wie in seiner ersten:

Ein Stük um Friedrich Hölderlin / kann sich den düsteren Aspecten nicht entziehn / denn dacht er sich auch eine heile Welt / so ward sie immer wieder durch Umstände entstellt / Zwar sah zu Staub er die Bastille fallen / und war wie viele andere erfüllt von allen / Lobreden auf die Brüderlichkeit31

In beiden Zitaten spricht die Figur in der dritten Person Singular über sich selbst. Auf grammatikalischer Ebene wird hierdurch eine Spaltung des Subjekts impliziert, in der es sich von außen betrachtet und schildert. Hölderlin steht, wörtlich gesprochen, ›neben sich‹.

Jedoch wird die zunehmende Dekonstruktion des Subjekts als in sich geschlossener Entität nicht nur grammatikalisch, sondern auch inhaltlich vermittelt. So heißt es etwa zu Beginn der Empedokles-Szene in der Regieanweisung: »Die Aufgabe des Chors ist es, Hölderlins eigene Vision und Stimme zu erweitern«.32 Hier wird Hölderlin also durch den Chor mitgetragen; er tritt nicht mehr als singuläre Figur auf, sondern wird multipliziert. Auch an weiteren Stellen expliziert der Text eine Spaltung des Subjekts, die ebenfalls als Multiplikation gelesen werden kann – das Subjekt ist nicht mehr als kohärent und einheitlich definiert. Dies wird etwa deutlich, wenn Hegel bemerkt, dass es »den Holder hebt […] / zu solchen Höhn / dass er sich selbst nur / aus der Sicht verliert«.33

Die augenscheinliche Destabilisierung des Subjekts steht an diversen Stellen in Verbindung mit Sprachverfall, insbesondere in Situationen, in denen der Protagonist sich in emotionalem Aufruhr befindet. Hölderlin versagt an solchen Stellen der Ausdruck in Form von Sprache und er äußert lediglich noch Töne. Die Problematisierung von Sprache in solchen Situationen wird zunächst primär anhand der Regieanweisungen deutlich. In Akt 1, Szene 2 bringen Charlotte von Kalbs sexuelle Avancen Hölderlin aus der Fassung – es vollzieht sich eine Destabilisierung, die seine Fähigkeit zu sprechen direkt beeinflusst: »Während des Gehens stößt Hölderlin zuerst rhythmisch brummende Töne aus, formt dann allmählich Worte« (51); später in der Szene gibt die Regieanweisung vor: »Hölderlin springt auf, gerät wieder in seinen Stampfschritt. Faucht und brummt ryhtmisch [] Allmählich gehen Hölderlins Worte in Laute über« (56). In diesen Situationen findet durchaus noch eine Form der Äußerung statt – Fauchen, Brummen – und Hölderlin findet letztendlich auch seine Worte wieder. Mit dem Fortschreiten des Textes jedoch häufen sich Situationen, in denen es für ihn in Gänze unmöglich wird, sich sinnvoll zu äußern. Dies geschieht am Ende der dritten Szene, in der »Hölderlin es wagt / sich uneingeschräckt / darzustelln als / Poet / wobei er sich dem Urtheil / wahrhaft grosser Geister / aussezt«.34 Jene ›großen Geister‹ sind Goethe und Schiller, mit denen Hölderlin eine Debatte über Ästhetik und poetische Regelsysteme führt – wobei er sich der Identität Goethes jedoch nicht bewusst ist. Als er herausfindet, dass es in der Tat Goethe ist, dem er widersprochen hat, kann er lediglich noch Laute von sich geben: »A Hi A Hi / A Hi A Hi« (72).

