Digital Journal for Philology
Ereignisse berechnen
Für den Forschungsbereich der Narratologie waren in den zurückliegenden Jahren diverse Erweiterungen und Ausdifferenzierungen charakteristisch. So analysiert die transgenerische Narratologie1 nicht allein die Gattung Epik, sondern ebenso Dramen und Lyrik; die intermediale Narratologie2 wiederum widmet sich unter einen erweiterten Textbegriff fallenden Objektbereichen wie Graphic Novels, Computerspielen oder Bildern. Darüber hinaus ist das Begriffsinventar der klassisch-strukturalistischen Narratologie inzwischen in diverse interdisziplinäre Programme mit den verschiedensten Forschungsinteressen hineingewachsen3 und bildet den Referenzrahmen der durch die Synergie mit Computerlinguistik und Informatik entstandenen Computationellen Narratologie.4
Gemeinsam ist den damit aufgerufenen Entwicklungen, dass mit ihnen die klassischen narratologischen Kategorien und Konzepte einer Revision, Präzisierung beziehungsweise Differenzierung ausgesetzt werden, ein Anspruch, der auch von dem von der DFG geförderten Projekt »Evaluating Events in Narrative Theory« (EvENT) geteilt wird. EvENT läuft seit Oktober 2020 und ist im fortext-lab an der TU Darmstadt wie in der Language Technology Group der Universität Hamburg beheimatet. Ausgehend von der grundlegenden narratologischen Bedeutung von Ereignissen in ihrer konstitutiven Funktion für Erzähltexte war und ist deren Formalisierung und computationelle Analyse das Ziel dieses interdisziplinären Projekts. Mit der Kombination von Methoden und Konzepten aus Literaturwissenschaft und maschineller Sprachverarbeitung (auch NLP, Natural Language Processing) und der Automatisierung eines entsprechenden Analysemodells wurde gewissermaßen eine Testumgebung für die narratologische Theoriebildung geschaffen, die es bislang in dieser Form nicht gab. Für die Literaturwissenschaft ergeben sich hierdurch vor allem zwei neue Perspektiven. Einerseits ist es mithilfe des computationell-narratologischen EvENT-Ansatzes möglich, das fokussierte Phänomen, Ereignisse, auf der Makroebene zu erfassen und damit Muster und Prägnanzen in der Repräsentation dieses Phänomens in einer großen Menge an Texten zu analysieren. Dabei kann der Analysefokus auf Einzeltexte aus dem Korpus gerichtet werden, so dass sich close und distant reading im so genannten scalable reading5 wechselseitig ergänzen. Während die nicht-digitale, klassische Narratologie die Entwicklung wie Anwendung ihrer Begriffe und Konzepte für die literarische Analyse überwiegend auf der Grundlage von Einzeltextbeobachtungen vornimmt, wird im EvENT-Projekt also auf der Basis sehr viel größerer Korpera operiert. Die auf der Grundlage dieser Korpora empirisch erforschten narrativen Regularitäten können so zur Überprüfung und theoretischen Weiterentwicklung der bisherigen Forschungskonzepte herangezogen werden. Weiterhin, und darin besteht die zweite neue Perspektive, stellt EvENT Werkzeuge für die Ereignis-Analyse bereit, welche für die Interpretation literarischer Texte geeignet und damit auch für die ›klassische‹ Literaturwissenschaft attraktiv sind. So geht es bei EvENT um einen Brückenschlag, mit dem computationelle Lösungen als eine Art pre-processing für weitergehende Analysen und das Verstehen von Erzählungen in einem größeren (nicht nur) narratologischen Forschungskontext entwickelt und erprobt werden.
