Laura
Kinzig
Göttingen

Konturen einer literarischen Hermeneutik

Wie können die ästhetischen Eigenschaften literarischer Werke mithilfe einer hermeneutischen Methode erfasst und wertgeschätzt werden? Dieser Frage widmet sich meine Dissertation, die die Konturen einer literarischen Hermeneutik zeichnet. Das Projekt knüpft an die Schriften Peter Szondis an, der Folgendes forderte:

Sprechen wir von literarischer Hermeneutik statt von philologischer, so nicht zuletzt darum, weil die Auslegungslehre, die wir im Sinn haben, von der überlieferten Hermeneutik der Klassischen Philologie sich darin wird unterscheiden müssen, daß sie den ästhetischen Charakter der auszulegenden Texte nicht erst in einer Würdigung, die auf die Auslegung folgt, berücksichtigt, sondern zur Prämisse der Auslegung selbst macht. D. h.: die traditionellen Regeln und Kriterien der philologischen Hermeneutik müssen im Lichte des heutigen Dichtungsverständnisses revidiert werden.1 

Die literarische Hermeneutik, die Szondi vor Augen hatte, ist bis heute Fragment geblieben; entsprechend ist auch seine Idee dessen, was den ästhetischen Charakter literarischer Werke genau ausmachen kann, nicht ausgearbeitet. Allerdings wurden auf dem Gebiet der analytischen Ästhetik – insbesondere von Peter Lamarque und Stein Haugom Olsen – handfeste Vorschläge dafür gemacht, welche ästhetischen Eigenschaften literarische Werke typischerweise aufweisen können und wie Lesende den Texten begegnen sollten, um diese zu erfassen und wertzuschätzen.2 

In meiner Dissertation verbinde ich die Traditionen der Hermeneutik nach Szondi und Schleiermacher mit der Tradition der analytischen Ästhetik nach Lamarque und Olsen. Obgleich diese beiden Forschungsrichtungen für gewöhnlich getrennt voneinander arbeiten, weisen sie im Hinblick auf ihre Prämissen und Zielsetzungen einige Gemeinsamkeiten auf, die für die angestrebte Methode fruchtbar gemacht werden können.

Der ästhetische Charakter literarischer Werke lässt sich als das Zusammenspiel von Form und Inhalt im Hinblick auf den Text als Ganzes definieren.3 Jenes Zusammenspiel ist im Idealfall vom Autor so angelegt, dass es Lesende dazu einlädt, auf einer tieferen Ebene mit dem Text zu interagieren und verschiedene Perspektiven gegenüber den behandelten Themen einzunehmen. Ästhetische Merkmale können beispielsweise die Sprachverwendung, die narrative Struktur, die Komplexität, die Kohärenz oder das Spannungspotential des Textes betreffen.4 Die zentrale Aufgabe der Lesenden ist es, auf intersubjektiv nachvollziehbare Weise aufzuzeigen, welche ästhetischen Merkmale in einem Text bedeutsam sind. Ein Merkmal des Textes kann als ästhetisch relevant gelten, wenn der Lesende benennen kann, welche ästhetische Funktion das betreffende Merkmal im Text erfüllt – also beispielsweise erklären kann, wie ein Erzählerkommentar die Haltung der Lesenden in einer Kurzgeschichte lenkt oder wie der antithetische Aufbau eines Sonetts es erleichtert, einer bestimmten Aussage Nachdruck zu verleihen.

Den ästhetischen Charakter literarischer Texte in Nachfolge Szondis zur Prämisse der Auslegung zu machen, heißt mit anderen Worten, davon auszugehen, dass der Autor bestimmte ästhetische Absichten mit seinem Werk verfolgte, und vorübergehend anzunehmen, dass es dem Autor gelungen ist, diese Absichten in seinem Werk so umzusetzen, dass sie für Lesende erkennbar werden. Szondi schreibt deshalb auch, die Textuntersuchung sei eine »Analyse des Gelingens oder Nicht-Gelingens«.5 

Beim Wertschätzen der ästhetischen Eigenschaften geht es nicht um den Ausdruck eines subjektiven Geschmacksurteils, das nicht mehr wäre als der »Rechenschaftsbericht eines Literaturgenießenden«6; es geht um das methodisch strukturierte, literaturwissenschaftlich fundierte Herausarbeiten dieser ästhetischen Eigenschaften, die sich am Text belegen und intersubjektiv nachvollziehen lassen.