Die Problematisierung von Sprache reicht jedoch weiter und endet im gänzlichen Verstummen des Protagonisten, was wiederum mit seiner Positionierung als Subjekt in der Welt verbunden ist. So ist es das Schweigen, durch das Hölderlin sich ›von der Welt abtrennt‹. Gen Ende der siebten Szene adressiert der Sänger ihn wie folgt:

Johann Friedrich Christian Hölderlin / eh wir in die letzte Scene steigen / befragen wir dich über dein grosses Schweigen / mit dem du dich von der Welt abtrennst / so als ob du sie nicht mehr erkennst / […] Sag besteht für dich noch ein Hoffen / siehst du den Weg zur Erneurung noch offen / oder musstest du bei der Anstrengung scheitern / dir die Gränzen deines Denckens zu erweitern.35

Hier wird das Verstummen als Prozess definiert, durch den der Protagonist sich der Welt entzieht. Es ist relevant, dass dies aktivisch geschieht, da eine Handlungsmacht impliziert wird. Dadurch, ebenso wie durch die (zumindest potenziell) in Aussicht stehende Hoffnung, wird in Frage gestellt, ob das Verstummen tatsächlich als Zeichen einer Resignation oder eines Scheiterns gelesen werden muss. Viel eher, um den dritten Verrückungsprozess an dieser Stelle einmal explizit nachzuzeichnen, vollzieht sich eine Bewegung, in der der Protagonist als Subjekt ebenso wie sein Ausdruck – ähnlich wie es bereits bezüglich der Zeitlichkeit der Fall ist – aus einem eindeutigen, lesbaren und interpretierbaren Raum in einen verrückt werden, in dem keine eindeutige Kodifizierung mehr stattfinden kann. Weder das Subjekt an sich noch seine zeitliche Situiertheit oder sein Ausdruck sind noch eindeutig kodiert.

In der siebten Szene befindet sich der Protagonist im Klinikum zu Tübingen, wo er vom Psychiater Authenrieth behandelt wird. Diese Passage stellt einen weiteren Schlüsselmoment dar, da hier Hölderlins ›Wahnsinn‹ erstmals in einem pathologischen Zusammenhang dargestellt wird. Ihm wird an dieser Stelle laut dem Sänger das »Gesicht genommen«36 und er wird »zu einem Fremden ernannt / in diesem [er] sich wieder / zu erkennen hat«.37 Kurz darauf kündigt der Sänger an, dass nun demonstriert werde, »[w]ie ein Fall von PersönlichkeitsSpaltung fungiert«.38

Die oben zitierte Phrase »das Gesicht genommen« ist ambivalent. Zum einen muss sie metaphorisch gelesen werden. Hölderlin wird das Gesicht – ein elementarer Marker von Identität und Subjekthaftigkeit – genommen. Dies geschieht durch die Pathologisierung seitens seines Umfelds (spezifisch Authenrieth), welches ihm Mündigkeit und Selbstbestimmung verweigert: Hölderlin verliert sein Gesicht. Zum anderen aber spielt die Phrase aber auch auf die sogenannte Authenriet’sche Maske an, die Hölderlin in der Szene trägt. Es handelt sich hierbei um eine lederne Maske, die von der historischen Person Authenrieth erfunden wurde. Sie verdeckte große Teile des Gesichts des:der behandelten Person und wurde konzipiert, um Patienten am Schreien zu hindern. Die Maske macht Hölderlin im Text also auf der einen Seite »unkenntlich« und nimmt ihm sein Gesicht. Auf der anderen Seite dient sie als Vorrichtung, die das Schreien verhindert und damit offensichtlich auch die Fähigkeit, sich frei zu äußern – hier wird wiederum auf die Verbindung von sprachlichem Ausdruck und Subjekthaftigkeit angespielt.

Die Verknüpfung von Gesicht und Sprache findet sich explizit bei Deleuze und Guattari. Im Kapitel »On Several Regimes of Signs« wird festgestellt, dass Sprache stets von »faciality«39 begleitet ist. Das Gesicht, so weiterhin, »crystallizes all redundancies, it emits and receives, releases and recaptures signifying signs. It is a whole body unto itself: it is like the body of the center of signifiance to which all of the deterritorialized signs affix themselves, and it marks the limit of their deterritorialization«.40 In der Weiterführung des Gedankens stellt sich das Gesicht jedoch auch als reterritorialiserende Determinante heraus, denn »the face is the Icon proper to the signifying regime, the reterritorialization internal to the system. The signifier reterritorializes on the face«.41 In diesem Sinne lässt sich das Verbergen des Gesichts mit dem einhergehenden Sprachverlust durchaus auch als wiederum deterritorialisierendes Moment lesen, in dem der Sprache und dem ›Regime of Signs‹ entsagt.

