Digital Journal for Philology
Populäre Vermittlungswege mittelhochdeutscher Texte
Wer mit dem Stoff des um 1200 kodifizierten Nibelungenliedes vertraut ist,1 dem leuchtet es zunächst ein, dass es in Worms seit 2001 ein Nibelungenmuseum gibt,2 denn 24 der 39 Âventiuren des Textes spielen ganz überwiegend »[z]e Wormeze bî dem Rîne« (Nibelungenlied, 4,1). Doch so plausibel die Verzahnung von topographischem Ort und »historischem« Nibelungenlied erscheint, stellt sich dennoch die Frage, was ein Nibelungenmuseum dort ausstellen kann.3 Denn das Museum verfügt über keine Archivalien, das heißt keine der Originalhandschriften befindet sich in Worms. Man findet im Museum keine biographischen Artefakte des Autors, weil wir von diesem heute schlicht nichts mehr wissen. Worms war sehr sicher auch nicht der Ort der Textentstehung, so dass man keinen Tintenfleck und keinen Schreibgriffel oder Ähnliches als Artefakte der Textgenese vorzeigen kann.4 Und selbst der fiktive Ort des Nibelungenliedes hat mit der faktual-topographischen Stadt Worms wenig Schnittmengen, sieht man vom Domportal ab, vor dem das Nibelungenlied den berühmten Streit der Königinnen inszeniert. Das mittelalterliche Nordportal wurde freilich 1689 zerstört.
Damit fehlt dem Wormser Nibelungenmuseum im wörtlichen Sinne die Möglichkeit, für das Nibelungenlied die prozesshaften »visuellen Aggregatzustände […] zu [s]einem Gegenstand«5 und so die konkreten und materiellen Artefakte vor, während oder nach der Verschriftlichung des Textes zu Exponaten zu machen. Den Weg, aufgrund dieses Dilemmas nicht die mittelalterliche Textgenese, sondern Artefakte der modernen Textrezeption seit der Wiederentdeckung des Nibelungenliedes 1755 in den Fokus zu nehmen,6 wie es das Siegfriedmuseum in Xanthen unternimmt,7 beschreiten die KuratorInnen des Wormser Museums nicht.
Stattdessen wird der immaterielle Stoff zum Thema des Nibelungenmuseums, indem zentrale Figuren, Motive und Ereignisse des Nibelungenliedes aus der Perspektive eines fiktiven ›anonymen Dichters‹ des Nibelungenliedes via Audio-Guide neu erzählt werden.8 Neben den historischen mittelhochdeutschen Text stellen die KuratorInnen des Nibelungenmuseums so ein neues, modernes Buch des anonymen Dichters: Hier berichtet die Stimme des fingierten ›historischen‹ Autors des Nibelungenliedes von seinem Text, aber auch von vermeintlich historischen Hintergründen der Textgenese bis hin zu Streitgesprächen mit Autorkollegen im Jenseits etc. Dieses nur auditiv vermittelte, simulierte ›historische‹ Hintergrundwissen stellt den Kern der Wissensvermittlung im Museum dar; die Exponate kommentieren gleichsam dieses Buch des anonymen Dichters, es verhält sich nicht umgekehrt (siehe unten). Die für ein Museum zu erwartende Rezeptionshaltung, dass ein Audio-Guide die Exponate eines Museums kommentiert und erläutert, ist so ins Gegenteil verkehrt.
Dies stellt zudem eine Loslösung vom materiellen Träger des Textes und zugleich eine Loslösung von der Schrift dar. Es entsteht gerade keine Visualisierung des Nibelungenliedes im für ein Literaturmuseum erwartbaren Sinne.9 Die materielle Ausprägung des Stoffs steht so nie im Fokus des Museums.10 Durch das fast ausschließliche Vermittlungsprinzip des Audio-Guides wird im Gegenteil explizit auf eine visuell erfahrbare Gegenständlichkeit verzichtet.
Die räumliche Struktur des Nibelungenmuseums ist in drei Hauptbereiche (zwei Türme und einen verbindenden Wehrgang) gegliedert. Im ersten Turm, dem sog. ›Sehturm‹, wird das Buch des anonymen Dichters mit collagenartig arrangierten zweidimensionalen Bilder kombiniert. Diese bleiben ebenso wie die dort verwendeten Stummfilmsequenzen der Nibelungen-Verfilmung von Fritz Lang (1924)11 im Ausstellungsraum (durch Schautafeln oder Ähnliches) völlig unkommentiert und sind somit nicht ohne den Text des ›anonymen Dichters‹ verständlich. Dieser erklärt aber nicht die Exponate, sondern diese bilden visuelle Kontexte zur auditiven Darstellung. Sie treten damit in die Rolle eines begleitenden Paratextes zum Text des Buchs des anonymen Dichters;12 Ausstellungs-›Gegenstand‹ des Museums ist demnach das auditive Buch des anonymen Dichters, wie es der Audio-Guide vermittelt. Dies gilt vermehrt noch für den ›Wehrgang‹, dem jegliche Exponate zum Nibelungenlied fehlen. Selbst im dritten Teil des Museums, dem ›Hörturm‹, der den Text des Nibelungenliedes ausschnittsweise in seiner ursprünglichen sprachlichen Gestaltung wiedergibt, verhält es sich so, so dass auch hier der immaterielle Stoff als Schallphänomen im Fokus des Museums steht.13
Diese Loslösung vom historischen Text des Nibelungenliedes stellt zudem zumindest für den ›Sehturm‹ zugleich eine Loslösung vom mittelhochdeutschen Sprachstand dar. Der Text des Audio-Guides ist weitgehend von der ursprünglichen sprachlichen und formalen Struktur des Heldenepos unabhängig. Es findet hierdurch eine Auflösung der Erzählperspektiven und der Gliederung des Nibelungenliedes statt, es fehlen die charakteristische metrische Form der Nibelungenstrophe ebenso wie stilistische Merkmale etc.14 Kurzum: Das Nibelungenlied wird hier von fast allen historischen Ausprägungen entkernt. Stattdessen entsteht bei der Stoff-Nacherzählung eine umfängliche Re-Kontextualisierung, einerseits durch historisch-zeitgenössische intertextuelle Verzahnungen zum Beispiel mit der Edda, mit Wolframs von Eschenbach Parzival oder dem Rosengarten zu Worms. Vor allem ist diese Re-Kontextualisierung aber geprägt durch Kommentare des ›anonymen Dichters‹ zur Nibelungenlied-Rezeption in der Moderne. Der Stoff wird so als virtuelle Entität neu erzählt. Diese Re-Kontextualisierung gilt auch für den letzten Teil des Museums, indem hier wörtliche Versatzstücke des Nibelungenliedes mit umfänglichen Kommentaren des ›anonymen Dichters‹ zu den Textauszügen kombiniert werden.15
Der nicht-wissenschaftliche informative Erstzugriff auf den mittelalterlichen Text, das heißt die Wikipedia-Seite des Nibelungenliedes,16 weist durchschnittlich gut 700 Zugriffe pro Tag aus.17 Das Nibelungenmuseum in Worms verzeichnet laut Selbstauskunft ca. 20.000 BesucherInnen pro Jahr. Das bedeutet, dass es fast ein Zehntel der BesucherInnen von Wikipedia erreicht – das Museum hat also jenseits des akademischen Diskurses für die Kenntnis um den Text eine nicht zu vernachlässigende Relevanz.18