Ein wertschätzendes Verstehen, das die Traditionen der Hermeneutik und der analytischen Ästhetik zusammendenkt, umfasst drei zentrale Aspekte. Es fordert Lesende dazu auf, a) dem Text mit einer wohlwollenden Haltung zu begegnen und ihn mit der Erwartung zu lesen, ein gelungenes Werk vorzufinden sowie eine lohnenswerte Lektüreerfahrung zu machen, b) die ästhetisch bedeutsamen Merkmale des Werkes herauszuarbeiten und zu diesem Zweck zu untersuchen, wie Form und Inhalt zusammenspielen, und c) dieses Zusammenspiel für andere Lesende in nachvollziehbarer Weise herauszustellen und einzuordnen, inwieweit und auf welche Weise das Werk als ästhetisch gelungen erscheint.

Einordnung und Relevanz des Projekts

Ein Blick in die Forschung zeigt, dass es bislang noch keine Methode gibt, die es Lesenden ermöglicht, den ästhetischen Charakter literarischer Werke mithilfe hermeneutischer und ästhetischer Ansätze strukturiert zu erschließen und wertzuschätzen. Die angestrebte Methode ist aus verschiedenen Gründen von Interesse für die Literaturwissenschaft:

1. Eine literarische Hermeneutik als Methodenlehre ermöglicht einen strukturierten Zugang zu literarischen Werken und befähigt zum Anfertigen angemessener, reflektierter und intersubjektiv nachvollziehbarer Textanalysen.

2. Das Projekt fragt gezielt nach den Erträgen hermeneutischer und ästhetischer Theorie für das Auslegen und Wertschätzen literarischer Werke. Es deckt Gemeinsamkeiten von Hermeneutik und analytischer Ästhetik auf und kombiniert die jeweiligen Stärken bereits bestehender Ansätze.

3. Die Methode versucht, den spezifischen Anforderungen literarischer Werke gerecht zu werden, indem sie nicht nur den Kontext des Werkes berücksichtigt, sondern sich um das Erfassen des ästhetischen Charakters bemüht, der für das Verstehen literarischer Werke in besonderem Maße von Bedeutung ist.

Szondi ging es darum, eine spezifisch literarische Hermeneutik zu schaffen. Die vergleichsweise geringe Rezeption seiner hermeneutischen Schriften lässt sich eventuell dadurch erklären, dass die letzte größere Beschäftigung mit der Hermeneutik in der Literaturwissenschaft im Rahmen der Rezeptionsästhetik der 1970er Jahre stattfand, die andere Ziele als Szondi verfolgte. So ging es Hans Robert Jauß in der Tradition Gadamers um die Rezeption eines Autors in historischer Perspektive, und Wolfgang Iser untersuchte das Wirkungspotential literarischer Texte aus phänomenologischer Sicht. Darüber hinaus nahm die Bedeutung der Hermeneutik als Methodenlehre spätestens in den 1980er Jahren auch deshalb ab, weil in dieser Zeit poststrukturalistische Ansätze wie Diskurstheorie, Dekonstruktion und Systemtheorie groß wurden, die entschieden antihermeneutisch agierten. 

Neuere Entwicklungen in der Interpretationstheorie zeigen jedoch deutlich, dass sowohl die analytische Ästhetik als auch die Hermeneutik eine große Relevanz aufweisen. Die aktuelle interpretationstheoretische Debatte wird in erster Linie von der analytischen Ästhetik dominiert, und daneben zeichnet sich eine stärkere Rückbesinnung auf die Bedeutung von hermeneutischen Verfahren für das Erfassen und Auslegen literarischer Texte ab.7 Zuletzt haben die zahlreichen Antworten auf den Call for Papers zum Thema »Hermeneutik heute?« in der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik von 2020/21 deutlich gezeigt, dass die Relevanz der Hermeneutik als Methodenlehre, die ihre eigenen Prämissen und Verfahrensweisen stets kritisch zu reflektieren versucht und Standards und Kriterien für gelungene Textinterpretationen entwickelt, erkannt und geschätzt wird.8 

Eine spezifisch literarische Hermeneutik steht dennoch nach wie vor aus, sofern damit eine Methodenlehre gemeint ist, die zeigen kann, was das Verstehen literarischer Texte vom Verstehen anderer Textarten unterscheidet bzw. welchen Anforderungen es genügen muss. Die Untersuchung der ästhetischen Eigenschaften literarischer Werke bietet dafür einen Ansatzpunkt.