Deterritorialisierung als Weg in die Auflösung und das politische Potenzial des Texts

Zunächst lässt sich an dieser Stelle also festhalten, dass der hier vorgestellten Lesart zufolge die drei untersuchten Komponenten – Zeit, Subjekt und Ausdruck – durch die Verrückung aus einem ‚Territorium‘ in einen nicht mehr eindeutig kodierten und interpretierbaren Status überführt werden, weshalb die Verrückungen als deterritorialisierende Prozesse gelesen werden. Bei Deleuze und Guattari wird Kodifizierung als Territorialisierung verstanden. So schreibt Robert Brinkley in der Editor’s Note zu seiner Übersetzung von »What is a Minor Literature?«: »As Jean Baudrillard remarks, there is always a desire not to be interpreted, not to be produced and expressed in the terms that an interpretation employs«.42 Er führt weiter aus, »[that] for codification, Deleuze and Guattari employ the word ›territorialization‹«.43 Während »[t]he desire to escape such codification […] the desire to de-code or to deterritorialize« insbesondere für Minoritäten Priorität hat, merkt Brinkley an »[that] the problem of minorities is one in which we all share«.44 Das Verlangen danach, sich einer Interpretation zu entziehen, ist jedoch nicht lediglich »a desire to be against interpretation, to negate it. To do so, after all, would be to continue to exist in its terms. The desire is rather to affirm an alternative which is simultaneously uninterpretable. Experimentation, Deleuze and Guattari suggest, is an alternative to interpretation«.45 Die Verrückungsprozesse stellen genau eine solche Alternative in Aussicht. Das Subjekt wird in seiner Multiplizierung als nicht mehr eindeutig ›greifbar‹ ausgestellt. Dies geht einher mit dem (wiederum häufig als Indiz des Scheiterns gelesenen) ›Verfall‹ in den Wahnsinn, der jedoch in der hier vorgestellten Lesart nicht als pathologisch interpretiert wird, sondern vielmehr als ein Übergehen in eine Existenzform, die für die Außenwelt nicht mehr intelligibel und dementsprechend nicht mehr interpretierbar ist. Der so häufig in den Text hineingelesene Sprachverfall lässt sich ähnlich darlegen: Es handelt sich hierbei nicht um eine Resignation, sondern vielmehr um eine Negierung von kodier- und dekodierbarem Ausdruck. In Bezug auf die Deterritorialisierungsprozesse im Text ist dabei insbesondere die Dekonstruktion von Zeitlichkeit zentral.

Das, was als Koexistenz von Zirkelstruktur, Palimpsest und Möbiusband-Struktur beschrieben wurde, führt zu einer Auflösung von fixierter, interpretierbarer und linearer Zeit. Dieser entgegengesetzt wird eine in gewissem Maße paradoxe Konzeption, in der Zeit sich einerseits multivektorial entfaltet, sich andererseits aber – geht man zum Denkbild des Möbiusbands zurück – in einem steten Fluss befindet. In Zusammenhang mit den beiden vorhergenannten Verrückungsprozessen, resultiert dies sodann in der ›Alternative‹, die durch Deleuze und Guattari postuliert wird: Sprache, Subjekt und Zeit befinden sich in einer permanenten Non-Kodifikation, die sich aber eben nicht lediglich gegen eine Interpretation wehrt, sondern sich in einem permanenten Prozess des Werdens befindet.46 Es ist diese Prozesshaftigkeit, in der das subversive Potenzial des Textes liegt: Anders als einen ›Gegenentwurf‹ zu normativen Regelsystemen oder einem Zustand der Territorialisierung zu entwerfen, postuliert er eine gänzlich neue, fluxushafte Form des Seins/Werdens, die nicht mehr ›greifbar‹ ist. Die Verrückungen stellen, um auf die eingangs vorgestellten theoretischen Konzepte zurückzugreifen, eben jene fortwährende, flusshafte Bewegung dar, »by which the line frees itself from the point, and renders points indiscernible: the rhizome, the opposite of arborescence; break away from arborescence«.47 Sie entfalten sich in dem von Braidotti vermerkten Fluxus des multiplen Werdens und markieren die Betonung auf Prozesshaftigkeit. Es ergibt sich ein Non-Status des konstanten Werdens, aus dem heraus keine Reterritorialisierung mehr stattfindet.

