Digital Journal for Philology
Was ist Literatur wert?
Wissensgeltung als interdisziplinäres Forschungsthema
Auch wenn sich ein breiter gesellschaftlicher Diskurs über den prekären Status von Faktizität und Evidenz in der jüngeren Vergangenheit verschärft hat, stellt die Instabilität und Wandelbarkeit von Wissen für jede menschliche Zivilisation ein zentrales Charakteristikum dar. Diesem Problembereich um die Geltung von Beschreibungen von erfahrbarer Welt mit Anspruch auf intersubjektive Akzeptanz widmet sich an der Universität Heidelberg seit 2020 das Thematic Research Network »Wissensgeltung« aus interdisziplinärer Perspektive.1 Zentrale Fragen, die die Forschungsinteressen aus Geschichts-, Literatur-, Regional- und Sozialwissenschaften zusammenbinden, sind: Welche Bedingungen und Mechanismen sind relevant für die Akzeptanz oder Ablehnung von Wissensansprüchen? Wie erlangen Wissensansprüche auch über historische, kulturelle oder symbolische Grenzen hinweg Geltung?
Das Netzwerk hat sich über diese Forschungsinteressen und durch verschiedene Arbeitsformate und öffentliche Veranstaltungen als produktiver Verbund etabliert und konkrete Forschungsfelder erschlossen.2 Ausgehend von wissenshistorischen und -soziologischen Konzepten sucht das Netzwerk entgegen einem gängigen Fokus auf das Wissen der Natur- und Technikwissenschaften eine kritische Erweiterung sowohl auf geistes- und sozialwissenschaftliches Wissen als auch besonders auf nichtwissenschaftliche Wissenssphären wie Literatur, Kunst, Politik, Religion, Recht oder auch populäre medizinische Heilkunst, in denen sowohl spezifisches Wissen entsteht als auch mit Wissen aus vormals anderen Kontexten umgegangen wird. Daneben dienen Themen wie Gender, Ungleichheit, Macht, Fortschritt oder auch Ökologie als Verbindungsglieder für interdisziplinäre Debatten. Das Netzwerk nimmt dabei die Welt der Neuzeit seit etwa 1500 bis heute in den Blick, weil hier eine Pluralisierung und Verbreitung von Wissen im globalen Maßstab und damit einhergehende Geltungskonflikte in besonderem Maße zugenommen haben. Dieser Zuschnitt ist auch begründet in einem dezidierten Interesse an globalhistorischen und transkulturellen Zugängen zu Konkurrenz und Hybridisierung von ›altem‹ und ›neuem‹ oder auch ›eigenem‹ und ›fremdem‹ Wissen in einem globalen Kontext.
Langfristig strebt der Verbund so eine globalhistorisch ausgerichtete Theorie der Wissensgeltung an, die der sprachlichen, medialen und materialen Verfasstheit von Wissensansprüchen und deren Diskussion gerecht wird. In vergleichender Perspektive werden dafür Geltungsprozesse in unterschiedlichen Weltregionen und symbolischen Sphären untersucht. Um die epistemische Relevanz von medialen (textuellen, visuellen, numerischen) Bedingungen systematisch an empirischem Material zu erschließen, folgt das Netzwerk einer wissensphilologischen Perspektive, d. h. einer Herangehensweise, die philologische und insbesondere (etwa auch bild-)hermeneutische Methoden systematisch in die Wissensforschung integriert und dort kritische Entwicklungen ermöglicht.
