Ich danke Martina Wagner-Egelhaaf für die Einladung in unsere kleine Nachbarstadt und für die Möglichkeit, einige Überlegungen, die ich in den letzten Jahren über den Status von Theorie in den Literaturwissenschaften angestellt habe, zur Diskussion zu stellen. Vieles von dem, das ich vortragen werde, ist an anderer Stelle entwickelt worden. Doch werde ich heute versuchen, meinen Argumenten, die in einem ›Zweifrontenkrieg‹ zwischen der Forderung nach einer kohärenten, formalisierbaren literaturwissenschaftlichen Texttheorie auf der einen, und Theoriefeindlichkeit und -müdigkeit auf der anderen Seite geboren wurden, eine bestimmte Richtung zu geben, die sich am Ende als eine Anleitung zum Erlernen des Ungenauen zu erkennen gibt.
Einige der Protagonisten avancierter literaturwissenschaftlicher Theoriebildung – vornehmlich aus dem anglo-amerikanischen Wissenschaftsbetrieb wie Terry Eagleton – haben verkündet, dass nun eine neue Zeitrechnung »After Theory« angebrochen sei. Diese vage Redeweise meint dreierlei:
Einmal, dass man nicht mehr an der Weiterentwicklung, Überprüfung oder Revision des eigenen literaturtheoretischen Konzepts beteiligt, noch an einer Auseinandersetzung zwischen den konkurrierenden Ansätzen interessiert ist.
Dass zum zweiten man in den kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaften themen- und problemorientiert vorzugehen gedenkt und die zahlreichen theoretischen Implikation nicht mehr systematisch reflektieren möchte.
Dass man drittens über Konzepte wie Latenz und Präsenz, Intuition und Stimmung, Wahrnehmung und Unmittelbarkeit, Theorien als Hindernis auf dem Weg zu Literatur aus dem Weg räumen möchte.
In den Jahrbüchern 2009 und 2010 von Scientia Poetica, um eine gut zu findende Quelle zu nennen, wird das gegenteilige Programm entworfen: eine wissenschaftstheoretisch legitimierte, normativ gerahmte Literaturwissenschaft, in deren Zentrum die Hervorbringung überprüfbarer, stichhaltiger und relevanter Aussagen stehen soll. Nach diesem Exklusionsmodell verabschiedet sich jede theorielose Disziplin aus dem Kreis der ›sciences‹, während sich das Inklusionsmodell, das vom Bewusstsein eines Zustands ›nach der Theorie‹ getragen wird, gerade für nichtwissenschaftliche Wissensformen öffnet und ihnen einen erheblichen Platz einräumt. Letztlich zeichnen sich zwei konkurrierende Wissenschaftskulturen ab. Ein wenig unter Niveau könnte man sie mit dem alten Witz über den Unterschied zwischen Gymnasium und Gesamtschule erklären. Während im Mathematikunterricht des Gymnasiums gefragt wird, wieviel 2+2 ist, lautet die Aufgabe in der Gesamtschule: 2+3=5. Diskutiert das Ergebnis!
Beide Positionen gehen nach meiner Auffassung jeweils von einer nicht zutreffenden Voraussetzung aus, dass es sich bei der Literaturwissenschaft, gemessen am Maßstab von Thomas S. Kuhns »Struktur wissenschaftlicher Revolutionen«, um eine pluri-paradigmatische bzw. monoparadigmatische Wissenschaft handelt. Viele Indizien und vor allem ihre Geschichte sprechen dafür, dass wir eine nicht-paradigmatische Wissenschaft betreiben, deren disziplinäre Formierung, Fortgang und Innovationen nicht durch einen jeweils radikalen Paradigmenwechsel gekennzeichnet sind. Der Prozess der ›Wissensakzeptierung‹ wird nur partiell von literaturtheoretischen Reflexionen begleitet und vollzieht sich uneinheitlich und widersprüchlich und lässt sich als Veränderung nur über längere Zeiträume beobachten. Das war zumindest das Ergebnis einer Untersuchung über so genannte Standardwerke der Germanistik, die ich vor einiger Zeit vorgenommen habe. Diese Analyse zeigte als Nebenergebnis auch, wie brüchig und ungeordnet die disziplinäre Kommunikation im Vergleich zu den Naturwissenschaften, aber auch zum Beispiel den Sozialwissenschaften bis heute vonstattengeht. Einen Kristallisationspunkt für die Kommunikation bildeten immer wieder Theorieangebote. Sie lösten Selbstverständigungsdebatten aus, führten jedoch weniger zu Paradigmatisierungen als vielmehr zu disziplinären Binnendifferenzierungen und allenfalls zu sektoralen Hegemonien.
