May 19, 2015 - 14:51

Ein interessanter Artikel: die Argumentation zu den über die Figuren-Ebene hinausgehenden Stereotypen finde ich sehr überzeugend.

Den folgenden Kommentar und Hinweis verstehe ich vor allem als Ergänzung zu den Thesen über die Verbindung der Darstellung eines privaten Liebesverhältnisses und mehr oder weniger expliziten Reflexionen über ‚nationale’ und ‚kollektive Identitäten’.

Ich möchte an die folgenden, meines Erachtens, richtigen und wichtigen Thesen aus dem Aufsatz anknüpfen: „Der Fokus auf das Liebesverhältnis zweier Individuen läuft somit weniger einer exemplarischen Lesart zuwider, sondern ermöglicht vielmehr das weitgehende Ausblenden größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge aus der Erzählung. Außerdem wird darüber das Parallelisieren der beiden Liebenden und eine daraus folgende gleichberechtigte Legitimität beider Perspektiven auf die Vergangenheit plausibilisiert: Beide sind so gefangen in ihrer Welt, so schnell gekränkt.“

Zusätzlich zu dieser Problematik ist Schlinks Text von einer allgemein verbreiteten und meist unreflektierten Vermischung von Vorstellungen individueller Identitäten mit ‚kollektiven’ Identitätskonstruktionen geprägt. Dabei wird als selbstverständlich vorausgesetzt, dass es ‚kollektive’ Identitäten gibt und – aus angeblich psychologischen Gründen – geben muss. Dies fungiert jedoch letztlich vor allem als eine – psychologisierende – Legitimation politisch gewollter nationaler Wir-Konstruktionen, die nicht nur in ihren extrem rechten Auswüchsen problematisch sind, sondern auch schon in ihren in der gesellschaftlichen Mitte angesiedelten Varianten, die ebenfalls ausgrenzend wirken, und letztlich ganz allgemein gesprochen nichts anderes sind als die legitimatorischen Narrative der Nation (oder auch Europas etc.) als wirtschaftlicher Einheit. Von einer differenzierten Auseinandersetzung mit individuellen Bezügen zu geschichtlichen Ereignissen und kulturellen Formationen sind sie dabei weit entfernt. Als nationale Diskurse sind sie darüberhinaus sehr häufig, wie Schlinks Text auch, offen oder latent antisemitisch, indem das Jüdische noch immer als dem Nationalen entgegenstehend konzipiert wird. Auch deswegen muss Schlink, wie Mirjam Bitter ebenfalls betont, die Existenz von deutschen Juden in seinen einfachen Gegensatzkonstruktionen ignorieren. Wie Bitter schreibt, geht er von einer Deckungsgleichheit von „Nation und Religion/Ethnie“ aus, die seiner Suche nach einer ‚deutschen Identität’ entgegenkommt.

Teilweise ausgeführt habe ich meine Kritik an Schlinks Variante solch einer Konstruktion nationaler Identität hier: Kathrin Schödel: „‚Secondary Sufferingʻ and Victimhood: The ‚Otherʻ of German Identity in Bernhard Schlink’s ‚Die Beschneidungʻ and Maxim Biller’s ‚Harlem Holocaustʻ“. In: Stuart Taberner/Karina Berger (Hg.), Germans as Victims in the Literary Fiction of the Berlin Republic. Rochester, NY: Camden House, 2009, S. 219-232 (online etwa bei google books).