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Literaturtheorien und Zukunft

Bestandsaufnahme – Aktualisierungen – Tendenzen1

In den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften ist seit geraumer Zeit ein gesteigertes Interesse an der Untersuchung des Zusammenlebens von Menschen und nichtmenschlichen Tieren, Pflanzen sowie anderen Lebewesen zu beobachten.2 Die Verhandlung – und Auflösung – von Grenzen rund um den Menschen und sein Dasein rückt in den Mittelpunkt, was eine den Menschen im planetarischen Gesamtgefüge dezentralisierende Perspektive erlaubt und in Texten die Betrachtung der ›agency‹3 anderer Lebensformen und Materie ermöglicht. Gleichzeitig eröffnet sich ein Spielraum für das Neu- und Andersdenken etablierter Kategorien. Durch ihre Nähe zu naturwissenschaftlichen Disziplinen ist neueren Forschungsfeldern (zum Beispiel Gender Studies, Queer Studies, Human-Animal Studies, Plant Studies, New Materialism, Post- und Transhumanismus, Ecocriticism) häufig ein interdisziplinärer Ansatz inhärent, der wiederum die Verwobenheit der Betrachtungsgegenstände zusätzlich hervorhebt.

Dennoch sind diese Überlegungen nicht von bisherigen theoretischen Bemühungen bzw. tradierten Literaturtheorien zu trennen. Diese neuen Impulse erfordern eine Neukartierung der Theorielandschaft, insbesondere mit Blick auf ein über bisherige Ansätze hinausgehendes theoretisches und methodisches Potential. Ein solches Vorgehen gewährleistet, dass zu den oben identifizierten Interessensschwerpunkten und Wahrnehmungsschemata adäquate Zugänge gefunden werden. Dabei soll explizit keine schlichte Amalgamierung bereits vorhandener Literaturtheorien und neuerer ›Studies‹ erzwungen werden. Vielmehr ist erstens zu hinterfragen, inwiefern die Forschungsfelder theoretische Implikationen erkennen lassen. Zweitens gilt es, ebenjene hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit auf die Forschungsgegenstände zu untersuchen. Drittens geht damit eine Reflexion häufig und langjährig angewandter bzw. ›etablierter‹ Literaturtheorien einher. Darunter fällt vorrangig die Evaluation der Übertragbarkeit auf weitere mediale Formen sowie historische und kulturelle Entstehungskontexte.

Forschungsvorhaben – Literaturtheorie und darüber hinaus

Angesichts der soeben angeführten Menge an ›Studies‹ und anderer im Entstehen begriffener Forschungsfelder, die das Hinterfragen bzw. die Überwindung des Anthropozentrismus4 gemein haben, ist zu fragen, ob die Auslöser für die Entwicklung solcher neuer Herangehensweisen identifizierbar sind. Zu benennen sind sicherlich Faktoren wie die Komplexitätszunahme der Lebenswelt, welche mit einem Überangebot an ständig verfügbaren Informationen einhergeht, sowie eine – je nach Lebensrealität mehr oder weniger ausgeprägte – Zukunftsskepsis bzw. ‑angst.5 Während auf der einen Seite ein Bedürfnis nach einfachen Erklärungen für schwierige Situationen zu existieren scheint, üben sich auf der anderen Seite Ansätze – darunter die oben aufgezählten – in Ambiguitätstoleranz6 und gehen mit Deutungsoffenheit prozessorientiert um. Parallel ist ein erhöhtes Aufkommen literarischer Texte zu verzeichnen, die ebendiese Phänomene – mehr oder weniger prominent – verhandeln.7

In Reaktion auf die zunehmende Relevanz der skizzierten Forschungsfelder im fachlichen Diskurs wurde an der Bergischen Universität Wuppertal innerhalb der Fachgruppen der Allgemeinen Literaturwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik sowie darüber hinaus eine interdisziplinär agierende Forschungsgruppe ins Leben gerufen. Unter der Überschrift ›More-than-Human Humanities‹ werden jene Forschungsfelder gebündelt, die sich mit der Dezentrierung des Menschen im Gesamtzusammenhang – im Sinne eines ›entanglement‹ – der Erde beschäftigen. Dabei gehen sie über die Betrachtung pflanzlicher sowie tierischer Lebewesen hinaus, indem sie zum Beispiel auch das Zusammenleben mit Mikroben in den Blick nehmen.8 Angesichts der Komplexität und zunehmenden Ausdifferenzierung der Forschungsfelder zeigt sich aus unserer Sicht die Notwendigkeit einer intensiveren und multiperspektivischen Beforschung, die an bereits geleistete Vorstudien anknüpft. Zu diesem Zweck ist die Einrichtung eines interinstitutionellen und internationalen Graduiertenkollegs in Vorbereitung.