Die gegenwärtige Konstellation der Akteure auf dem Feld der Literaturwissenschaft macht uns blind für die Tatsache, dass wichtige und für das disziplinäre Selbstverständnis maßgebliche Forschungsergebnisse meist von ›weichen‹ Theorien angeregt bzw. gestützt worden sind. ›Weiche‹ Theorien würde ich als kohärente Ensembles erkenntnisleitender Vorannahmen und erkenntnissichernder Verallgemeinerungen definieren, die problemlösungs- und praxisorientiert den Reichtum des historisch Besonderen der Literatur erkennen und bewahren helfen. Auch ›weiche‹ Theorien – darin würde ich Oliver Jahraus, der sich unter dem Stichwort ›Theorietheorie‹ intensiv mit der Situation ›nach der Theorie‹ auseinandergesetzt hat, zustimmen – müssen explizit oder implizit einen Begriff ihres Gegenstands besitzen. Jahraus schreibt:
Literaturtheorie liefert […] überhaupt erst eine Form, die Literatur einzunehmen vermag. Mit der Literatur muss also ein Diskurs oder ein System entstehen, das sagt, was Literatur ist und was demzufolge als Literatur verstanden werden kann.
Wenn ich nach der Leistung ›weicher‹ Theorien frage, dann stellt das in erster Linie einen Versuch dar, angemessen auf die Umbrüche zu reagieren, die sich seit den 1960er Jahren ereignet haben, als es zunächst so aussah, als ob sich in der Literaturwissenschaft ›harte‹ linguistische und formalisierte Texttheorien durchsetzen würden.
Doch Ende der 1970er zeichnet sich eine davon weit entfernte Konstellation ab: Literaturwissenschaft verbindet – grob sortiert – drei Positionen mit jeweils sehr unterschiedlichen Theorieansprüchen oft am gleichen Ort institutionell, ohne sie ›disziplinär‹ vereinheitlichen zu können oder zu wollen:
Sie ist erstens weiterhin Philologie und damit eine basale Verstehenslehre mit dem Versprechen, eine spezifische Erkenntnisleistung zu erbringen. Sie ist zweitens ebenfalls Sprach- und Literaturtheorie im Sinne einer an Literalität und Oralität ausgerichteten Ästhetik, Poetik (unter anderem Gattungslehre) und Rhetorik und sie hat sich drittens sehr erfolgreich hin zu einer Kulturwissenschaft ›entgrenzt‹ und beansprucht damit, Gesellschaftstheorie, Historik, Soziologie, Anthropologie oder Mediologie zu sein.
Der Status von Theorie ist schon innerhalb der drei genannten Positionen sehr unterschiedlich und reicht vom Marginalen bis zum konstituierenden Charakter. Verbindungen literaturwissenschaftlicher Praxis mit Theorien unterschiedlicher disziplinärer Herkunft zu einem hybriden ›Forschungsdesign‹ – von der Systemtheorie über die Diskursanalyse bis zur dekonstruktivistischen Philosophie – wurden in der Regel zunächst als disziplinäre Grenzüberschreitungen beargwöhnt, und zwar selbst dann, wenn die epistemologischen Hindernisse einer Verbindung in zureichendem Maße benannt und reflektiert worden waren. Für eine Literaturwissenschaft, die sich traditionell vorrangig an der Werkästhetik oder -poetik orientiert, besitzen ›fachfremde‹ Theorien kaum einen Explikationswert. Desinteresse und Abgrenzung nehmen zu, wenn der Verdacht aufkommt, zur ›Unterdisziplin‹ einer Gesellschafts-wissenschaft wie der Soziologie oder der Geschichte degradiert zu werden oder wenn die Alleinzuständigkeit für das literarische Universum gefährdet scheint.