Dementsprechend relevant ist die Frage, welche Auswirkungen das skizzierte Vermittlungskonzept des Nibelungenmuseums für das Nibelungenlied hat. Welches textuelle Konzept resultiert aus dieser Anlage? Handelt es sich hierbei vor allem um ein museumsdidaktisches Konzept der Textvermittlung oder entsteht eine besondere, neu interpretierbare Fassung des Nibelungen-Stoffes? Und wie verhält sich diese Fassung zu den historischen medialen Ausprägungen des Nibelungenliedes? Was vom literarischen Text des Nibelungenliedes wird hierbei in der musealen Darstellung erzählt? Und welche Veränderungen und Neu-Akzentuierungen treten auf?19
1. Aufbau und Strukturierung
1.1 ›Sehturm‹
Der Zugang zum in seiner Grundstruktur dreigeteilten Museum erfolgt über den ›Sehturm‹20. Entlang der Mauerflächen befinden sich, erreichbar über eine Treppenkonstruktion mit Absätzen auf den Geschossen und in den Zwischengeschossen, Bildschirme mit Kurzsequenzen der Fritz-Lang-Verfilmung Die Nibelungen und Texttafeln, welche die jeweilige Station des Audio-Guides angeben und insofern als Haltepunkte fungieren.21
Räumlich beherrschend jedoch ist ein durch die gesamten Geschosse hängender Metallkörper, der, von innen erhellt, die Rezeptionsgeschichte der Nibelungen durch Bilder, Fotos und Standbilder oder auch Comic-Strips und Ähnliches collagenartig darstellt.22 Die meisten von ihnen sind kleinformatig; ihre collagenartige Montage und die hohe Zahl an unterschiedlichen, zum Teil sehr divergenten Bild-Motiven pro Haltepunkt schafft eine diffuse Rezeptionssituation. Es handelt sich hierbei stets um zweidimensionale Reproduktionen – historische Ausstellungsobjekte finden sich, wie gesagt, nicht.
Dieser Metallkörper wird als ›Rütelin‹ bezeichnet.23 Diese Namengebung ist ein referentieller Marker, der auf den legendären Schatz der Nibelungen verweist: Der wunsch, der lac dar under: von golde ein rüetelîn, / der daz het erkunnet, der mohte meister sîn / wol in aller werld über einen ietslichen man (1121,1–3: Das Schönste, was man sich denken kann, lag darunter, eine kleine goldene Rute, wer diese Wünschelrute zu benutzen verstand, konnte in der ganzen Welt Meister über jeden Menschen sein). BesucherInnen, die mit dem Originaltext wenig oder gar nicht vertraut sind, ist dieser Rückbezug auf das ›Rütelin‹ ohne die Hinweise aus dem Audio-Guide24 allerdings nicht verständlich. Das jedoch ist programmatisch: Auch das zentrale Objekt des ›Sehturms‹ erschließt sich (wie auch die zweidimensionalen Bilder und die Stummfilmsequenzen) stets nur durch den auditiven Text des Audio-Guides – alle Objekte fungieren als Paratexte zum Text des ›anonymen Dichters‹. Insofern ist die Bezeichnung als ›Sehturm‹ ebenso zutreffend wie irreführend: Zu sehen gibt es in diesem Turm viel, nachvollziehbar wird es aber nur durch den zu hörenden Text des ›anonymen Dichters‹.
1.2 Wehrgang
In Höhe des zweiten Turmgeschosses verbindet ein Wehrgang auf der rheinseitigen staufischen Stadtmauer den ›Sehturm‹ mit dem zweiten Turm (›Hörturm‹). Das (allerdings 1907 rekonstruierte25) historische Bauwerk betont damit die Historizität des Ortes.26 Verstärkt wird dies durch den Panoramablick auf die Stadt Worms, der mit historischen Stadtansichten ergänzt und mit historisierenden Geräuschen im Audio-Guide untermalt wird (Abnahme der Geräuschkulisse der modernen Stadt der Gegenwart bis zur relativen Ruhe einer noch weitgehend agrarisch geprägten Stadt um 1200). Wenngleich an den jeweiligen Haltepunkten im Wehrgang nicht explizit formuliert, entsteht so der Eindruck eines historischen Ortes des Nibelungenliedes. In diese Richtung weist auch der Kommentar des fiktiven ›anonymen Dichters‹ im Bereich des Wehrgangs:
Worms. Zu meiner Zeit war sie eine der bedeutendsten Städte des Reiches. Ein Häusermeer, aus dem Dutzende von Kirchtürmen herausragen, allen voran die prächtigen Türme des Doms, gerade so, wie wir sie jetzt vor Augen haben. […] Jedes Mal, wenn ich ihn [gemeint ist Leopold II. von Schönfeld, Bischof von Worms] besuchte, habe ich mich von ihm zum Nordportal des Doms führen lassen […]. Und allmählich setzte sich der Gedanke in mir fest, dass dort der große Streit der Königinnen stattgefunden hat.27
Das Fehlen historischer Exponate im ›Sehturm‹ scheint hier durch das ›Original‹ des Ortes kompensiert.28 Dies aber ist eine durch den Text des ›anonymen Dichters‹ erschaffene Fiktion: Weder war der mittelalterlich-historische Ort »gerade so wie jetzt« noch hat der Streit der Königinnen im Sinne eines historischen Ereignisses tatsächlich »dort stattgefunden«.29 Die Grenzen zwischen literarischen Räumen und (rekonstruierter) historischer Topographie werden dadurch unscharf. Das Buch des anonymen Dichters verschmilzt beide Räume – der Ort selbst wird zum »historischen Exponat«.30
1.3 ›Hörturm‹ und Audio-Guide
Durch dieses Prinzip des Verschmelzens literarischer und historisch-topographischer Räume fungiert der Wehrgang als Überleitung vom letztlich hinsichtlich seiner Exponate ahistorischen ›Sehturm‹ zum ›Hörturm‹, der zum ersten Mal den historischen Text des Nibelungenliedes relevant berücksichtigt.31 Allerdings, wie gesagt, fast nie in schriftlich-graphischer Form. Lediglich im Eingangsbereich des Turmes sind Faksimiledarstellungen der Handschriften ausgestellt. Im ›Hörturm‹ werden visuelle Reize im Gegenteil stark reduziert. Die Stationen, an denen jeweils ein Auszug des Nibelungenliedes über den Audio-Guide hörbar ist, werden nur durch stilisierte und in ihrer Bauform stets identische Throne markiert, auf denen der Museumsbesucher sitzen und dem Text zuhören kann. Schautafeln auf den Armlehnen markieren nur die jeweilige Station. Im Vergleich mit dem ›Sehturm‹, bei dem ja bereits die auditive Vermittlung gegenüber den ausgestellten visuell erfahrbaren Objekten im Vordergrund steht, ist das Objekthafte also noch weiter zurückgenommen.