Die folgende Skizze steckt den grundlegenden methodischen und theoretischen Rahmen des Verbundes ab, um eine Diskussion über Schnittstellen und Abgrenzungen mit gegenwärtigen literaturtheoretischen Forschungsprojekten zu eröffnen. Entlang zentraler Begriffe und Konzepte des Netzwerkes stelle ich Aspekte meines laufenden Forschungsprojektes vor, das über einen wissens-, bewertungs- und kunstsoziologischen Zugang Anschluss für literaturtheoretische Forschung bietet.3 Das Projekt widmet sich dem pluralen, teilweise widersprüchlichen oder gar inkommensurablen Wissen über zeitgenössische Künste mit einem besonderen Fokus auf das Verhältnis von Autonomie und gesellschaftlichem Gebrauch der Künste. Hierfür habe ich in einer Fallstudie literaturkritische Texte nach pluralen Werturteilen und entsprechenden Rechtfertigungsordnungen untersucht.4 Empirisches Material wurde dabei ausgehend von der Frage analysiert, wofür Literatur eigentlich gut sei.
Geltungskulturen der Literaturkritik
Im Unterschied zu Fragen nach Gültigkeit oder ahistorischer Wahrheit befasst sich die Erforschung von Geltung mit gesellschaftlicher Akzeptanz von Wissensansprüchen und dafür relevanten Kontexten. Zu erklären ist dann, warum bestimmte Wissensansprüche mit ganz unterschiedlichem Geltungsansprüchen und Gegenstandsbereichen in bestimmten Situationen akzeptiert sind (oder nicht) und mit welchen Mitteln und Mechanismen dieser Status erreicht, gesichert oder gestört wird. Den zentralen Untersuchungsgegenstand solcher Fragen bezeichnen wir als Geltungskulturen. In diesen historisch und sozial eingebetteten Kontexten wird die Geltung von Wissensansprüchen verhandelt. Relevant für eine Geltungskultur sind grundlegend Akteurstypen und -konstellationen innerhalb symbolischer Ordnungen entlang von Vertrauen, Autorität, Macht oder Reputation. Außerdem beeinflussen darüber hinaus epistemologische und sprachliche Konventionen, räumliche Settings, Ressourcenverteilung und medientechnologische Bedingungen die Durchsetzung und Ablehnung von Wissensansprüchen.
In einer Studie zu Werturteilen über Literatur ist etwa die Bourdieu’sche Feldtheorie instruktiv, um grundlegend relationale Akteurspositionen und symbolische Kapitalakkumulationen zu erschließen. So kann identifiziert werden, wer in einer historischen Situation mit welchen Mitteln Deutungsmacht erlangt hat oder anstrebt – unabhängig von etwaiger Validität oder Evidenz bestimmter Aussagen. Ergänzt durch vergleichende Soziologien der Wertung und Bewertung5 und globalisierungstheoretische Weiterentwicklungen6 werden so die komplexen sozialen Ökologien von zahlreichen autonomen Sphären, Geltungskulturen oder spezialisierten Professionen erfassbar, in denen künstlerische Konsekrationsinstanzen navigieren müssen, um ihre Wissensansprüche sichtbar zu machen und gegebenenfalls zu behaupten. Eine Geltungskultur der zeitgenössischen Kritik nimmt nicht zuletzt Form an durch zahlreiche epistemische und soziale Unsicherheiten,7 durch unterschiedlich funktionierende Feldebenen (lokal, regional, global), durch das institutionelle Feld der Kritik,8 durch unterschiedliche Werträume (journalistische Neuheit, kulturpolitische Förderung, ästhetische und literaturhistorische Kriterien oder ausdifferenzierte Märkte neben anderen) und nicht zuletzt den Gegenstand der Literatur selbst.9
Dieser breitere epistemische und soziale Kontext einer Geltungskultur verdichtet sich in konkreten epistemischen Situationen. In diesen zeitlich-räumlich eingrenzbaren Rahmen werden Geltungskonflikte ausgetragen, indem Akteure mit unterschiedlichen Mitteln um die Durchsetzung oder Ablehnung von Wissen ringen.10 In diesen Situationen aktualisieren sich somit auf spezifische Weise allgemeinere Strukturen und Mechanismen von Geltungskulturen. Besonders instruktiv sind Geltungskonflikte, die nicht problemlos gelöst werden, sondern die auf die Instabilität von Wissen und die Wandelbarkeit von Geltungskulturen verweisen. Hierzu gehören dann Situationen, in denen neue Geltungsinstanzen auftreten, in denen marginalisierte Positionen sich Gehör verschaffen, in denen hegemoniales Wissen seine Akzeptanz einbüßt oder in denen geltende Wissensansprüche über räumliche, sprachliche, kulturelle und zeitliche Distanz hinweg auf neue Geltungskulturen treffen.