Und dennoch verfügen die Literaturwissenschaften über ein verbindendes Reservoir von Grundaxiomen, die als theoretische, methodische und gegenstandsbezogene ›Selbstverständlichkeiten‹ gewissermaßen unsichtbar geworden sind und eine geregelte und in Folge auch interdisziplinäre Kommunikation überhaupt erst ermöglichen.
Die Funktion dieser Wissensbereiche für die Theoriebildung wird in der Regel unterschätzt. Man sollte die ›Selbstverständlichkeiten‹ nicht als ›blinde Flecken‹ theoretischer Reflexion verorten, sondern als epistemisches Feld, das durch vielfache Überlagerungen eines in historisch unterschiedlichen theoretischen und methodischen Konstellationen gewonnenen Wissens ausgezeichnet und deshalb komplexer und dynamischer ist, als es wahrgenommen wird. Die literaturwissenschaftlichen Grundannahmen zeichnen zudem eine hohe Konvertibilität für konkurrierende Theorien aus. Sie sind daher auch für diese von erheblichem Gewicht für die Legitimierung und Anerkennung der unterschiedlichen Praxen.
Ein aktuelles Beispiel, das ich hier nur andeuten kann, bietet der Aufstieg der Erzählforschung und -theorie zur Narratologie, die durch die Aufladung mit kognitionswissenschaftlichen Theorien und die partielle Rückkehr zu strukturalistischen Verfahren in die Grenzzone gesamtdisziplinärer Akzeptanz eingerückt ist. Wir werden in naher Zukunft sehen, welche ihrer Ergebnisse bei jeder Erzählanalyse berücksichtigt werden müssen, die innerhalb der Disziplin Anerkennung finden will, und welche nur auf dem Terrain der Spezialforschung tradiert werden.
Ich möchte die Stoßrichtung meiner Überlegungen konkretisieren und mich auf eine literaturwissenschaftliche Forschungsrichtung konzentrieren, die sich in den letzten zwei Dekaden erfolgreich etablieren konnte: die so genannte Kulturpoetik.
Die Kulturpoetik bemüht sich im Kern um eine historisch ausgerichtete Modellierung des komplexen Verhältnisses von Wissenssystemen, -praktiken und ästhetisch durchformten Wissensrepräsentationen. Joseph Vogl beschreibt die Vorgehensweise wie folgt:
So läßt sich ›Wissen‹ zunächst als ein gemeinsames Objektfeld begreifen, über das aus verschiedener Perspektive eine begrenzte Reihe von möglichen – relevanten, richtigen, falschen, kontroversen – Aussagen getroffen werden kann. Als Bedingung der Möglichkeit gemeinsamer Objekte verläuft dieses Wissen zugleich über Äußerungsweisen unterschiedlicher Ordnung und Art und erscheint in einem literarischen Text, in einer wissenschaftlichen Beobachtung, in einer Abbildung oder in einem alltäglichen Satz gleichermaßen […].«
Ob das Wissen »gleichermaßen« in wissenschaftlichen Forschungen und literarischen Werken erscheint, kann man bezweifeln, denn es ist dem Beobachter einzig in den jeweiligen Äußerungsweisen präsent und geht ihnen nicht als zeichenloses Denken voraus. Man könnte den Begriff der »Aussage« theoretisch anders konzeptualisieren: nicht diskurstheoretisch mit Foucaults Archäologie des Wissens wie hier von Vogl, sondern zum Beispiel sprachanalytisch oder textlinguistisch, und würde damit eine engere Bedeutungstheorie einführen. Doch derartige terminologische Vergewisserungen liegen einer Forschungsrichtung fern, die, wie Joseph Vogl betont, keine »robuste Theorie« sein will, sondern bewusst »die Eingangsbedingungen ihres Verfahrens reduziert.