Dominant ist dementsprechend auch hier die auditive Textvermittlung des Audio-Guides. Dessen Hauptanteil, das heißt der fiktive Text des ›anonymen Dichters‹,32 wird (wie auch im ›Sehturm‹) vom Schauspieler Mario Adorf gelesen. Adorfs Nähe zur Stadt Worms geht auf die dortigen Nibelungen-Festspiele zurück, an denen er 2002 (als Hagen) und 2003 (als Prolog-Sprecher) mitwirkte und deren Kuratorium er 2015 beitrat; nicht zuletzt der nach ihm benannte Mario-Adorf-Preis der Stadt Worms, der im Rahmen der Festspiele seit 2018 vergeben wird, streicht die enge Verbindung von Stadt und Schauspieler heraus. Dieses authentische Assoziieren des Schauspielers zu den in Worms inszenierten Nibelungen und der hohe Wiedererkennungswert der Stimme Adorfs kompensiert (wenn man um diesen Konnex weiß) das Fehlen von »authentischen, auratisch aufgeladenen Objekten«33, die üblicherweise einen »wichtige[n] Terminus technicus, ein zentrales Motiv, ja ein zentrales Anliegen für viele der auf dem Gebiet der Literaturvermittlung Schaffenden«34 darstellen.
Ergänzt wird der Adorf-Text durch Einspielungen von kurzen Sequenzen aus dem Nibelungenlied. Die mittelhochdeutschen Textteile werden von Joachim Heinzle gesprochen, einem der wichtigsten Forscher zur (Rezeptions-)Geschichte des Nibelungenliedes – zumindest für AltgermanistInnen hat also auch das eine gewisse auratische Wirkung. Die Übersetzungen werden von Paula Klein gelesen.
›Sehturm‹ und ›Hörturm‹ erscheinen so hinsichtlich der Vermittlungsebenen dichotomisch abgesetzt: Nur eine Stimme (›Sehturm‹) steht drei unterschiedlichen Stimmen (›Hörturm‹) entgegen; dem Treppensteigen (›Sehturm‹) folgt das Sitzen (›Hörturm‹), wodurch einer dynamischen Perspektivierung durch die Bewegung im Raum (›Sehturm‹) eine relative Statik durch sitzende Textrezeption gegenübersteht (›Hörturm‹);35 visuelle Collagen, die in auditiver Interaktion erschlossen werden müssen (›Sehturm‹), kontrastieren zum nur auditiven Zugang (›Hörturm‹); ausschließlich aus der Moderne stammende Exponate (›Sehturm‹) gehen dem mittelalterlichen Text voraus (›Hörturm‹), letztere Dichotomie wird im ›Hörturm‹ auch im Sprecherwechsel männliche (Heinzle, mittelhochdeutscher Text) vs. weibliche Stimme in der neuhochdeutschen Übersetzung markiert. Zu dieser dichotomischen Struktur fügt sich, dass auch der Durchlauf durch den erzählten Nibelungen-Stoff im zweiten Turm wieder von vorne beginnt (vgl. hierzu unten, Abb. 1). Die Loslösung vom historischen, schriftbasierten Text einerseits, das Einschreiben des Buchs des anonymen Dichters in den Raum des Museums andererseits lässt sich als eine Verräumlichung des Textes beschreiben. Zugleich erscheint aber auch der Raum semantisiert; es entsteht die Fiktion eines historischen Ortes der Nibelungenhandlung, die der Fiktionalität des ›anonymen Dichters‹ entgegenwirkt, indem das Buch des anonymen Dichters am ›historischen‹ Ort situiert ist. Dass dieser Text jeweils an räumliche Haltepunkte gebunden ist, an denen er kapitelweise abgespielt werden soll, verstärkt das Aneinander-gebunden-Sein von Raum und auditivem Text. Dem Raum kommt so eine hohe Steuerungsfunktion für das Textverstehen zu.36
2. Textuelles Konzept
Die Darstellung des Nibelungenliedes im Wormser Museum ist also gekennzeichnet durch einen Vorgang des Einschreibens eines eindimensionalen, sich bei Lektüre oder Vortrag linear entwickelnden Textes, der uns ursprünglich als (hand-)schriftbasiertes, zweidimensional-graphisch strukturiertes Phänomen aus der Zeit um 1200 überkommen ist,37 in einen dreidimensionalen Raum.38 Dieses Wechselspiel von räumlicher Struktur und mündlich realisiertem Text steht in einer langen Tradition vor allem vor-literater Gesellschaften. Die ›Verräumlichung‹ kulturellen Wissens ist eine mnemotechnische Vorgehensweise, die sich für europäische und andere Kulturen von alters her nachweisen lässt;39 Textelemente werden mit imaginierten Bildern verknüpft, die ihrerseits in einem imaginierten Raum strukturiert werden. »Das Bild wird so zur Repräsentation des Wortes und in komplementärer Weise bild-ikonisch in der Erinnerung des Redners verbunden«40. Die Verflechtung des flüchtigen, nur oral realisierten Textes mit dem Raum des Nibelungenmuseums lässt sich als wörtliche Umsetzung dieses mnemotechnischen Effekts verstehen. Es ist aber zugleich ein Medientransfer mit umfänglichen Folgen.
2.1 Re-Oralisierung
Die formale Umstrukturierung des historischen Nibelungenliedes in das auditive Buch des anonymen Dichters bewirkt die beschriebene (und für ein Literaturmuseum bemerkenswerte) Abwesenheit von Schriftlichkeit.41 Interessanterweise spiegelt diese Darstellungsform, einen schriftbasierten Text oral zu vermitteln, recht genau das semiliterate mediale System der Zeit der handschriftlichen Kodifizierung des Nibelungenliedes um 1200: Dem uns heute auf Pergament überlieferten Textbestand ging einerseits eine lange Tradition mündlicher Überlieferung voraus.42 Hierzu fügt sich also die wörtliche Umsetzung der mnemotechnischen Technik eines ›verräumlichten‹ Textes. Andererseits wird auch der handschriftliche Text, aufgrund des geringen Literarisierungsstands der Zeit, noch immer mündlich realisierte Vortragskunst gewesen sein.43 Die ›Re-Oralisierung‹ des mittelalterlichen Textes im Nibelungenmuseum stellt sich also in eine mediale Tradition, welche das Nibelungenlied von Beginn an prägte: Über schriftbasierte historische Zeugnisse wird im Medium der Mündlichkeit erzählt.44 Die basale Anlage des Nibelungenmuseums lässt sich damit als Spiegelung der medialen Bedingungen des historischen Nibelungenliedes verstehen.