Literaturverzeichnis

BLEUMER, Hartmut u. a.: »Hermeneutik heute? – Ein Call der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik zur Krise des Textverstehens«. In: Zeitschrift für Literaturwissenshaft und Linguistik 50 (2020), S. 559–562. DOI: 10.1007/s41244-021-00196-1.

CULLER, Jonathan D.: Literary Theory: A Very Short Introduction. Oxford u. a. 2000.

DETEL, Wolfgang: Hermeneutik der Literatur und Theorie des Geistes. Exemplarische Interpretationen poetischer Texte. Frankfurt a. M. 2015.

GEISENHANSLÜKE, Achim: Der feste Buchstabe. Studien zur Hermeneutik, Psychoanalyse und Literatur. Bielefeld 2021.

KLAUK, Tobias, Niels Klenner u. Tilmann Köppe: »Literarische – Hermeneutik – Verstehen«. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 51 (2021), S. 797–806. DOI: 10.1007/s41244-021-00221-3.

KURZ, Gerhard: Hermeneutische Künste. Die Praxis der Interpretation. Stuttgart 2018.

LAMARQUE, Peter: The Philosophy of Literature. Malden u. a. 2009.

LAMARQUE, Peter u. Olsen, Stein H.: Truth, Fiction, and Literature. Oxford 1994.

Olsen, Stein H.: The Structure of Literary Understanding. Cambridge u. a. 1978.

SZONDI, Peter: »Einführung in die literarische Hermeneutik«. In: Jean Bollack u. Helen Stierlin (Hg.): Einführung in die literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M. 1975, S. 7–191.

SZONDI, Peter: »Intention und Gehalt«. In: Jean Bollack u. a. (Hg.): Schriften II. Frankfurt a. M. 1978, S. 266–272.

SZONDI, Peter: »Schleiermachers Hermeneutik heute«. In: Jean Bollack u. a. (Hg.): Schriften II. Frankfurt a. M. 1978, S. 106–130.

TEPE, Peter: Kognitve Hermeneutik. Textwissenschaft ist als Erfahrungswissenschaft möglich. Würzburg 2007.

  • 1. Peter Szondi: »Einführung in die literarische Hermeneutik«. In: Jean Bollack u. Helen Stierlin (Hg.): Einführung in die literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M. 1975, S. 7–191, hier S. 13.
  • 2. Vgl. etwa Peter Lamarque: The Philosophy of Literature. Malden u. a. 2009; Peter Lamarque u. Stein H. Olsen: Truth, Fiction, and Literature. Oxford 1994; Stein H. Olsen: The Structure of Literary Understanding. Cambridge u. a. 1978.
  • 3. Vgl. Jonathan D. Culler: Literary Theory: A Very Short Introduction. Oxford u. a. 2000, S. 33.
  • 4. Vgl. Tobias Klauk, Niels Klenner u. Tilmann Köppe: »Literarische – Hermeneutik – Verstehen«. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 51 (2021), S. 797–806, hier S. 799. DOI: 10.1007/s41244-021-00221-3.
  • 5. Peter Szondi: »Intention und Gehalt«. In: Jean Bollack u. a. (Hg.): Schriften II. Frankfurt a. M. 1978, S. 266–272, hier S. 267.
  • 6. Peter Szondi: »Schleiermachers Hermeneutik heute«. In: Jean Bollack u. a. (Hg.): Schriften II. Frankfurt a. M. 1978, S. 106–130, hier S. 109.
  • 7. Siehe etwa Peter Tepe: Kognitve Hermeneutik. Textwissenschaft ist als Erfahrungswissenschaft möglich. Würzburg 2007; Wolfgang Detel: Hermeneutik der Literatur und Theorie des Geistes. Exemplarische Interpretationen poetischer Texte. Frankfurt a. M. 2015; Achim Geisenhanslüke: Der feste Buchstabe. Studien zur Hermeneutik, Psychoanalyse und Literatur. Bielefeld 2021; Gerhard Kurz: Hermeneutische Künste. Die Praxis der Interpretation. Stuttgart 2018.
  • 8. Vgl. Hartmut Bleumer u.  a.: »Hermeneutik heute? – Ein Call der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik zur Krise des Textverstehens«. In: Zeitschrift für Literaturwissenshaft und Linguistik 50 (2020), S. 559–562. DOI: 10.1007/s41244-021-00196-1.

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