« Begriffe wie ›Poetologie des Wissens‹, ›Kulturpoetik‹ von Erich Kleinschmidt, ›Poetik des Wissens‹ von Jacques Rancière oder ›Poetics of Culture‹ von Stephen Greenblatt meiden sämtlich die nobilitierende Selbstbezeichnung als Theorie, die bisher in den Literaturwissenschaften üblich war. (Erinnert sei en passant an Peter Szondis Theorie des modernen Dramas oder Peter Bürgers Theorie der Avantgarde.) Mit der Poetik wird allerdings ein semantisch eindeutig besetzter Begriff gewählt, der einem Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft zuzurechnen ist. Seit der Antike erfüllte er bekanntermaßen ordnende und verallgemeinernde – prototheoretische – Funktionen. Die Kulturpoetik identifiziert sich aber weder mit dieser traditionsreichen Wissensordnung, noch versteht sie sich als Weiterentwicklung ihrer Verallgemeinerungspotentiale. Nicht mehr zwischen einfache Anführungszeichen gesetzt wie sonst in poststrukturalistischen Theorien Usus, verschiebt sich die Bedeutung von Poetik oder Poetologie in die Richtung einer Allusion oder besser einer Metapher, der eine Bedeutung im Kontext der wissenschaftlichen Praxis erst noch zugeschrieben werden muss. Die Metaphorisierung bewirkt einen (ständigen) Aufschub im Prozess der Theoriebildung und erzeugt, einem Verfremdungseffekt gleich, Polysemien. Der metaphorische Charakter der Selbstbezeichnung offenbart einen nicht unerheblichen ›Widerstand‹ gegen den Zwang zu begrifflicher Präzision, die von Theorien in den Wissenschaften erwartet wird. Zugleich eröffnet der Leitbegriff ein Spiel mit dem hohen semantischen Potential, das von Aristoteles und den Regelpoetiken über die romantische Poesiekonzeption bis zur Sprechakttheorie und der Autopoiesis der Systemtheorie reicht. Dieses Spiel mit posttheoretischen Metaphern hat gegenwärtig in der Genderforschung ebenso Konjunktur wie im New Historicism oder in den Postcolonial Studies. Es besteht darin, sie als autoritativen Legitimationsrahmen zu verwenden und zugleich dessen Geltung zu relativieren.
John R. Searle hat in einem im Merkur erschienenen Aufsatz »Die Angst vor Wissen und Wahrheit« in einer Wiederaufnahme seiner Debatte mit Derrida (nach dessen Tod) von den ›Humanities‹ gefordert, sich auf Aussagen zu beschränken, »die objektiv, universell und zweifelsfrei hinreichend begründet sind.« Die Literaturwissenschaften haben in den Debatten um Strukturalismus und linguistische Texttheorie in den 1960ern und 1970ern auch ohne Derridas Fundamentalkritik diesen Anspruch als unzulässige, ihren Gegenständen nicht angemessene erkenntnistheoretische Reduktion zurückgewiesen und sich in einem längeren Prozess der Exklusion und Inklusion von Theorien, Methoden und Forschungen jenen von Searle verworfenen ›relativistischen‹ und ›konstruktivistischen‹ Positionen in unterschiedlicher gradueller Abstufung angenähert bzw. diese übernommen und die literaturtheoretischen Diskussionen stärker problemlösungsorientiert als grundsätzlich geführt. ›Szientistische‹ (empiristische) Interventionen blieben auch in der Theorie-Hochphase der Literaturwissenschaften in den 1980er und 1990ern ohne nachhaltige Wirkung. Vor diesem Hintergrund lassen sich die zwischen Begriff und Metapher oszillierenden Termini der ›Kulturpoetiken‹ auf kritische Weise würdigen und letztendlich auch rechtfertigen, wenn man zudem mit Willard Quine von der Unterbestimmtheit der Bedeutung von Begriffen und der Anpassungsfähigkeit von wissenschaftlichen Systemen zur Herstellung innerer Kohärenz ausgeht. Unter dieser Prämisse könnte geprüft und erörtert werden, ob die ›Kulturpoetiken‹ nicht eine Theoriepolitik der ›Bündnisse auf Zeit‹ praktizieren, durch die das Interesse an den Gegenständen wachgehalten wird. Deren Stärke liegt womöglich in der Beschreibung des Besonderen bzw. der historischen Signaturen. Deren Begrifflichkeit formiert sich erst im Erkenntnisgang zu einem Ensemble, das Louis Althusser nicht ganz unzutreffend als spontane Theorie wissenschaftlicher Praxis bezeichnet hat. Über ihren Wert entscheidet nicht ihre allgemeine Geltung, sondern ihre spezifische Leistung für die Beantwortung der jeweiligen Fragestellungen.