2.2 Paratextueller Klangraum
Die räumliche Strukturierung, alle Exponate (das heißt vor allem Bildmedien), filmische Sequenzen, aber auch musikalische oder sonstige akustische Einspielungen etc.) fungieren im ›Sehturm‹ als Paratexte zum oral realisierten Text des Buches des anonymen Dichters. Die räumliche Struktur ist so als paratextueller »Klangraum« für die auditiven Texte angelegt. Beide Entitäten interagieren hierbei miteinander; es entstehen »Wechselwirkungen von Narrativität und Visualität als grundlegende Form[…] der […] Sinnstiftung«45. Da das Bild- und Filmprogramm an die Erklärungen des ›anonymen Dichters‹ rückgebunden ist, aber nur diese Paratexte dauerhaft präsent sind, während sich der syntaktische Text als Schallphänomen flüchtig verhält, verschiebt sich die Rezeptionshierarchie zwischen Text- und Paratextebenen fortwährend. Während die Anordnung der Paratexte hierbei im Raum statisch ist, sind die auditiven Texte hiervon entkoppelt und (durch den frei mitgeführten Audio-Guide) potentiell an jedem Ort des Museums, in beliebiger Reihenfolge, wiederholbar oder mit Auslassungen etc. abrufbar.46 Es gibt demnach neben zwei Medienebenen (Schriftlichkeit, Mündlichkeit) auch zwei Rezeptionsebenen im Museum: Den Text des ›anonymen Dichters‹ und den Rezeptions-Kontext, in dem dieser wahrgenommen wird.
2.3 Dynamisierung des Textes
Dieser Gesamt-Text des Museums, das heißt das Wechselspiel zwischen oralen syntaktischen Texten und räumlich-piktographischen Paratexten, ist durch die RezipientInnen begehbar; sie treten in dieses neue museale ›Nibelungenlied‹ hinein und können ihre Wahrnehmungsposition variieren. Damit wird der museale Gesamt-Text unfest, da sich je nach Perspektive der RezipientInnen unterschiedliche Text-Paratextkombinationen ergeben.47 So kann beispielsweise die Beschreibung Kriemhilds im Buch des anonymen Dichters im ›Sehturm‹ (Station 5 und Zusatzteil 5) aus einer der möglichen Rezeptionsperspektiven mit der Kriemhildfigur der Fritz-Lang-Verfilmung mit ihren strengen, androgynen Gesichtszügen kombiniert werden. In einer etwas höheren Rezeptionsperspektive tritt aber die vollständig weichgezeichnete Aurora-Prinzessin der Disney-Verfilmung des Dornröschenstoffes Sleeping Beauty an diese Stelle. So entstehen Text-Paratext-Kombinationen, die unterschiedlicher kaum sein könnten.
Darum aber geht es im ›Sehturm‹: Der »anonyme Dichter des Nibelungenliedes«, der im fiktiven Buch des anonymen Dichters »zu euch [das heißt zu den Rezipienten] aus dem Jenseits, aus dem Reich der Toten«48 spricht, hatte bereits im Eingangsbereich des ersten Turmes darauf hingewiesen, er wolle im Folgenden zeigen, »was ihr, die Lebenden, mit meiner Geschichte macht und wie ihr sie deutet«49. Es kommt also auf die Textveränderung durch moderne Textrezeption an – die Begehbarkeit des musealen Gesamt-Textes spiegelt also auch aus dieser Perspektive programmatisch das, was der ›Sehturm‹ abbildet. Damit stehen neben zwei medialen Ebenen (schriftlicher vs. oraler Text) und zwei Rezeptionsebenen (syntaktischer Text vs. Rezeptionskontext) auch zwei Rezeptionsbedingungen: Der abgeschlossene syntaktische Text des ›anonymen Dichters‹, wie er im Audio-Guide fixiert ist, vollzieht sich in dynamischen Text-Paratext-Kombinationen, die sich für die RezipientInnen je nach Stellung im Raum völlig unterschiedlich ausprägen. Wie man das Buch des anonymen Dichters rezipiert, ist eine stetig variierende Frage des Standpunktes im wörtlichen Sinne.
Als programmatisch stellt sich diese Darstellungsweise auch durch den fundamentalen strukturellen Bruch zwischen den beiden Türmen heraus. Denn der zweite Turm (›Hörturm‹) zeichnet sich genau diametral zum ›Sehturm‹ durch die starke Zurücknahme von visuellen Elementen aus. Gleichzeitig wird hier das Prinzip der dynamischen Wahrnehmungsposition explizit eingeschränkt, indem die einzelnen auditiven Textelemente des Audio-Guides an fest verankerte, als Thron gestaltete Sitzelemente gebunden sind.50 Diese perspektivische Beschränkung geht einher mit der Fokussierung auf den mittelhochdeutschen Text der Handschrift B des Nibelungenliedes im ›Sehturm‹; moderne Rezeptionszeugnisse finden sich im zweiten Turm nicht. Damit wird der dynamische museale Gesamt-Text des ›Sehturms‹ statisch, wenn sich der Ausstellungsschwerpunkt von der pluralen Textrezeption der Moderne auf den ursprünglichen handschriftlichen Text verengt. Auch hier spiegelt also der strukturelle Wechsel zwischen den Türmen den Wechsel des Präsentationsgegenstandes – die basale Anlage des Museums liest sich als selbstreferentieller Kommentar. Demnach wird das Nibelungenlied im Museum zweimal durchlaufen, zunächst als moderner, beweglicher musealer Gesamt-Text und dann als statisches, mittelhochdeutsches Nibelungenlied.
