Mit dem Netzwerk werden bisher vereinzelte analytische Bestrebungen aus der Literaturwissenschaft, der Theaterwissenschaft und praxisnaher Schreibschulen vorangetrieben, um auf zentrale Entwicklungen der Gegenwartsdramatik im 21. Jahrhundert einzugehen. Ziel ist es, in transdisziplinärer Absicht die Aufmerksamkeit für den Theatertext als gegenwärtige Literatur- und Praxisform in den Wissenschaften sowie im theoretischen und künstlerischen Diskurs zu schärfen. Dabei stehen die Bedingungen von Autorschaft, eine medientheoretische Auseinandersetzung mit der Genese von Theatertexten sowie eine kritisch-produktive Reflexion des etablierten Analysevokabulars im Fokus.
Zum Vorgehen
Im Vordergrund der Netzwerkarbeit steht die Thematisierung und Theoretisierung der Gegenwartsdramatik als literarische Form durch einen kontinuierlichen Austausch über die Entwicklungen der deutschsprachigen Theatertextliteratur in den letzten zwei Dekaden. Gerade in der aktuellen Schreibpraxis finden sich sehr unterschiedliche Modi der Textproduktion: von (nicht)hierarchisierten Schreibkollektiven über Stückentwicklungen, in denen Regie, Dramaturgie, ggf. Autor*innen, Performende, ›Expert*innen des Alltags‹ und weitere Interviewpartner*innen mit ihren Auskünften integraler Teil des Schreibprozesses werden, bis hin zu der von digitalen Formaten beeinflussten Bühnenliteratur, insbesondere der Corona-Jahre seit 2020 an.
Genau hier setzt die Netzwerkforschung an und bezieht die Stadien von Schreibprozessen in die Untersuchungen offensiv mit ein: Anhand der Dokumentation und Analyse verschiedener Textversionen von der ersten Textfassung bis zur Premierenfassung im Regiebuch werden neu entstehende Theaterstücke praxisnah begleitet und zur Vertiefung dramentheoretischer Ansätze herangezogen. Auf diesem Weg wird nicht nur eine projektbezogene Kollaboration mit Autor*innen, sondern auch der kontinuierliche Nachvollzug konkreter Schreibweisen angestrebt. Ziel ist es, durch das produktionsnahe Verfahren die spezifischen Arbeitsschritte und die damit einhergehende Infragestellung klassischer Autor*in-Werk-Relationen auch praxistheoretisch zu vertiefen. Durch die Dokumentation und Fixierung prozessualer und kollektiver Bühnenliteratur stellt sich umso dringlicher die Frage nach der (Un-)Abgeschlossenheit von Sprache und der Bedeutung von Schriftlichkeit und Medialität für das Theater und seine Realisierung.
Grundlegende Ziele
Unser Vorhaben gliedert sich in drei unterschiedliche, aber miteinander interagierende Forschungsfelder:
Untersuchungen der Pluralität sprachlicher Strategien und Formate der Gegenwartsdramatik: von Interesse ist insbesondere die gegenwärtig zunehmende Relevanz von Schreibverfahren, die eine chorische Form des Sprechens oder dessen perspektivische Vielfalt etablieren; ebenso ist der Zuwachs kollektiv organisierter Textproduktion zu thematisieren.
Reflexion des angewandten wissenschaftlichen Analyse- und Theorievokabulars: Etablierte Terminologien, die auf aktuelle Theatertexte angewandt werden, sind kritisch zu prüfen, gegebenenfalls zu modifizieren und durch angereicherte Begrifflichkeiten zu erweitern.
Auseinandersetzung mit den veränderten Bedingungen von Publikationsformaten: Hiermit gerät eine dezidiert praxeologische Betrachtung in den Fokus, die den kritischen Nachvollzug der Theatertextgenese präzisiert; so wird nicht nur nach der Entstehung der Texte gefragt, sondern auch nach den divergenten Bedingungen ihrer Veröffentlichung.
Untersuchung der Pluralität sprachlicher Strategien und Formate der Gegenwartsdramatik
Zunehmend kommen Schreibverfahren zum Einsatz, die eine kollektive Form des Sprechens etablieren. Konkretes Ziel ist es daher, deskriptive Termini für a.) kollektive Sprechweisen, etwa chorische Elemente und Polyphonie, zu finden und somit den Einsatz musikalischer und kompositorischer Elemente, Stimmlichkeit und Klang als Gestaltungsmittel theatraler Sprache, literaturwissenschaftlich festzumachen. Im Sinne einer Politisierung können diese b.) als literarische Bewältigungsstrategien von globalen Herausforderungen wie Klimawandel, internationalen Fluchtbewegungen oder der Covid-Pandemie gelesen werden. So wird häufig die Handlungsfähigkeit von Einzelnen hinterfragt; stattdessen scheint die Gemeinschaft als Kollektiv und zugleich mit Mehrsprachigkeit auf aktuelle Krisenphänomene zu reagieren. Damit einher geht c.) eine verstärkte Wiederaufnahme antiker Elemente und von Episierungsverfahren, zum Beispiel in Form von Prologformaten.
Ohne eine Rückkehr zu rein dramatischen oder mimetischen Erzählstrukturen ist im deutschsprachigen Raum seit über zehn Jahren wieder eine Tendenz zur Unterbrechung von unpräsentationalen Erzählweisen, etwa in Form von dramatischen Rückschauen und Grundkonflikten oder Handlungs-Splittern, festzustellen. Der Dialog ist nicht mehr das einzige Gattungsmerkmal, das ein »Entschluß zur Tat« bedeuten kann, vielmehr wird Handlung hier in einem erweiterten Verständnis als politisches Handeln interpretiert.