Bei eingehender Betrachtung lässt sich feststellen, dass sich Anspielungen auf eine absolute Deterritorialisierung auch im Text finden. Hölderlin postuliert in der Debatte mit Schiller eine dem Werden entsprechende Welt:

Weiter als zu Ihrem / classischen Schönheitsbild / kann ich nicht kommen / ich weiß es graust Sie / wenn ich zu meiner Welt auch / deren ununterbrochne Auflösung mit nehme / wenn ich vom Fliessenden und / vom Veränderlichen ausgeh / und Zeichen dafür suche / wie alle Schranken niederbrechen 48

Hier wird explizit auf eine solche prozessuale, sich selbst auflösende und erneut werdende Seinsform verwiesen. Auch die Causa des sprachlichen Ausdrucks respektive seiner Unzulänglichkeit wird thematisiert, liest man den Begriff des Zeichens hier im semiotischen Sinne. Der Protagonist entwirft eine Welt, die nicht mehr begreifbar ist – weder im metaphorischen noch im wörtlichen Sinne. Eine ähnliche Formulierung, in der die Überwindung von Ordnungen (oder: Territorien) anklingt, findet sich in einer Äußerung Schellings gegenüber Hölderlin in der oben bereits geschilderten Szene, in der Hölderlin den Freunden Empedokles vorstellt:

Friz / ich trag in meinem Gedächtnis / wie du schriest / aus den Wolken des Aethna und / wie dir die Stimme / im Krachen des Feuers verging / die geschaffnen Ordnungen / wolltest du überwinden / nach Offenbaarung suchend / zerbrachst du die Einheit / von Natur und Verstand / so musstest du stürtzen / ins Kaos49

Der Begriff des Chaos, der hier zunächst als negativ gelesen werden kann, lässt sich wiederum als bezeichnend für einen deterritorialisierten Zustand beschreiben, der dem geordneten – dem Kosmos – entgegengestellt wird.

Für die vorgestellte Lesart ist relevant, dass jener Deterritorialisierung ein inhärent subversives politisches Potenzial zugeschrieben wird – denn Schelling vollzieht hier eine Gleichsetzung von Empedokles und Hölderlin. Es ist Empedokles, der Protagonist und Revolutionär des in der Szene diskutierten Stücks, der sich an dessen Ende in den Ätna stürzt, nachdem die von ihm angestoßene Revolution zerschlagen wird. Eine Stimme im Chor beschreibt, dass Empedokles »[g]etroffen schwer / in Brust und Bein / [sich] mit lezten Kräften / stemmend«50 die Kuppe des Aetna erreicht und sich hineinstürzt. Wie auch Hölderlin ist er also zunächst als gescheiterter Revolutionär zu lesen. Jedoch wird diese Lesart im direkten Nachgang entkräftigt: Die Stimme im Chor beschreibt weiterhin, dass Empedokles eine zerborstene eiserne Sandale zurücklässt, »die unten in der Stadt / die Schächer zeigen / als wärs ein Zeichen / ihres Siegs / doch ists das Zeichen / ihrer Niderlaage«.51

Vor der Schilderung der Empedokles-Handlung wird angeführt, dass, nun da das Feuer der Revolution erloschen ist, eine »mythische Figur«52 erscheinen muss; einer, der »darann erinnern muss / das etwas was einst / glühend war […] unter starkem Athem / wieder zur Flamme / werden kann«.53 Der Chor stellt hier die Frage, wie jene Figur dies beweisen will – worauf Hölderlin entgegnet: »Durch einen freywilligen / Entschlus / Indem er es nicht nur / bei der Idee belässt / sondern / aus der Idee sich / raus sprengt / und alles aufgiebt / was Gewohnheit Sitte / und Verordnung ist / zeigt er / worauf es ankommt«.54 Hier wird das subversive Potenzial und die Überwindung gegebener Regelsysteme expliziert; gleichzeitig aber wird auch darauf angespielt, dass eben kein reiner Antagonismus auftritt, sondern Empedokles ›aus der Idee raus sprengt‹, d. h. sich wiederum nicht mehr im Rahmen des Intelligiblen befindet.