Ereignisse, so die einhellige Meinung in der Forschung, stellen als Zustandsveränderungen die elementaren Bausteine narrativer Texte dar;6 Jurij M. Lotman beispielsweise versteht das Ereignis »als die kleinste unzerlegbare Einheit des Sujetaufbaus«.7 Die Anordnung und Transformation von Ereignissen in Texten wird in einschlägigen Modellen der narrativen Konstitution sowohl mit der Ebene der histoire als auch des discours in Beziehung gesetzt.8 Gleichwohl ist auffällig, dass bislang nur wenige Ansätze, auch unter den computationellen, das Phänomen ›Ereignis‹ im narratologischen Sinn adäquat erfasst haben. Dies mag der extensiven Präsenz von Ereignissen in Textartefakten geschuldet sein, welche eine rein manuelle Analyse (zu) mühselig macht. Gleichzeitig beziehen sich maschinelle Ansätze ausschließlich auf die histoire-Ebene und ignorieren dementsprechend die textliche Repräsentation der Ereignisse. Dies führt insbesondere bei sprachlich komplexeren oder vielfältigen Texten wie literarischen Erzähltexten zu Problemen bei der Erkennung. Die Herausforderung für das EvENT-Projekt war es daher, Ereignisse über die discours-Ebene zu identifizieren. In Anlehnung an Gerald Prince (2010), der davon ausgeht, dass ein Ereignis ein Satz sein kann, wurden Verbphrasen – also satzwertige Teilsätze – als Annotationsspannen gewählt, denen Ereignis-Subtypen zugeordnet werden. So wurde einerseits ein granularer, den jeweiligen Text umfänglich berücksichtigender Ansatz gewählt. Andererseits konnte durch die Anlehnung der Konzipierung der Ereignis-Subtypen an grundlegende Ereigniskonzepte aus der Erzähltheorie die narratologische Fundiertheit der anschließenden Automatisierung der Ereignis-Erkennung gewährleistet werden. Unterschieden wird nach dem EvENT-Konzept somit zwischen 1. Zustandsveränderungen, 2. Prozess-Ereignissen, 3. statischen Ereignissen und 4. Nicht-Ereignissen. Zustandsveränderungen wurden definiert als physische oder mentale Veränderungen von belebten oder unbelebten Entitäten.9 Prozess-Ereignisse erfassen Handlungen und Ereignisse, die nicht in einer Zustandsveränderung münden, also Prozesse des Denkens, Fühlens oder der Bewegung. Statische Ereignisse hingegen beziehen sich auf physische oder mentale Zustände von belebten oder unbelebten Entitäten.10 Und, ergänzend, um die umfassende Annotation von Texten zu ermöglichen, wurde diesen drei Ereignistypen die Kategorie des Nicht-Ereignisses hinzugefügt. Diese Kategorie deckt jene Verbphrasen ab, die keinen Bezug zu Tatsachen in der fiktiven Welt haben und typischerweise Fragen, allgemeine Aussagen oder kontrafaktische Passagen darstellen, oder aber keine vollständigen Verbphrasen sind.11 Die Erkennung dieser Ereignis-Typen wurde automatisiert12 und es gibt erste Anwendungsbeispiele in anderen Projekten und Forschungsdomänen. Matei Chihaia (2021) beispielsweise nutzte den EvENT-Ansatz, um die Repräsentation des mexikanischen Bundesstaates Sinaloa in einer deutschsprachigen Wochenzeitung zu analysieren. In Abschlussarbeiten der Universität Groningen (Pianzola/Kronenberg) mit dem Schwerpunkt der Filmanalyse wird die automatisierte Ereigniserkennung ebenfalls eingesetzt.
Unter der Annahme, dass die verwendeten Ereignistypen auch verschiedene Grade von Ereignishaftigkeit aufweisen, wurden diesen im Anschluss jeweils entsprechende Narrativitätswerte zugeordnet. Dadurch können Narrativitätsgraphen generiert werden, welche die Ereignishaftigkeit über den Textverlauf abbilden. Explorativ erproben kann man diese Graphen auf der Narrativity Graphs-Website,13 die am Hamburger Projektstandort erstellt wurde und auf der, basierend auf dem EvENT-Konzept, Narrativitätsgraphen sowohl für selbst eingefügte als auch für vorgehaltene Texte aus dem d-prose-Korpus14 erzeugt werden können. Über das Interface der Website ist es möglich, die Glättung der Graphen über die Fenstergröße – also den Textumfang, der zugrunde gelegt wird – zu verändern. Das Interface stellt zudem neben dem ausgegebenen Graphen den entsprechenden Volltext zur Verfügung, wobei beim Abfahren des Graphen mit dem Mauszeiger die jeweils der Stelle entsprechende Verbphrase im Volltext hervorgehoben wird. Die Narrativity-Website ermöglicht somit einen niedrigschwelligen, explorativen Umgang mit den visualisierten Narrativitätsverläufen.
