Moderne Kulturen und Identitäten sind Netz(werke)e: fraktale, sich in permanentem Wandel und Werden befindliche Konstrukte. Sie sind die Summe sich überlagernder alteritärer Fäden; der Mensch erscheint, wie es Marius und Bronfen ausdrücken, als Collage, als Pastiche; er konstituiert sich aus einer Bewegung, die wir, um einen Gedanken Bhabhas zu verwenden, in einem Zwischenraum verorten könnten.

In einer Zeit der Hybridation trägt eine Anleitung zum Erlernen des Ungenauen – ein Ruf nach einer ‚weichen’ Theorie – dem Ist-Zustand heutiger Gesellschaften und Identitätsvorstellungen Rechnungen, ist diesen Gedanken verpflichtet. Eine Theorie des Unbestimmten ist eine Theorie des Zwischenraums – jenem Ort der Überlagerung und Kristallisation einer mehrfachcodierten Identität; – und vermag eben deshalb zwischen der Forderung nach singulärer Theorie (einer Welt-Formel der Literatur, wenn man so mag) und Theoriemüdigkeit, -stagnation und -feindlichkeit zu vermitteln.

Weiterhin, und dieser Aspekt erscheint lobenswert, macht ein Erlernen des Ungenauen ein Angebot, der Problematik der Binnendifferenzierung innerhalb des geisteswissenschaftlichen Theoriepluralismus zu begegnen, der Praktik, individuell ausgewählte Theorien und Theoriefragmente an ein literarisches Werk ‚heranzutragen’.

Wenngleich ‚harte’ Wissenschaften eine ‚Welt-Formel’ zu bevorzugen scheinen, so ist es zumindest problematisch, den Versuch zu unternehmen, Literatur nur mit einer einzigen Zugangsweise ‚erklären’ zu wollen. Würde man eine ‚Literatur-Formel’ finden, so verlöre Literatur jenen Sinnpluralismus, der sie wohl auszeichnet. Literatur(deutung) würde versteinern, würde zu einer Evidenz verkommen, die sie niemals war und möglicherweise auch nicht sein sollte. Literatur mag eher ein Labyrinth mit zahllosen Türen sein, zu denen die unterschiedlichen Theorien als Schlüssel fungieren: Ein Öffnen und Schließen, das freilich niemals endet, das – die eingangs genannten Punkte greifen auch hier – vielmehr von einer Prozesshaftigkeit, einer hyphemartigen Struktur ist. Literatur, das mag eher ein Gewebe mit vielen losen Fäden sein, das eben aus diesem Grunde stets einen Lebens und Weltbezug haben kann, den eine singuläre Theorie verhindern würde.

Dennoch: Bei allem Lob, bei allen Punkten, die den Ansatz einer ‚weichen Theorie’ nachvollziehbar machen und als mögliche Perspektive erscheinen lassen, bleiben dennoch Aspekte, die einer Klärung bedürfen.

Zunächst erscheint das Ungenaue selbst als blinder Fleck; als blinder Fleck, der instrumentalisiert und operationalisiert wird, aber trotzdem ein etwas diffuses Unbehagen hinterlässt.

Eine Theorie des Ungenauen soll, so Bogdal, auf gewissen Grundaxiomen beruhen:
„Und dennoch verfügen die Literaturwissenschaften über ein verbindendes Reservoir von Grundaxiomen, die als theoretische, methodische und gegenstandsbezogene ›Selbstverständlichkeiten‹ gewissermaßen unsichtbar geworden sind und eine geregelte und in Folge auch interdisziplinäre Kommunikation überhaupt erst ermöglichen.“
Nun ist zu fragen, ob angenommene Grundaxiome nicht den Ansatz einer ‚ungenauen’ Metatheorie widersprechen, da sie zwangsläufig auf ihre zugrundeliegende ‚Muttertheorie’ rekurrieren. Bietet Bogdal nur einen wohlig-weichen Deckmantel an, unter dem sich der kritisierte und in seinen Augen unzeitgemäße Methodenpluralismus verbirgt? Solche Überlegungen müssen spekulativ bleiben, denn Bogdal bleibt beispiellos und vage im Hinblick auf die Grundaxiome einer weichen Theorie, ihre Eigenschaften, Ursprünge und Beschaffenheit.

Verbunden hiermit, scheint auch folgender Punkt zu sein: Eine Theorie des Unbestimmten erscheint demokratisch, scheint alle Perspektiven und theoretischen Ansätze zuzulassen. Einzig: der Ansatz spricht sich nicht explizit für alle Ansätze gleichermaßen aus, bleibt – ob gewollt oder nicht, sei hier nicht berücksichtigt – hier ebenfalls unbestimmt.

Weiterhin ließe sich fragen, woher der Ist-Zustand – dem der Ansatz einer weichen Theorie verpflichtet zu sein scheint – seine Legitimation gewinnt? Aus welchen Diskursen speist er sich? Der Ansatz bleibt in der Schwebe, berücksichtigt einzig die disziplinäre Diskussion, ignoriert jedoch den Diskurs des Politischen.

Um es vielleicht abschließend auf den Punkt zu bringen: Eine Theorie des Unbestimmten dürfte ein großes Potential haben, weil sie dem gesellschaftlichen Ist-Zustand Rechnung trägt; sie bedarf jedoch einer Klärung und Spezifizierung gewisser Punkte, muss, um dem Anspruch einer Theorie gerecht zu werden, eine klarere Anleitung anbieten, muss gleichsam das Bestimmte im Unbestimmten stärken.

Benjamin Thimm mit Tatjana Surdin, Philipp Recklies und Dr. Claas Morgenroth

(Der Kommentar ist das Ergebnis eines Seminars zur Literaturtheorie der TU Dortmund, in dem klassische wie aktuelle Texte und Theorien rezipiert und diskutiert werden und wurden.)

LITERATUR

Bogdal, Klaus-Michael: »Anleitung zum Erlernen des Ungenauen. Die Leistung ›weicher‹ Theorien in den Geisteswissenschaften«. In: Textpraxis 6 (1.2013) S. 3. URL: http://www.uni-muenster.de/textpraxis/klaus-michael-bogdal-anleitung-zum... [24.05.2013]

Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin: Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. In: Dies./Ders./Steffen, Therese (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenberg 1997, S. 1-30.

Bhabha, Homi K.: Verortungen der Kultur. In: Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin/ Steffen, Therese (Hg.): Hybride Kulturen, Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenberg 1977, S. 123-148.