2.4 Doppelter Kursus
Neben dieses strukturelle Wechselspiel zwischen ›Sehturm‹ und ›Hörturm‹ tritt der doppelte inhaltliche Durchlauf. Denn der doppelte Durchlauf durch das Nibelungenlied ist nicht tautologisch, sondern komplementär.51 Der erste Turm stellt sich zwar als Metatext über die Entstehung der Nibelungen, über weitere Kontexte wie beispielsweise die Edda und vor allem über die moderne Nibelungenlied-Rezeption dar.52 Dennoch wird hier die Handlung bereits in neun basalen Handlungsblöcken paraphrasiert (vgl. Abb. 1). Der zweite Turm (›Hörturm‹) ist komplementär hierzu angelegt, indem die hier mit mittelhochdeutsch-neuhochdeutschen Zitaten zunächst wörtlich erzählten und dann kommentierten Handlungsblöcke stets mit den entsprechenden Passagen des ›Sehturms‹ verzahnt sind: So wird beispielsweise für die Brautwerbung um Brünhild (Station 6, ›Sehturm‹) der unmittelbar vorgängige strator-Dienst Siegfrieds nachgeliefert (Station 22, ›Hörturm‹); für die Ermordung Siegfrieds (Station 8, ›Sehturm‹) wird die hierauf folgende Trauer Kriemhilds nachgetragen (Station 25, ›Hörturm‹) etc. Gedoppelt (und damit besonders betont) sind der berühmte Streit der Königinnen (Station 7/24) und die Katastrophe am Hunnenhof (Station 12/30; vgl. Abb. 1). Der ›Hörturm‹ bringt damit nicht nur den mittelhochdeutschen Sprachstand und Originalzitate zum ersten Mal ein, sondern erschafft gegenüber dem ersten Turm auch motivische und figurale Tiefe.
Die beiden »Nibelungenlieder«, das dynamische der Moderne (›Sehturm‹) und das statische um 1200 (›Hörturm‹) interagieren so miteinander; letztlich lassen sich beide aber nur im Bezug aufeinander verstehen. Dass das moderne »Nibelungenlied« dem mittelalterlichen im wörtlichen Sinne vorgängig ist, macht es zur Rezeptionsgrundlage. Die MuseumsbesucherInnen (und eben auch alle modernen RezipientInnen des Nibelungenliedes) begegnen dem mittelalterlichen Nibelungenlied mit der aus der Moderne geprägten Perspektive.53
Die Anlage des Wormser Nibelungenmuseums geht offensichtlich über museumsdidaktische Fragen der Wissensvermittlung hinaus. Sie macht aus den gegebenen Räumen des Museums (room) semantisierte Räume (space).54 Durch die vier Prinzipien (Einschreiben des Textes in den Raum; ›Re-Oralisierung‹; Dynamisierung der Perspektive; Strukturierung durch den doppelten Durchlauf des Stoffes) entsteht ein neuer, nur im Museum gegebener Text. Dieser museale Gesamt-Text basiert auf der (im Museum allerdings nur knapp thematisierten) handschriftlichen Überlieferung des Nibelungenliedes,55 er macht sich hierbei vor allem den Text der Handschrift B zu eigen.56 Er ist untergliedert in die historischen Zitate dieses B-Textes bzw. dessen neuhochdeutsche Übersetzungen im ›Hörturm‹ und in drei neu erschaffene Museums-Entitäten (wenige Metatexte, das fiktive Buch des anonymen Dichters und die diversen Paratexte). Das Wechselspiel dieser Textebenen bildet zusammen den musealen Gesamt-Text. Dieser erzählt keineswegs deskriptiv vom Nibelungenlied, sondern inszeniert den Stoff neu.
Um das Verhältnis dieser beiden Texte zueinander geht es in der folgenden Analyse; wie also der museale Gesamt-Text (im Folgenden mit hochgestellten m gekennzeichnet) das Nibelungenlied der Hs. B erzählt (im Folgenden mit hochgestellten b gekennzeichnet) oder besser gesagt, wie es den mittelhochdeutschen Text ›weiter erzählt‹. Diese Analyse wird auf nur ein Motiv, die Trauer Kriemhilds nach der Ermordung Siegfrieds, beschränkt. Sie hat damit exemplarischen Charakter, aber diese Zuspitzung auf die Kriemhildfigur wird vom musealen Gesamt-Text selbst nahegelegt.
Im Museum wird auf den ersten Stationen des ›Sehturms‹ zunächst das Setting eingeführt, dass der fiktive anonyme Dichter im Folgenden über das Nibelungenlied, seine mythische Entstehung und das moderne Nachleben des mittelhochdeutschen Textes informieren werde (Station 1 und Zusatzteil 1). Es folgen Erläuterungen zum Namen ›Nibelungen‹, zum Zwergen-, Schatz- und Tarnkappenmotiv und schließlich zu Siegfried dem Drachentöter (Stationen 2 bis Zusatzteil 4). Alle diese Ausführungen erzählen aber noch nicht den Stoff des Nibelungenliedes in handlungschronologischer Reihenfolge, sondern sind auf ein abstraktes Motiv beschränkt oder aber mit der Snorra-Edda des Snorri Sturluson verschränkt (Stationen 3–4). Die Erzählung vom Nibelungenlied im engeren Sinne setzt in Station 5 (Königliche Liebe in Worms) mit der Einführung der Kriemhildfigur ein. Dass ab hier die Handlung paraphrasiert wird, ist ebenso hervorgehoben wie die Bedeutung Kriemhilds für die folgende Erzählung: »›Im Land der Burgunden wuchs ein edles Mädchen heran…‹ So fängt mein Nibelungenlied an. Diese Prinzessin hieß Kriemhild. Manche Interpreten sagen, dass sie die Hauptrolle in meinem Werk spielt«.57
Hauptfigur – und Hauptschuldige für die Katastrophe, in die alle Figuren des Nibelungenliedes hineingezogen werden, sei Kriemhild, so kommentiert es der fiktive anonyme Dichter auch zu Beginn des ›Hörturms‹:58 »Die meisten Handschriften des Liedes beginnen mit jener Strophe, in der von Kriemhild berichtet wird. […] Denn auf Kriemhild kommt doch alles an. Ihre Schönheit lockt Siegfried nach Worms. Und ihre Liebe zu dem Toten stürzt die Burgunden ins Verderben«.59 Dies wird in einem kurzen Exkurs auf die handschriftliche Diskrepanz der Nibelungenlied-Überlieferung (Station 16) kurz darauf folgend affirmativ wiederholt: »Und auf der anderen Seite kommt Kriemhild [in der Hs. C] viel besser weg. Ob man da die Frauen nicht etwas unterschätzt? Mich jedenfalls wundert es keineswegs, wenn aus einer sanften Fee eine rachsüchtige Hexe wird«.60 In beiden Türmen steht damit jeweils mit Beginn der Handlungsparaphrase Kriemhild als Zentralfigur und ihr Umgang mit dem Tod Siegfrieds als basales Motiv des musealen Gesamt-Textes«.61
3. Analyse des Trauermotivs
Da der mittelhochdeutsche Text im ›Sehturm‹, wie gesagt, fehlt, ist der Vergleich des B-Textes mit dem musealen Gesamt-Text im Folgenden weitgehend auf den ›Hörturm‹ beschränkt und die Verzahnung mit dem ›Sehturm‹ nur beispielhaft dargelegt. Die Darstellung der Trauer Kriemhilds im Museumstext setzt im ›Hörturm‹ an der 25. Station ein. Hier werden drei Strophen (1011m-1013m = 1008b-1010b)62 wiedergegeben. Zuvor (Station 24) wird der Königinnenstreit anhand der Strophen 835bf. und 840b denkbar knapp skizziert; bei dieser berühmten Szene geht es um einen Rangstreit zwischen Kriemhild, der Frau Siegfrieds, und Brünhild, der Frau König Gunthers, vor dem Wormser Münster. Im Verlaufe dieses Streits beleidigt Kriemhild die Königin öffentlich als kebse, als Nebenfrau ihres Mannes. Hagen wird dies später mit dem Tod Siegfrieds rächen. Mit einem Einschub (siehe unten) wird hierauf folgend in Station 27 geschildert, wie der Nibelungenschatz nach Worms gebracht wird (1119bff).