Die eingangs vorgestellte Lesart, aus der Hölderlin als gescheiterter Revolutionär hervorgeht, wurde durch die hier vorgestellte Interpretation – insbesondere aufgrund der Überlagerung der Empedokles- und der Hölderlin-Figur – in Frage gestellt. Folgt man der unternommenen Analyse, ergibt sich im Gegenteil ein maßgebliches politisches Potenzial des Textes. Dies ist zum einen in seiner deterritorialisierten Natur begründet. Wie eingangs bemerkt, bezeichnet der Terminus eine (in seiner hier vorliegenden, absoluten Bedeutung) eine nicht-reversible Auflösung von Ordnungssystemen, worin ein inhärent politisch-subversives Potenzial begründet ist. So entwerfen Deleuze und Guattari etwa Figuren wie den Schizophrenen in Anti-Oedipus oder den Nomaden in A Thousand Plateaus – ›Limit concepts‹, Denkfiguren, die so inhärent deterritorialisiert sind und wirken, dass sie die Ordnungssysteme, aus denen heraus sie operieren [hier: Kapitalismus oder den Nationalstaat] effektiv überwinden und aussetzen. Die Prozesse, die sich in Hölderlin vollziehen, sind dahingehend als revolutionär zu deuten, dass sie zwar nicht in einen unmittelbaren politischen (intertextuellen) Umbruch führen, der Text aber eine entgrenzte Form des Seins und Denkens postuliert. Dies stellt eine Absage an jene ›einschränkenden‹ Positionen dar, die im Text formuliert werden – sei es in Bezug auf Ästhetik oder die Möglichkeit politischer Veränderung.

Über die binnentextuellen Deterritorialisierungen hinaus lässt sich der Text aber, entlang dieser dekonstruktivistischen Linien gelesen, auch in Einklang mit den Kriterien einer sogenannten ›Kleinen Literatur‹ bringen, worin eine weitere Komponente politischen Potenzials liegt.

Der Begriff der kleinen Literatur geht ebenfalls auf Deleuze und Guattari zurück und wird in Kafka – Towards a Minor Literature (1975) entwickelt. Eine kleine Literatur wird durch drei Kriterien definiert: «the deterritorialization of the language, the connection of the individual and the political, the collective arrangement of utterance«.55 Sie bezeichnet nicht nur Literaturen von und für Minoritäten, sondern auch ›kanonische‹ Werke und Autoren können ihr zugeordnet werden – wie etwa das von Deleuze und Guattari gewählte Untersuchungsobjekt, das Werk Kafkas: »›minor‹ no longer characterizes certain literatures, but describes the revolutionary conditions of any literature within what we call the great (or established)«.56 Peter Weiss schreibt als ebenso etablierter wie auch politischer Autor (nicht nur) mit Hölderlin aus den systemischen Gegebenheiten der 1970er Jahre gegen exakt diese an. Das untersuchte Stück entspricht hierbei allen von Deleuze und Guattari festgelegten Merkmalen einer kleinen Literatur: »[T]he primary characteristic of a minor literature«, so heißt in Towards A Minor Literature, »involves all the ways in which the language is effected by a strong co-efficent of deterritorialization«57 – dass dies im hier untersuchten Text durchaus der Fall ist, ist aus der oben unternommenen Analyse hervorgegangen. »The second characteristic of minor literatures«, so weiterhin, »is that everything in them is political«.58 Während in kanonischen Texten das Individuum im Vordergrund stehe und das soziale Umfeld als Hintergrund Bezugspunkt fungiert, ist in kleinen Literaturen »every individual matter […] immediately plugged into the political. Thus the question of the individual becomes even more necessary, indispensible, magnified microscopically, because an entirely different story stirs within it«.59 Auch diese Charakteristik liegt Hölderlin inne; denn es handelt sich, wie einleitend beschrieben wurde, eben nicht um die Darstellung der individuellen Geschichte des Dichters und seines Verfalls in den Wahnsinn, sondern um eine breiter angelegte Diskussion um die Veränderlichkeit gegebener Systeme. Das Schicksal des Protagonisten ist untrennbar mit gesamtgesellschaftlichen Problematiken und der (Un-)möglichkeit von Revolution verwoben. Darüber hinaus zeigt auch die Analyse, dass es nicht das individuelle Subjekt ist, das im Vordergrund steht. Dies ist erstens darin begründet, dass Subjektivität wie beschrieben deterritorialisiert wird; zweitens aber auch in den zeitlichen Strukturen, die eine Ablösung relevanter politischer Diskurse von Einzelpersonen implizieren. In diesem Zusammenhang erschließt sich auch das dritte Kriterium der kleinen Literatur im Text: »everything has a collective value. In effect, precisely because talents do not abound in a minor literature, the conditions are not given for an individuated utterance which would be that of some ›master‹ and could be separated from collective utterance«.60