Ziel ist die Beantwortung spezifischer Forschungsfragen, die im Folgenden detaillierter – wenn auch nicht erschöpfend – aufgezeigt werden:

- Es ist festzustellen, dass zur Erprobung der oben genannten Zugänge vorwiegend auf Gegenwartsliteratur zurückgegriffen wird. Dies legt die Anschlussfrage nahe, ob die Herangehensweisen in ihrer momentanen Form nutzbringend für die Untersuchung von Texten anderer Art sind – seien sie unterschiedlicher historischer, kultureller oder medialer Ausprägung – oder inwiefern sie modifiziert werden müssten, damit sie für einen breiteren Gegenstandsbereich fruchtbar gemacht werden können.

- Die Autor*innen dieses Beitrags verwenden den Arbeitsbegriff ›Forschungsfelder‹ zur Bezeichnung der dargestellten Ansätze. Zu klären ist, ob es einen präziseren Begriff gibt, der sich anbietet, um die genannten Ansätze zu bündeln, oder ob unterschiedliche Bezeichnungen nötig sind, um einzelne Elemente – zum Beispiel gesellschaftspolitische Anliegen, philosophische Ansätze oder methodische Fragen– zu benennen.

- An die beiden vorangehenden Überlegungen schließen sich Fragen nach dem theoretischen Gehalt und Potential der Forschungsfelder an: Dazu gehört erstens eine eingehende Bestandsaufnahme derjenigen Literaturtheorien, derer sich die Forschungsfelder bedienen. Zweitens ist zu klären, inwiefern die Forschungsfelder über ›etablierte‹ Literaturtheorien hinaus eine Theoretisierung der zu betrachtenden Gegenstände leisten. Drittens wird eine Sondierung und Schärfung des (Literatur-)Theoriebegriffs angestrebt, um der zunehmenden Aufweichung desselben entgegenzuwirken.9 Anders gesagt: Im Anschluss an die Feststellung, dass die genannten Forschungsfelder neue(re) Herangehensweisen mit sich bringen, ist zu erörtern, wie sie sich ›etablierten‹ literaturtheoretischen Ansätzen gegenüber verhalten. Ist es gerechtfertigt, sie alleinstehend anzuwenden, oder sind ›etablierte‹ Ansätze weiterhin notwendig, um Analyseergebnisse zu erzielen? Welche Wechselverhältnisse sind zu beobachten?

- Es ist – beispielsweise im Rahmen von detaillierten Fallstudien – zu untersuchen, welches Potential Literatur im Gesamtkontext der dargestellten Forschungsfelder in Bezug auf Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbewältigung besitzt. Neben textanalytischen Arbeiten, die sich auf Inhalt und Struktur konzentrieren, und der Auseinandersetzung mit theoriefokussierten Fragestellungen geht es letztlich darum, das Selbstverständnis der Humanities vor dem Hintergrund der genannten Forschungsfelder auf den Prüfstand zu stellen.

Literaturverzeichnis

ANDERSEN, Gregers: Climate Fiction and Cultural Analysis. A New Perspective on Life in the Anthropocene. London u. a. 2021.

BAUER, Thomas: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. 2., durchges. Aufl. Stuttgart 2018.

BENNETT, Jane: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things. Durham 2010.

BÜHLER, Benjamin: Ecocriticism. Grundlagen – Theorien – Interpretationen. Stuttgart 2016.

CULLER, Jonathan: Literaturtheorie. Eine sehr kurze Einführung. 2., überarb. u. aktual. Aufl. Stuttgart 2013.

DELHEY, Jan u. Christiane Lübke: »Sorgen und Ängste in soziologischen Gegenwartsdiagnosen. Eine kritische Bestandsaufnahme«. In: Dies. (Hg.): Diagnose Angstgesellschaft? Was wir wirklich über die Gefühlslage der Menschen wissen. Bielefeld 2019, S. 9–28.

VAN DOOREN, Thom, Eben Kirskey u. Ursula Münster: »Multispecies Studies. Cultivating Arts of Attentiveness«. In: Environmental Humanities 8.1 (2016), S. 1–23.

GOODBODY, Axel u. Adeline Johns-Putra (Hg.): Cli-Fi. A Companion. Oxford 2019.

HOFER, Stefan: Die Ökologie der Literatur. Eine systemtheoretische Annäherung. Mit einer Studie zu Werken Peter Handkes. Bielefeld 2007.

LOH, Janina: Trans- und Posthumanismus zur Einführung. 2., überarb. Aufl. Hamburg 2019.

MEIFERT-MENHARD, Felicitas: »A Non-Narratable Future? Narrating Climate Change in Contemporary Forms of Storytelling«. In: Diegesis 9.1 (2020), S. 52–67.