Die Stationen 24 und 25 sind hierbei unmittelbar nebeneinander arrangiert, beide Throne stehen kaum zehn Zentimeter voneinander entfernt; eine Anordnung, die sich ansonsten an keiner Stelle des ›Hörturms‹ in dieser Form findet, sie entspricht auch nicht der durch die vertikale Verteilung gleichmäßige Strukturierung der einzelnen Stationen im ›Sehturm‹. Damit handelt es sich also um eine deutliche paratextuelle Markierung im oben skizzierten Sinne: Der museale Gesamt-Text legt nahe, dass Königinnenstreit und die Trauer Kriemhilds parallel zueinander zu lesen und unmittelbar aufeinander bezogen seien – das eine sei die Folge des anderen.
Dieses im wörtlichen Sinne enge Aufeinander-Beziehen ist natürlich zunächst völlig schlüssig und auch vom Erzähler des Nibelungenliedes gedeckt: von zweier vrouwen bâgen wart vil manic helt verlorn (873,4b: aufgrund des Streits zweier Damen gingen viele Helden unter), beschließt dieser die 14. Âventiure und damit den Streit der Königinnen. Die Anordnung des Museumstextes kaschiert aber, dass zwischen den dargestellten Passagen 175 Nibelungenstrophen (von insgesamt 2376 B-Strophen, immerhin gut sieben Prozent des Gesamt-Textes) stehen. In diesen fehlenden Strophen wird der Verrat Hagens und Gunthers (st. 865b-873b) zum Thema, hier findet sich das berühmte Kreuzzeichen-Motiv, in dem Kriemhild Siegfrieds verwundbare Stelle verrät (st. 888b-903b), und hier ist der hinterrücks durchgeführte Mord an Siegfried durch Hagen beschrieben und kommentiert (st. 961b-998b). Der museale Gesamt-Text unterschlägt so die zunächst skrupelöse Argumentation Gunthers, der im Nibelungenlied durchaus bemerkt, ern [Siegfried] hât uns niht getân / niuwan guot und êre. man sol in leben lân (865,1bf.: Siegfried hat uns bisher nur Gutes getan und unser Ansehen gestärkt. Man soll ihn leben lassen) und dessen Sinneswandel der Erzähler als ubele (873,1b: schändlich) kommentiert. Er unterschlägt ebenso die Begründung Kriemhilds, mit der sie die einzig verwundbare Körperstelle Siegfrieds an Hagen verrät: Si sprach: »du bist mîn mâc und ich bin der dîn. / ich bevilhe dir mit triuwen den lieben wine mîn, / daz du mir behüetest den mîn holden man« (895,1–3b: Sie sagte: »du bist mit mir verwandt und ich mit dir. Deshalb vertraue ich Dir in Treue meinen geliebten Mann an, damit Du ihn mir gut beschützt«) und Ich meld iz ûf genâde, vil lieber vriunt, dir, / daz du dîne triuwe behaltest ane mir. / dâ man dâ mac verhouwen den mînen lieben man, / daz lâz ich dich hoeren. deist ûf genâde getân (898,1–4b: Ich spreche ganz offen zu Dir, lieber Freund, damit Du Deine Treue mir gegenüber hältst, und ich lasse Dich deshalb wissen, wo man meinen lieben Mann tödlich treffen kann. Dies geschieht in vollstem Vertrauen). Die emotionale Bindung Kriemhilds an ihren Mann (lieber wine, holder man, lieber man) fehlt damit im musealen Gesamt-Text ebenso wie der doppelt begründete Anspruch an Hagen aufgrund der verwandtschaftlichen Beziehung (mâge) und der aus dem Ehrkonzept um 1200 resultierenden triuwe und genâde Hagens, was beides zum Schutz Siegfrieds verpflichtete.63 Der Verrat der Männer gegenüber Siegfried und Kriemhild ist im Museumstext ebenso zurückgestellt wie die affektive Nähe Kriemhilds zu Siegfried – beides aber lässt erst die Reaktion Kriemhilds verstehbar werden.64
Dass die Liebe Kriemhilds eine nicht zu vernachlässigende Entität der Figur im Nibelungenlied darstellt,65 ist auch bei der vorhergehenden 18. Station deutlich relativiert. Das hier auf drei Strophen (284mf. und 293m = 282bf. und 291b) reduzierte erste Zusammentreffen Siegfrieds und Kriemhilds fokussiert ganz weitgehend auf die Liebe Siegfrieds: Ihm sei »abwechselnd warm und kalt ums Herz« (284m) zumute gewesen,66 er habe gedacht, »wie könnte ich nur Deine [Kriemhilds] Liebe gewinnen«67 (285m), er habe den Topos vom Liebestod bemüht für den Fall, dass seine Liebe unerfüllt bleiben sollte,68 »[b]ei diesen Überlegungen wechselte immer wieder seine Gesichtsfarbe«69 (285m). Schließlich habe Siegfried durch eine Verneigung »[m]it Hingabe« (293m) die Distanz zu Kriemhild überwunden – »wie lieblich er doch an der Seite Kriemhilds einherging!«70 (293m), ruft der Erzähler aus.