In der hier dargelegten Lesart verschiebt sich der Fokus – das Stück wird nicht länger als eines gelesen, das primär die individuelle Lebensgeschichte des Dichters, die Unmöglichkeit politischen Umsturzes und Hölderlins geistigen Verfall nachzeichnet. Vielmehr entpuppt sich die Geschichte des Dichters als Folie, anhand derer Ideen ausgespielt werden, die über ein reines ›dem System entgegenwirken‹ hinausgehen; denn sie implizieren eine gänzliche Absage an und Auflösung des Systems, worin der fundamentale Antagonismus besteht, der in Hölderlin denkbar gemacht wird.

Literaturverzeichnis

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BERTAUX, Pierre: »Hölderlin und die Französische Revolution«. In: Thomas Beckermann u. Volker Canaris (Hg.): Der andere Hölderlin. Materialien zum Hölderlin-Stück von Peter Weiss. Frankfurt a. M. 1972, S. 65–100.

BRAIDOTTI, Rosi: »Discontinuous Becomings. Deleuze on the Becoming-Woman of Philosophy«. In: Journal of the British Society of Phenomenology 24.1 (1993), S. 144–155.

COLLETT, Guillaume: The Psychoanalysis of Sense. Deleuze and the Lacanian School. Edinburgh 2016.

DELEUZE, Gilles u. Felix Guattari: A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia. Übers. v. Brian Massumi. Minneapolis 1987.

DELEUZE, Gilles, Felix Guattari u. Robert Brinkley: »What is a Minor Literature?«. In: Mississippi Review 11.3 (1983), S. 13–33.

GRIMM, Jacob u. Wilhelm Grimm: »Verrückung«. In: Jacob Grimm u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, https://woerterbuchnetz.de/?sigle=DWB#1 (zuletzt eingesehen am 11. Mai 2022).

HAIDUK, Manfred: Der Dramatiker Peter Weiss. Berlin 1977.

KALOGERAS, Yiorgos D. u. a. (Hg.): Palimpsests in Ethnic and Postcolonial Literatures and Cultures. Cham 2021.

WEISS, Peter: Hölderlin. Berlin 2016.