Für die ›Kulturpoetik‹ gilt, dass ihre Strategie, eine systematische und kohärente Theoriebildung durch die Inauguration praxisleitender Metaphern zu vermeiden, zu paradoxen Wirkungen führt. Zum einen sind vorbegriffliche Bezeichnungen wie ›Poetik‹ oder ›Poetologie‹ sprachliche Symptome ungelöster literaturtheoretischer Probleme: in diesem Fall der Text-Kontext-Beziehung. Ebenso sind sie ein Zeichen dafür, dass bisher Ungedachtes und Ungesagtes nun ›gedacht‹ und zur Sprache gebracht wird. Mit anderen Worten sind sie womöglich erste Indikatoren einer wissenschaftlichen Innovation. Zugleich bedeutet die Entscheidung für eine Metapher den Ausschluss einer Serie von Begriffen, die auf einer paradigmatischen Achse zur Verfügung stehen.
Gegen die ›Poetologie des Wissens‹ als eine Form ›weicher‹ Theoriebildung ist in letzter Zeit massive Kritik laut geworden. Sie kommt aus einer Richtung, die sich »an den Normen der analytischen Wissenschaftstheorie« orientiert, wie Michael Titzmann vor kurzem noch einmal hervorhob. Auch wenn der Neuheitswert der ›Kulturpoetik‹ konstatiert wird, laufen die Einwände auf das harsche Urteil hinaus, dass »starke Innovationen in äußerst schwacher Normalwissenschaft enden« und über keine fachspezifischen Kompetenzen verfügen würden. Freilich liegt einer solchen Vorabvermutung eine enge Konzeption von scientific knowledge zugrunde, die Heidegger als »die machenschaftliche Aufmachung eines Umkreises von Richtigkeit innerhalb eines sonst verborgenen und für die Wissenschaft gar nicht fragenswürdigen Bezirkes einer Wahrheit« karikiert und die schon Herder in einem anderen Kontext durchgespielt hat, in dem er für einen Moment annahm, »ein philosophischer Weltweiser werde einen großen Theil der Wörter aus der Sprache hinauswerfen; nämlich alle diejenigen, deren Bedeutung er nicht bestimmen könne.«
Aus normativer Sicht gibt es, so behauptet Titzmann, auch in den Literaturwissenschaften nur einen Königsweg zur Theorie: »Gute Theoriebildung wird zunächst von den einfachen Fällen ausgehen; nur dann kann sie irgendwann auch der Komplexität ausdifferenzierter Systeme gerecht werden.« Aber hier genau liegt das Problem. In der Welt der Literatur gibt es keine »einfachen Fälle«, eigentlich gibt es überhaupt keine »Fälle«, auch keine schwierigen, sondern nur die uns überlieferten Werke. In ihrer historischen Vielfalt und jeweiligen Singularität lassen sie sich nicht auf einer Komplexitätsspirale anordnen.
Wir müssen davon ausgehen, dass die Literatur ein vielschichtiges Gebilde innerhalb eines komplexen, auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelten Systems ist, dessen Zusammenhänge wir bisher nur historisch-konkret und exemplarisch beschreiben können. Allgemein gültige Modelle von Struktur, Kausalität und Transformation konnten davon bisher nicht abgeleitet werden. Die mögliche Leistung ›weicher Theorien‹ besteht darin, vorläufige, aber dennoch plausible Erklärungen für bestimmte Bereiche des hochkomplexen Gesamtphänomens ›Literatur‹ und dessen historische Ausprägungen und Entwicklungen anzubieten. Theoriefeindlichkeit kapituliert vor dieser Komplexität, eine normative Theorie verfehlt sie.