Die Interpretierbarkeit dieser Graphen ist durchaus voraussetzungsreich und wird im Projekt derzeit noch sondiert, auch durch eine Rezeptionsstudie, in der die Probanden aus verschiedenen Graphen jenen auswählen sollen, der ihrer Meinung nach einem vorgegebenen Text entspricht. Erste Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass es bei längeren Texten schwieriger ist, diesen die passenden Graphen zuzuordnen und Studienteilnehmer*innen, die mit dem EvENT-Projekt vertraut sind, zum Beispiel durch ihre Mitarbeit als studentische Hilfskräfte, eine höhere Trefferquote bei der Zuweisung der Graphen vorweisen können.
Dennoch zeichnet sich an diversen Beispielen auch das hermeneutische Potential der Narrativitätsgraphen ab. Die höchsten Amplitudenausschläge im Narrativitätsgraphen von Kafkas Die Verwandlung (Abb. 2) beispielsweise werden durch jene Textspannen gebildet, denen auch nach bisheriger literaturwissenschaftlicher Expertise15 eine besondere Handlungsrelevanz zukommt. Ausschlag (1) der Zeitlinie repräsentiert so jenen Textabschnitt, in welchem sich Gregor Samsa nach seiner Verwandlung erstmals als Ungeziefer seiner Familie zeigt. Der Ausschlag (2) verweist auf jene Passage, in der Gregor sein Zimmer verlässt, seine Mutter das Bewusstsein verliert und der Vater ihn aus dem Wohnzimmer verjagt. Der Graphenauschlag (3) wiederum stellt jenen Abschnitt der Erzählung dar, in welchem der Vater mit Äpfeln nach Gregor wirft, diesen verletzt und der Vater-Sohn-Konflikt also eskaliert. Die Ausschläge (4) und (5) repräsentieren den Konflikt mit den neuen Mietern und deren Flucht. Die letzte in der Abbildung ausgewiesene Graphenspitze (6) schließlich steht für den Tod Gregor Samsas.
Mit dem EvENT-Ansatz ist es gelungen, das für die Narratologie zentrale Phänomen des Ereignisses auf der Textoberfläche und daher maschinenlesbar zu modellieren. Dieser vielversprechende Weg soll weiterverfolgt werden, auch weil die Studien mit der bisherigen Ereignis-Klassifikation und -Erkennung nahelegen, dass auf diese Weise vor allem grundlegende beziehungsweise allgemeine Ereignisse erfasst werden, die in der Forschung unter dem Begriff event I firmieren.16 Die Frage steht im Raum, auch mit Blick auf den Graphen der Verwandlung, inwiefern eine Verbindung besteht zwischen diesen allgemeinen Ereignissen und den besonders erzählwürdigen und weitere besonders handlungsrelevante Qualitäten aufweisenden Ereignissen, die unter event II subsumiert werden und in einem höheren Maß wichtig für die Handlung einer Erzählung sind. Durch den Handlungsbezug käme dem über die discours-Ebene konzipierten Verfahren auch eine Relevanz für die Analyse der histoire-Ebene zu, was nicht zuletzt der narratologischen Auffassung von Handlung entspricht.17 Die bisherigen Ergebnisse des Projekts unterstreichen die Herausforderung für die Ereignis-Forschung, integrative Analysemodelle zu entwickeln, welche die beiden Ebenen des Erzählens angemessen berücksichtigen, die discours- wie die histoire-Ebene.
Literaturverzeichnis
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- 1. Vgl. Evelyn Dueck: »Die transgenerische Narratologie und die Sprechenden in Paul Celans ›Fadensonnen‹ (1968)«. In: Claudia Hillebrandt u. a. (Hg.): Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 1: Lyrisches Ich, Textsubjekt, Sprecher? Lyrisches Ich, Textsubjekt, Sprecher? Berlin u. a. 2019, S. 67–86.