  • 1. Insbesondere die Hölderlin-Forschung von Pierre Bertaux ist hier hervorzuheben, dessen Thesen Weiss’ Drama inspirierten. Das Zitat im Titel dieses Aufsatzes stammt aus: Peter Weiss: Hölderlin. Berlin 2016, Akt 2, Szene 7, S. 155.
  • 2. Thomas Beckermann u. Volker Canaris: »Vorwort«. In: Thomas Beckermann u. Volker Canaris (Hg.): Der andere Hölderlin. Materialien zum Hölderlin-Stück von Peter Weiss. Frankfurt a. M. 1972, S. 7–10, hier S. 7.
  • 3. Ebd.
  • 4. Manfred Haiduk: Der Dramatiker Peter Weiss. Berlin 1977, S. 213.
  • 5. Hierzu siehe Pierre Bertaux: »Hölderlin und die Französische Revolution«. In: Beckmann u. Canaris (Hg.): Der andere Hölderlin, S. 65–100.
  • 6. Gilles Deleuze u. Felix Guattari: A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia. Übers. v. Brian Massumi. Minneapolis 1987, S. 508.
  • 7. Ebd., S. 294.
  • 8. Rosi Braidotti: »Discontinuous Becomings. Deleuze on the Becoming-Woman of Philosophy«. In: Journal of the British Society of Phenomenology 24.1 (1993), S. 44–55, hier S. 44.
  • 9. Ebd.
  • 10. Ebd.
  • 11. Jacob Grimm u. Wilhelm Grimm: »Verrückung«. In: Jacob Grimm u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. https://woerterbuchnetz.de/?sigle=DWB#1 (zuletzt eingesehen am 11. Mai 2022).
  • 12. Weiss: Hölderlin, Akt 2, Szene 8, S. 198.
  • 13. Etwa auf inhaltlicher Ebene durch die Einbindung der Handlung des Empedokles von Hölderlin, durch Anspielungen auf und Zitationen antiker (ästhetischer) Philosophien oder das Aufgreifen von Elementen aus der griechischen Mythologie (zum Beispiel der Figur des Augias oder des Flusses Styx).
  • 14. Ebd., Epilog, S. 197.
  • 15. Ebd., Prolog, S. 11.
  • 16. Ebd., Epilog, S. 197.
  • 17. Ebd., Akt 1, Szene 2, S. 52.
  • 18. Ebd., Epilog, S. 198.
  • 19. Ebd., Akt 1, Szene 1, S. 22.
  • 20. Ebd.
  • 21. Siehe hierzu beispielsweise den Band Palimpsests in Ethnic and Postcolonial Literatures and Cultures, herausgegeben von Yiorgos D. Kalogeras u. a., Cham 2021.
  • 22. Ebd., Epilog, S. 12.
  • 23. Ebd., Akt 1, Szene 4, S. 86.
  • 24. Akt 2, Szene 6.
  • 25. Ebd., Akt 2, Szene 6, S. 121.
  • 26. Ebd., S. 127.
  • 27. Deleuze u. Guattari: A Thousand Plateaus, S. 313.
  • 28. Guillaume Collett: The Psychoanalysis of Sense. Deleuze and the Lacanian School. Edinburgh 2016.
  • 29. Weiss: Hölderlin, Akt 1, Szene 2, S. 51f.
  • 30. Ebd., Prolog, S. 12.
  • 31. Ebd., S. 11.
  • 32. Ebd., Akt 2, Szene 6, S. 122.
  • 33. Ebd., S. 125.
  • 34. Ebd., Akt 1, Szene 3, S. 59.
  • 35. Ebd., Akt 2, Szene 7, S. 169f.
  • 36. Ebd., Akt 2, Szene 7, S. 154.
  • 37. Ebd.
  • 38. Ebd., S. 155.
  • 39. Deleuze u. Guattari: A Thousand Plateaus, S. 587.
  • 40. Ebd.
  • 41. Ebd.
  • 42. Gilles Deleuze, Felix Guattari u. Robert Brinkley: »What is a Minor Literature?«. In: Mississippi Review 11.3 (1983), S. 13–33, hier S. 13.
  • 43. Ebd.
  • 44. Ebd.
  • 45. Ebd. S. 13–14.
  • 46. Der Fluss als Motiv zieht sich auch explizit durch den Text – so etwa durch die häufigen Nennungen des Neckars, dessen »Wächter« Hölderlin ist (siehe S. 178), und des Styx.
  • 47. Deleuze u. Guattari: A Thousand Plateaus, S. 294.
  • 48. Weiss: Hölderlin, Akt 1, Szene 3, S. 66.
  • 49. Ebd.
  • 50. Ebd., Akt 1, Szene 6, S. 150.
  • 51. Ebd., S. 151.
  • 52. Ebd., S. 127.
  • 53. Ebd., S. 127f.
  • 54. Ebd., Akt 2, Szene 6, S. 128.
  • 55. Deleuze, Guattari u. Brinkley: »What is a Minor Literature?«, S. 18.
  • 56. Ebd.
  • 57. Ebd., S. 16.
  • 58. Ebd.
  • 59. Ebd.
  • 60. Ebd., S. 17.

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