In einer Studie zu Literaturkritik entstehen solche Situationen in unterschiedlichen Stufen von kritischen Beobachtungen von Tagespresse über den essayistischen Expert*innendiskurs bis zur akademischen Einordnung.11 Während literatursoziologische Forschung die langwierigen Prozesse der Produktion und Wertzuschreibung von Literatur immer besser aufschlüsselt,12 bietet etwa die Veröffentlichung eines Romans einen unmittelbaren Nexus für eine spezifische epistemische Situation. Wenn beispielsweise binnen einer Woche nach Veröffentlichung über 20 ausführliche Besprechungen im deutschsprachigen Feuilleton erscheinen (wie im Sample meiner Fallstudie zu Michel Houellebecqs Vernichten [orig. Anéantir] (2022)), so sind nicht nur die zeitlichen und räumlichen Grenzen relativ klar zu ziehen, sondern die zentrale Frage nach dem Wert eines Kunstwerks bietet auch ein Gravitationszentrum für Diskussionen um die Geltung von Wissen über Wert.
Ein wissensphilologischer Zugriff auf epistemische Situationen innerhalb von Geltungskulturen folgt der Annahme, dass die mediale Gestalt von Wissensansprüchen und ihrer Diskussion ein elementarer Faktor von Wissensgeltung ist. Hier sind etwa Rhetorizität, Semantik, Ikonografie, Narrativität, Darstellungs- und Genrekonventionen oder intermediale
Arrangements (bildlich, sprachlich, numerisch) in Argumentationen zentral, weshalb epistemische Situationen sich durch hermeneutische sowie text- und bildanalytische Zugriffe empirisch erschließen lassen.
In empirischen Studien zur gesellschaftlichen Rolle von Kunst operationalisiere ich dieses methodische Vorgehen über eine konkrete Frage an empirisches Material: Wofür ist Literatur gut? In einer Kombination von differenzierungstheoretischen Konzepten der Autonomie von Kunst (Luhmann, Bourdieu), pragmatischer Soziologie der Kritik13 und qualitativen Textanalysen kann so die Komplexität von Geltungskulturen rekonstruiert werden. Einerseits kann ich genuin kunstspezifische, d. h. ästhetische und literaturhistorische Urteile und entsprechende Bewertungskriterien nachweisen. Andererseits werden in den Kritiken aber auch ganz andere Werträume referenziert und entsprechende Urteile ausgesprochen. Dabei geht es um die Rollen von Literatur als intellektuelle Stimme in der öffentlichen Debatte, von Literatur als instrumentellem Handwerk, von Literatur als Unterhaltung, von Literatur als Carearbeit, von Literatur als staatbürgerlicher Ideologie oder von Literatur als Ware. In der analytischen Rekonstruktion fällt auf, dass dabei nicht einfach eine l’art pour l’art gegen ›externe‹ Bewertungen aus »hostile worlds«14 in Stellung gebracht wird, sondern dass erst die Kombination von verschiedenen Werturteilen, die alle mit Gemeinwohlvorstellungen in Beziehung stehen,15 ein Expert*innenurteil über die Qualität und Relevanz von Literatur als Kunst sinnvoll macht. Literatur sei dann laut der Literaturkritik meiner Studie zu Vielem gut, aber all diese gesellschaftlichen Leistungen seien nur über den Weg der autonomen Kunst und der genauen Beobachtung durch die Literaturkritik zu haben. Geltung erfährt ein Urteil nicht durch ein schlichtes Pochen auf Autonomie oder Autorität der Kritik, sondern durch ein flexibles Verknüpfen und synchrones Referenzieren von pluralen Werträumen. Diese Werträume unterliegen jeweils, das zeigt eine Analyse der semantischen und argumentativen Struktur, ganz unterschiedlichen Geltungsmechanismen.