TISCHLEDER, Babette B.: »Introduction«. In: Birgit Spengler u. dies. (Hg.): An Eclectic Bestiary: Encounters in a More-than-Human World. Bielefeld 2019, S. 11–30.

  • 1. Prof. Dr. Ursula Kocher (Allgemeine Literaturwissenschaft, Bergische Universität Wuppertal) und Prof. Dr. Birgit Spengler (Amerikanistik, Bergische Universität Wuppertal) haben die Forschungsgruppe ›More-than-Human Humanities‹ gegründet, deren Gespräche in diesem Beitrag weiterführend diskutiert werden. Sie bilden somit den Ausgangspunkt für die hier skizzierten Überlegungen. In Zusammenhang mit der Forschungsgruppe steht weiterhin das Forschungsvorhaben mit dem Titel Arts & Futures unter gleicher Leitung. Vgl. zur Zusammensetzung und inhaltlichen Ausrichtung https://www.zgs.uni-wuppertal.de/de/initiativen-promovierender/arbeitsgr... (zuletzt eingesehen am 10. April 2023).
  • 2. Vgl. Thom van Dooren, Eben Kirskey u. Ursula Münster: »Multispecies Studies. Cultivating Arts of Attentiveness«. In: Environmental Humanities 8.1 (2016), S. 1–23.
  • 3. Vgl. zum Konzept der ›agency‹ Jane Bennett: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things. Durham 2010.
  • 4. Vgl. Janina Loh: Trans- und Posthumanismus zur Einführung. 2., überarb. Aufl. Hamburg 2019, S. 143.
  • 5. Vgl. dazu etwa Jan Delhey u. Christiane Lübke: »Sorgen und Ängste in soziologischen Gegenwartsdiagnosen. Eine kritische Bestandsaufnahme«. In: Dies. (Hg.): Diagnose Angstgesellschaft? Was wir wirklich über die Gefühlslage der Menschen wissen. Bielefeld 2019, S. 9–28, hier S. 13.
  • 6. Vgl. hierzu Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. 2., durchges. Aufl. Stuttgart 2018, S. 16.
  • 7. So lassen sich etwa vermehrt literarische Neuerscheinungen unter dem Begriff Social bzw. Climate Fiction verzeichnen, die sich (mitunter im weitesten Sinne) mit dem Klimawandel und seinen Folgen auseinandersetzen. Vgl. Gregers Andersen: Climate Fiction and Cultural Analysis. A New Perspective on Life in the Anthropocene. London u. a. 2021. Abgesehen von den elementaren Entwicklungen stehen dabei gesellschaftliche, wissenschaftliche, emotionale und ethische Prozesse im Vordergrund. Vgl. Axel Goodbody u. Adeline Johns-Putra (Hg.): Cli-Fi. A Companion. Oxford 2019. Die Interkonnektivität all dieser Aspekte macht nicht nur den Klimawandel zu einem hochkomplexen Phänomen, sondern erfordert auch von einer angemessenen literarischen Aufarbeitung die Anerkennung dieses »hyperdimensional, open-ended, and multi-linear temporal development«, Felicitas Meifert-Menhard: »A Non-Narratable Future? Narrating Climate Change in Contemporary Forms of Storytelling«. In: Diegesis 9.1 (2020), S. 52–67, hier S. 52.
  • 8. Vgl. Babette B. Tischleder: »Introduction«. In: Birgit Spengler u. dies. (Hg.): An Eclectic Bestiary: Encounters in a More-than-Human World. Bielefeld 2019, S. 11–30.
  • 9. Vgl. dazu die allgemeine und nicht auf die aufgezählten Forschungsfelder bezogenen Diagnose von Jonathan Culler: »Der Begriff ›Theorie‹ hat sich einfach als bequemste Bezeichnung für eine solche Mischgattung erwiesen, und zwar als Etikett für all jene Schriften, denen es gelingt, das Denken auf anderen, offenbar auch wesensfremden Feldern herauszufordern und in neue Bahnen zu lenken.« Culler nennt diese Aufweichung des Theoriebegriffs allerdings selbst »unbefriedigend«, Jonathan Culler: Literaturtheorie. Eine sehr kurze Einführung. 2., überarb. u. aktual. Aufl. Stuttgart 2013, S. 12. Arbeiten aus dem Forschungsfeld Ecocriticism attestieren Stefan Hofer und Benjamin Bühler etwa eine ›Theorie-Abstinenz‹. Vgl. dazu ausführlicher Stefan Hofer: Die Ökologie der Literatur. Eine systemtheoretische Annäherung. Mit einer Studie zu Werken Peter Handkes. Bielefeld 2007, S. 86–97; Benjamin Bühler: Ecocriticism. Grundlagen – Theorien – Interpretationen. Stuttgart 2016, S. 54f.

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