In jüngerer Zeit haben WissenschaftstheoretikerInnen wie Sandra Mitchell, die die Entwicklung in der Medizin und in den Naturwissenschaften beobachten, die Frage nach der angemessenen Beschreibung komplexer Phänomene auf eine neue Art gestellt, die auch für die Geisteswissenschaften von Belang sein könnte. Mitchell schlägt vor, die Suche »nach den großen Prinzipien […], mit denen sich die Natur erklären läßt«, zugunsten der »vielen kleinen Erklärungen« aufzugeben. Sie artikuliert ein Unbehagen an der »Unzulänglichkeit strenger, einheitlicher und einfacher Modelle der Wissenschaft«, deren Ziel darin bestehe, ein Verfahren zu entwickeln, »mit dem man die einfachen Prinzipien hinter der Komplexität des Alltags offenlegen konnte.« Das szientistische Modell ist auch der Literaturwissenschaft nicht unbekannt. Ihm folgten unter anderem der Positivismus, die morphologische Erzählforschung und der Strukturalismus. Mitchells These, die »reduktionistische Annahme, man könne alle komplex zusammengesetzten Strukturen und Systeme ausschließlich durch Untersuchung der Eigenschaften ihrer einfachsten Bestandteile restlos erklären,« lasse »sich nicht aufrechterhalten,« halte ich auch für die literaturwissenschaftliche Grundlagenforschung für bedenkenswert. Das gilt umso mehr für ihre Feststellung, dass man bei der Erforschung komplexer Phänomene immer wieder auf »Merkmale der Nichterklärbarkeit« stößt und dies nicht ein Scheitern signalisiert, sondern eine Erkenntnisleistung darstellt. Ihr Plädoyer für Methodenpluralität auch in den Naturwissenschaften, die aber nicht in Beliebigkeit einmünden darf, klingt wie ein Echo längst vergessener literaturtheoretischer Debatten der 1970er. Standards wie »Widerspruchsfreiheit, Stichhaltigkeit und Relevanz« weiterhin vorausgesetzt, lese ich Mitchells Kritik am Reduktionismus universalistischer Theoriebildung als Anleitung zum Erlernen des Ungenauen: Nicht ungenaue wissenschaftliche Verfahren, sondern mögliche Aussagen zum Beispiel über das Verhältnis von Literatur und Wissen oder über ästhetische Erfahrung mit ihren erheblichen Restbeständen an Unerklärbarkeit.
Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen und die These wieder aufgreifen, die zu Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Literatur gegen den Positivismus formuliert worden war, dass wir es bei ihr im erkenntnistheoretischen Sinn mit einem Phänomen des Ungenauen zu tun haben, das sich der vollständigen Bemächtigung zu entziehen sucht. Diesem Umstand haben so gegensätzliche Theorien wie die literaturwissenschaftliche Hermeneutik und die Historische Diskursanalyse Rechnung getragen. Nimmt man hinzu, dass die Poetik und Ästhetik der Moderne und Avantgarde (und ihr voran die hermetische Poesie) sich einem Programm zur Herstellung von Nichterklärbarkeit verpflichtet fühlte, könnte man daraus den Schluss ziehen, dass ›weiche‹ Theorien die angemessene Weise darstellen, sich der Literatur wissenschaftlich zu nähern.
Michel Foucault hat in einer Vorlesung über die antike Parrhesia, die Praxis alles auszusprechen, bzw. wie Foucault pointiert sagt, die Praxis des Wahrsprechens, vier Strategien oder Modi benannt, durch die ein Diskurs sich Geltung verschaffen kann: Strategien des Beweisens, des Überredens, des Belehrens und des Dialogisierens. Während ›harte‹ Theorien sich auf den Modus des Beweisens beschränken, bringen ›weiche‹ Theorien alle vier Modi ins Spiel. Wer so vorgeht, zielt nicht auf eine autoritative Festlegung, sondern auf einen Diskurs, »der eine offene Situation zu Folge hat oder vielmehr die Situation öffnet und eine Anzahl von Wirkungen ermöglicht, die unbekannt sind.«
Darin liegt für mich der Sinn einer Literaturwissenschaft, die mehr will, als das in einer anderen Sprache zu wiederholen, was wir in den Werken der Literatur gelesen haben.
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