Literaturverzeichnis
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- 1. Das Netzwerk geht auf eine Initiative von Andrea Albrecht, Sylvia Brockstieger, Stefanie Gänger, Joachim Kurtz, Günter Leypoldt, Nele Schneidereit und dem heutigen Sprecher des Netzwerks, Dirk Werle, zurück.
- 2. Zu Aktivitäten siehe https://wissensgeltung.hypotheses.org.
- 3. Erste Veröffentlichungen aus diesem Projekt sind: Paul Buckermann: »Die Welten der documenta. Wissen über und durch Weltereignisse der Kunst«. In: Ders. (Hg.): Die Welten der documenta. Wissen und Geltung eines Großereignisses in der Kunst. Weilerswist 2022, S. 7–22; Paul Buckermann: »The ArtReview’s Power 100: On the concept and the constitution of power in contemporary art«. In: Lisa Gaupp, Alenka Barber-Kersovan u. Volker Kirchberg (Hg.): Arts and power. Wiesbaden 2022, S. 57–72; Paul Buckermann: »Wofür ist Literatur gut?Rechtfertigungspluralität und Grenzarbeit in Literaturkritik zu Michel Houellebecqs Anéantir«. In: David-Christopher Assmann (Hg.): Luc Boltanski und die Literatursoziologie. Wiesbaden 2023 [im Erscheinen]; Paul Buckermann: »Art museums and contradicting ecologies: Worldviews and boundary work«. In: Artis Observatio. Allgemeine Zeitschrift für Kunstsoziologie und Soziologie der Künste 2.1 (2023), S. 7–33.
- 4. Vgl. Buckermann: »Wofür ist Literatur gut?«.
- 5. Vgl. Michèle Lamont: »Toward a comparative sociology of valuation and evaluation«. In: Annual Review of Sociology 38.1 (2012), S. 201–221; Stefan Beljean, Philippa Chong u. Michèle Lamont: »A post-Bourdieusian sociology of valuation and evaluation for the field of cultural production«. In: Laurie Hanquinet u. Mike Savage (Hg.): Routledge International Handbook of the Sociology of Art and Culture. New York 2016, S. 38–48.
- 6. Vgl. Larissa Buchholz: The global rules of art. The emergence and divisions of a cultural world economy. Princeton 2022.
- 7. Vgl. Phillipa Chong: Inside the critics’ circle. Book reviewing in uncertain times. Princeton 2020.
- 8. Vgl. Susanne Janssen: »Reviewing as social practice: Institutional constraints on critics’ attention for contemporary fiction«. In: Poetics 24.5 (1997), S. 275–297.
- 9. Vgl. Álvaro Santana-Acuña: »Reviewing strategies and the normalization of uncertain texts«. In: American Journal of Cultural Sociology 9.2 (2021), S. 269–292.
- 10. Vgl. Andrea Albrecht u. a.: »Zum Konzept Historischer Epistemologie«. In: Scientia Poetica 20.1 (2016), S. 137–165.
- 11. Vgl. Cees van Rees: »How a literacy work becomes a masterpiece. On the threefold selection practiced by literary criticism«. In: Poetics 12.4–5 (1983), S. 397–417.
- 12. Vgl. Clayton Childress: Under the cover: The creation, production, and reception of a novel. Princeton 2017; Alvaro Santana-Acuña: Ascent to glory. How ›One Hundred Years of Solitude‹ was written and became a global classic. New York 2020.
- 13. Vgl. Luc Boltanski u. Laurent Thévenot: Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft. Hamburg 2007; Luc Boltanski: Soziologie und Sozialkritik. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2008. Berlin 2010.
- 14. Olav Velthuis: Talking prices: Symbolic meanings of prices on the market for contemporary art. Princeton 2005
- 15. Vgl. Boltanski u. Thévenot: Über die Rechtfertigung.
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