Nur die letzten beiden Verse dieser Passage im Buch des anonymen Dichters deuten immerhin an, obgleich noch immer an Siegfried rückgebunden, dass diese hier entbrannte Liebe eine gegenseitige Liebe ist: »Mit freundlichen Blicken sahen der Ritter und die Dame einander an« (293m)71. Das Nibelungenlied hatte dies bereits früher deutlich gemacht: Bereits der Beginn der Liebesbeziehung zwischen Siegfried und Kriemhild wird als gegenseitige Liebe beschrieben.72 Hier beobachtet Kriemhild Siegfried heimlich am Wormser Hof und ist hierdurch aller übrigen höfischen Freuden entrückt.73 Wenn Siegfried den Hof verlassen muss, bedauert Kriemhild dies sehr74 etc. Nur so wird verständlich, dass Kriemhild sofort Siegfried bei den Händen nimmt, während dieser noch höfische Distanz wahrt (vgl. 293m; 291,1b). Direkt im Anschluss an die im musealen Gesamt-Text beschriebene Passage kommentiert der Erzähler des Nibelungenliedes dementsprechend, si het im holden willen kunt vil schiere getân (292,4b: Sie hatte ihm ihre Zuneigung sehr schnell gezeigt). Ein öffentlicher Kuss (st. 295,3b) und tägliches Beisammensein (st. 303b) folgen, der dienst wart dem recken durch grôze liebe getân (st. 303,4b: Diese Aufmerksamkeit wurde dem Recken aus großer Liebe zuteil). Diese unbändige Liebe zwischen den beiden, nicht der Königinnenstreit, so beschließt das Nibelungenlied die 5. Âventuire mit einer Prolepse, sei ursächlich für den Tod Siegfrieds: wan daz in twang ir minne. diu gab im dicke nôt. / dar umbe sît der küene lac vil jaemerlîche tôt (322,3f.b: wenn ihm nur nicht die Liebe so zugesetzt hätte. Die bedrängte ihn oft. Deshalb sollte der Tapfere später einen beklagenswerten Tod finden).75
Tatsächlich betreibt der museale Gesamt-Text einigen Aufwand, die Liebe zwischen Kriemhild und Siegfried zu relativieren. Denn in die Schilderung des ersten Zusammentreffens der beiden ist (ebenfalls in der Stimme Adorfs) ein Metatext integriert, der das mittelalterliche Minnesystem erklärt: Liebe zwischen Mann und Frau sei ein »bedeutender Teil der Kultur an mittelalterlichen Höfen« gewesen, eine Art literarisches Gesellschaftsspiel«, bei dem »der Mann der ergebene Diener der Frau« gewesen sei, diese ihm aber die Liebe »versagt oder raffiniert hinaus[ge]zögert« habe.76 Da dieses Liebeskonzept mit dem des Nibelungenliedes nichts gemein hat,77 scheint dieser Kommentar an dieser Stelle seltsam deplatziert. Er relativiert aber die Wertigkeit der Emotion Kriemhilds, indem deren Liebe zum konventionalisierten Spiel reduziert erscheint. Als legitime Triebfeder für die Figur des musealen Gesamt-Textes kommt sie so nicht mehr in Betracht.
Dass die emotionale Komponente dort trotz des Paratextes der 8. Station (Wie Siegfried betrauert und begraben wurde, S. 76) auch bei der eigentlichen Darstellung der Trauer Kriemhilds zurückgenommen wird, überrascht dementsprechend nicht. Auch hier fehlt der Kontext, dass Kriemhild bereits bei der Nachricht, ein Toter liege in der Burg, sofort um Siegfrieds Tod weiß, bevor sie dessen Leichnam zu Gesicht bekommt (st. 1004b-1007b). Erneut ist die vorhergehende starke Emotionalität Kriemhilds angesichts der Todesnachricht auf ein Minimum (zwei Verse des mittelhochdeutschen Textes) reduziert: »Da rief die edle Königin in ihrem Schmerz: ›Weh über mich‹» (1012m).78 Und auch dieses kurze emotionale Einsprengsel wird postwendend zum Rationalen gewendet (Erkenntnis Kriemhilds, dass der Schild Siegfrieds unversehrt sei79) und die individuelle Trauer Kriemhilds kollektiviert80 und so relativiert. Dass Kriemhild zuvor vil harte unmaezlîche geklagt habe (1004,4b), leit gefühlt (1005,3b) und allen vreuden […] widerseit habe (1005,4b), zur Erde gefallen sei und keine Worte habe hervorbringen können (1006,1b), vröidelôs gewesen sei (1006,2b), unermessliches Leid erlitten (1006,3b) und so laut aufgeschrien habe, daz al diu kemenâte erdôz (1006,4b; dass die ganze Kemenate davon wiederhallte), und schließlich Blut von herzenjâmer (1007,2b; aufgrund des Leids ihres Herzens) aus ihrem Mund hervorgebrochen sei (ebd.), dies alles verschweigt der museale Gesamt-Text.81
Hier wird stattdessen das Bild der rachsüchtigen Kriemhild82 in den Vordergrund gerückt: »Wüßte ich, wer das getan hat, ich würde nur noch darauf sinnen, ihn zu töten« (1012m), sind die letzten Worte, die Kriemhild im dort spricht. Diese jedoch sind zuvor bereits vorbereitet: »Mich jedenfalls wundert es keineswegs, wenn aus einer sanften Fee eine rachsüchtige Hexe wird«83, hatte der fiktive Dichter, wie gesagt, bereits in der dritten Station des ›Hörturms‹ (Station 16) in den Handschriftenexkurs einfließen lassen und dies zwei Stationen später (Station 18) im Minneexkurs wiederholt: »Es war die Liebe, die sie [Kriemhild] zur Rachefurie werden ließ, zu einer wahren Teufelin«84. Rachsüchtige Hexe, Rachefurie, Teufelin – dieses Kriemhild-Bild des musealen Gesamt-Textes lässt sich schlecht mit der von der Trauer um den Geliebten gebrochenen Frauenfigur des Nibelungenliedes in Einklang bringen.85
Dass die auf die Trauer Kriemhilds folgende Station 27 dem Schatzmotiv gewidmet ist, befördert diese Wendung der Kriemhildfigur vom Emotionalen zum Rationalen und von der in Trauer verzweifelten Frau zur kühl kalkulierenden Rächerin weiter. Zuvor findet sich jedoch ein wiederum seltsam deplatzierter Querverweis auf den Rosengarten zu Worms, ein Versepos aus dem dreizehnten Jahrhundert, der den Nibelungenstoff mit dem Stoff um Dietrich von Bern verknüpft und die Kriemhildfigur als »laszive, unbarmherzige, ablehnende, todbringende [...] Minnedame«86 stilisiert. In diesem Text, so paraphrasiert der ›anonyme Dichter‹, habe Kriemhild zu ihrem Vergnügen einen Zweikampf zwischen Dietrich und ihrem Verlobten angezettelt, den Siegfried erfolgreich bestritten habe. Weder das Zweikampfmotiv noch der hier paraphrasierte Stoff des Rosengartens zu Worms passen zu der vorhergehenden (›Wie Siegfried betrauert und begraben wurde‹) und der nachfolgenden Station (›Wie der Hort der Nibelungen nach Worms gebracht wurde‹). Worum es dem ›anonymen Dichter‹ mit diesem Verweis auf eine zweite Nibelungenstoffversion geht, zeigt sich aber im abschließenden Kommentar: Einiges im Rosengarten sei sicherlich kaum glaubhaft (zum Beispiel der feuerspeiende Dietrich von Bern), der Zweikampf aber könne »schon stimmen, und der Dichter [des Rosengartens] hat auch sicher nicht ganz unrecht, wenn er Kriemhild als hochmütige und blutrünstige Person zeichnet«.87 Dies passt in das Bild der Abwertung der Kriemhildfigur im musealen Gesamt-Text.