- 2. Vgl. Jan Alber u. Per Krogh Hansen: Beyond Classical Narration: Transmedial and Unnatural Challenges. Berlin u. a. 2014.
- 3. Vgl. Ansgar Nünning u. Vera Nünning (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier 2002; Matthias Aumüller: Narrativität als Begriff. Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philologischer und anthropologischer Orientierung. Berlin u. a. 2012.
- 4. Vgl. Jan Christoph Meister: Computing action: a narratological approach. Berlin u. a. 2003; Inderjeet Mani: »Computational Narratology«. In: Jan Christoph Meister u. a. (Hg.): The living handbook of narratology, Hamburg 2013. https://www-archiv.fdm.uni-hamburg.de/lhn/node/43.html (zuletzt eingesehen am 14. Mai 2023); Andrew Piper, Richard Jean So u. David Bamman: »Narrative Theory for Computational Narrative Understanding« In: Proceedings of the 2021 Conference on Empirical Methods in Natural Language Processing. DOI: 10.18653/v1/2021.emnlp-main.26.
- 5. Vgl. Martin Mueller: »Morgenstern’s Spectacles or the Importance of Not-Reading«, Scalable Reading (Blog), 21. Januar 2013, https://scalablereading.northwestern.edu/2013/01/21/morgensterns-spectac... (zuletzt eingesehen am 14. Mai 2023); Thomas Weitin: »Scalable Reading«. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47.1 (2017), S. 1–6. DOI: 10.1007/s41244-017-0048-4.
- 6. Vgl. Peter Hühn: »Event and Eventfulness«. In: Jan Christoph Meister u. a. (Hg.): The living handbook of narratology, Hamburg 2013, par. 1. https://www-archiv.fdm.uni-hamburg.de/lhn/ node/39.html. (zuletzt eingesehen am 14. Mai 2023).
- 7. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil. München 1972, S. 330.
- 8. Vgl. u. a. Karlheinz Stierle: »Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte«. In: Reinhart Koselleck u. Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung. Poetik und Hermeneutik 5. München 1973, S. 530–534; Mieke Bal: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. Übers. v. Christine van Boheemen. Toronto u. a. 1985; Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. 2., verb. Aufl. Berlin u. a. 2008.
- 9. Nach Marie-Laure Ryan: »Embedded Narratives and Tellability«. In: Narrative Poetics 20.3 (1986), S. 319–340; Schmid 2008.
- 10. Nach Gerald Prince: Grammar of Stories: An Introduction. Paris 1973.
- 11. Vgl. Michael Vauth u. Evelyn Gius: »Richtlinien für die Annotation narratologischer Ereigniskonzepte«, Zenodo, 7. Juli 2021, DOI: 10.5281/zenodo.5078174.
- 12. Vgl. Michael Vauth u. a.: »Automated Event Annotation in Literary Texts«. In: CHR 2021: Computational Humanities Research Conferencee, S. 333–345. http://ceur-ws.org/Vol-2989/short_paper18.pdf. Amsterdam 2021. Für den Classifier: Hans Ole Hatzel: »Event Narrativity Classifier«, Zenodo, 12. Juli 2022, https://zenodo.org/record/6821142.
- 13. Narrativity Graphs, https://narrativity.ltdemos.informatik.uni-hamburg.de/ (zuletzt eingesehen am 14. Mai 2023).
- 14. Das d-Prose-Korpus wurde im Rahmen des hermA-Teilprojekts »Gender und Krankheit« an der Universität Hamburg erstellt. Es enthält 2511 deutschsprachige Prosatexte mit einem Mindestumfang von 1000 Wörtern, die zwischen 1870 und 1920 publiziert wurden.
- 15. Vgl. Sandra Poppe: »Die Verwandlung«. In: Manfred Engel u. Bernd Auerochs (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2010, S. 164–174.
- 16. Vgl. Peter Hühn 2013, par. 1.
- 17. Vgl. Karin Kukkonen: »Plot«. In: Peter Hühn u. a. (Hg.): The living handbook of narratology, Hamburg 2014. https://ww 584w.lhn.uni-hamburg.de/node/115.html (zuletzt eingesehen am 14. Mai 2023).
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