Zuwachs kollektiv organisierter Textproduktionen
Die Vielstimmigkeit der Gegenwartsdramatik zeigt sich jedoch nicht nur textimmanent, sondern zunehmend auch in den Verfahren ihrer Produktion. Die Entstehung von Theatertexten setzt als prozessuale Entwicklung oftmals auf enge Zusammenarbeit von Autorschaft, Dramaturgie, Regie und Schauspiel und/oder auf kollektive Textproduktion von mehreren Kunstschaffenden. Dies mündet in ein Bündel zusammenhängender Fragen: Welchen Stellenwert hat Autorschaft und welchen hat der Text in dieser künstlerischen Zusammenarbeit, zum Beispiel im Probenprozess? Dabei sind sowohl nationale bzw. lokale Differenzen zu beachten, als auch unterschiedliche Rahmenbedingungen der Textgenese von einzelnen Schreibverfahren und Theaterprojekten einzubeziehen. Neben Fragen der Verantwortlichkeiten und Urheberschaft ist zu klären, worauf dieses verstärkte Aufkommen zurückzuführen ist. Dass Theatertexte das Produkt vielstimmiger Zusammenarbeit sind, lässt sich gerade an dem Artefakt des Regiebuchs praxeologisch nachvollziehen – die Perspektiven und Grenzen seiner Erforschung abzustecken ist eine methodische Herausforderung, der sich das Netzwerk stellt.
Reflexion des angewandten wissenschaftlichen Analyse- und Theorievokabulars
Klärungsbedürftig ist zudem der zugrunde liegende (Theater-)Textbegriff, der im letzten Jahrzehnt signifikant durch transversale Anleihen im Musikalischen, im Filmischen, in der Bildenden Kunst und dem Dokumentarischen erweitert wurde. So lässt sich fragen, wie etwa die an Bedeutung gewinnende Stimmästhetik in der Textgestaltung, insbesondere die Tendenz zu musikalischer Intonierung und sprachlicher Rhythmisierung, adäquat eingefangen werden kann. Die aktuellen Bemühungen um eine präzise Erfassung der Diversität von zeitgenössischen Theatertexten verlangen nach einer kritischen Reflexion des wissenschaftlichen Analyse- und Theorievokabulars. Weiterhin gilt es zu ergründen, inwiefern die künstlerisch längst vollzogene Überwindung des Dualismus Dramatisch-Postdramatisch in aktuellen Theatertexten auch analytisch adäquat abgebildet werden kann.
Mit diesen Bestrebungen kann zum einen erreicht werden, dass die theoretische wie analytische Auseinandersetzung mit Texten für die Bühne und ihren generischen Eigenarten vorangetrieben wird, ohne dass vorrangig Aufführungskonventionen auf die literarischen Formen des Theaters angewendet werden. Dies ist nicht zuletzt deshalb von Interesse, da auf diese Weise neue Konzepte für die sprachlichen Dimensionen von Theater entworfen werden können. Andererseits lassen sich selbstkritisch auch die Grenzen methodischer Annäherungsversuche in den jeweiligen Fächern Literatur- und Theaterwissenschaft ausloten.
Zu den veränderten Bedingungen von Publikationsformaten
Eine Herausforderung für die wissenschaftliche Erforschung von Gegenwartsdramatik stellen ihre Publikationsformate dar. Dies zeigt sich etwa an visuellen Gestaltungsformen, die im Schriftbild neuer Theatertexte vermehrt auftreten, sich vorrangig an eine Fachleserschaft wenden und eine hierarchische Unterteilung von Haupt-, Neben- und Paratexten ad absurdum führen. Während ältere Theatertexte, etwa im Schulunterricht, gelesen werden, wird Gegenwartsdramatik kaum in gedruckter (Buch-)Form rezipiert, wobei sich neuerdings Buchpublikation von Dramatik wieder stärker vermerken lassen. Daher gilt es, einerseits die Publikationsformate der Stücktexte selbst und andererseits die Präsentationsweise, mit der diese wissenschaftlich aufbereitet werden, etwa in diesem Netzwerk, zu reflektieren.
Aus diesen Gründen ist die Begleitung von Autor*innen bei ihrer konkreten Textarbeit ein zentraler Punkt der Auseinandersetzung – betrachtet werden etwa Erstfassungen vor Probenbeginn und Premierenfassungen, die sich im Probenprozess entwickelt haben. Indem sowohl Fassungsvergleiche erstellt werden und somit der Einfluss von Dramaturgie, Schauspiel und Regie nachvollzogen wird, kann die Genese von Theatertexten, das heißt auch ihre Materialität und Medialität, praxisbegleitend abgebildet werden. Ziel ist es nicht nur, verschiedene Schriftfassungen exemplarisch vorzustellen, sondern in der Textbefragung auch andere Entscheidungsfaktoren, etwa Vorgespräche des Produktionsteams und Probenerkenntnisse miteinzubeziehen. So lässt sich nicht zuletzt fragen, wie sich interpretationstheoretische mit performanztheoretischen Perspektiven verbinden lassen, um den prozessualen Charakter der konkreten Textproduktion im Theaterbetrieb zu dokumentieren.
Literaturverzeichnis
Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt a. M. 1965.
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