Diese Abwertung der berechtigten Klage Kriemhilds angesichts des Siegfriedmordes ist bereits im ersten Turm (›Sehturm‹) vorbereitet worden. Die Darstellung von Tod und Trauer ist hier in den Stationen 8, 8 Zusatzteil und 9 unter den Paratexten ›Verrat‹, ›Mordstätte‹ und ›versunkene Schätze‹ abgehandelt – die Analogie zum ›Hörturm‹, das Schatzmotiv mit Mord und Rachemotiv zu verknüpfen, ist bereits hier offensichtlich. Im musealen Gesamt-Text erscheint dies ganz einleuchtend. Hier kommentiert der ›anonyme Dichter‹:
Kriemhild wusste, wer Siegfried getötet hatte. Und sie wusste auch, dass das mit Zustimmung Gunthers, ihres Bruders, geschehen war. Aus dem Nibelungenland ließ sie den Hort, den Siegfried ihr als Morgengabe geschenkt hatte, herbeischaffen. Hagen erkannte schnell, dass sie damit zur Rache rüstete. So nahm er ihr den Hort ab und versenkte ihn im Rein.88
In dieser Form findet es sich im mittelhochdeutschen Nibelungenlied aber nicht. Hier steht im Gegenteil unmittelbar vor dem Schatzmotiv die Versöhnung zwischen Kriemhild und ihren Verwandten: Ez enwart nie suone mit so vil trehen mê / gefüeget under vriunden. ir tet ir schade wê. / si verkôs ûf si alle, wan ûf den einen man [das ist Hagen] (1112,1–3b: Es ist noch niemals eine Versöhnung zwischen Verwandten unter so vielen Tränen zustande gekommen. Ihr Verlust schmerzte Kriemhild sehr. Sie verzieh allen außer einem Mann). Nicht Kriemhild lässt den Schatz nach Worms bringen, sondern ihre Verwandten tragen es ihr an (1113,1b: Dar nâch vil unlange truogen si daz an), und ihr Anspruch auf die morgengâbe wird als rechtens (billich) bezeichnet (1113,4b). Kriemhild beschenkt zwar viele Krieger (1124,1–3b), was aber als vorbildliches Verhalten (1124,4b: si pflac vil guoter tugende) verstanden wird – diese milte ist eine der Haupttugenden eines adeligen Herrschers. Dies stimmt Hagen nachdenklich, doch dass Kriemhild tatsächlich aus Berechnung und mit der Absicht auf Rache handelt, ist vom Nibelungenlied nicht gedeckt. Im Gegenteil sprechen sich die Burgunden gegen die Enteignung aus,89 Kriemhild, die sich öffentlich vor Gunther beklagt, wird Recht zugesprochen (st. 1132b), Hagen aber versenkt den Schatz bei Lochheim im Verborgenen (st. 1134b), alle Fürsten bezeichnen dies als ubele (1136,1b), der Erzähler kommentiert, mit iteniuwen leiden beswaeret was ir muot (st. 1138,1b: Kriemhild war mit neuem Leid belastet). Von einem ›zur Rache rüsten‹ zeigt sich hier nichts; es ist der museale Gesamt-Text, der diese Perspektive erzeugt. Hierzu passt auch die quantitative Aufwertung des Schatzmotivs. Im Nibelungenlied sind ihm an dieser Stelle nur 21 Strophen gewidmet (weniger als ein Prozent), der museale Gesamt-Text geht in vier (von 44) Stationen auf ihn ein (knapp zehn Prozent).
Worauf diese Um-Akzentuierungen des Nibelungenliedes im Wormser Museum zurückzuführen sind, lässt sich bei der Beschreibung des Siegfried-Mordes durch die sogenannte Dolchstoßlegende beobachten, auf die im Folgenden abschließend nur knapp eingegangen wird. Besonders im ›Sehturm‹ zeigt der museale Gesamt-Text das Bestreben, den mittelalterlichen Text gegenüber seiner deutschnationalen Vereinnahmung abzugrenzen.90 Was gewiss ein legitimes Unterfangen ist, hat aber Konsequenzen auch für die Wertung Kriemhilds im musealen Gesamt-Text. Denn die Ermordung Siegfrieds, die an Station 8 geschildert wird, erhält so eine Umakzentuierung. Indem über die Hälfte der Ausführungen für die an die Mordszene angelehnte sog. Dolchstoßlegende aufgewendet wird, ergibt sich eine zweite (neue) Wertungsebene. Die historische Allegorie, die ursprünglich auf einen anonymen Artikel der Neuen Zürcher Zeitung vom 17. Dezember 1918 zurückgeht und von der Obersten Heeresleitung aufgegriffen wurde,91 wird im musealen Gesamt-Text nach Hitlers Mein Kampf wörtlich zitiert: »Die ›parlamentarischen Strauchdiebe, dieses gesamte politisierende Parteigesindel‹ habe ›so lange gehetzt, bis endlich der kämpfende Siegfried dem hinterhältigen Dolchstoß erlag‹, schrieb Adolf Hitler«92. Dies legt die Rollen endgültig neu fest. Denn diese, in sich eigentlich nicht besonders stimmige, Allegorie versetzt Siegfried in die Position der vermeintlich ungeschlagenen Wehrmacht des ersten Weltkrieges und wertet den hinterrücks mordenden Hagen als Metapher für die demokratischen Politiker der jungen Weimarer Republik ab. Mit den Worten Hitlers als ›Strauchdieb‹ verunglimpft zu werden, stellt aber aus unserer heutigen demokratischen Perspektive und mit dem Wissen um die Geschehnisse 1933–45 nachgerade eine Nobilitierung dar. Was im musealen Gesamt-Text aus Sicht des Bildempfängers durchaus schlüssig ist (Aufwertung der Demokraten und Abwertung der deutschen Wehrmacht), erzeugt auf der Ebene des Bildspenders (der Figuren des Nibelungenliedes) einen positiven Bedeutungsüberschuss für die Figur Hagens, dem so die eigentlich legitime Position zugeschrieben wird (Beendigung eines menschenverachtenden und obendrein verlorenen Konflikts). Sollte in der ursprünglichen Ersetzungsfunktion der Metapher das heroische Potential des Bildspenders Siegfried als Bedeutungsüberschuss auf die deutsche Wehrmacht übertragen werden, diskreditiert nun umgekehrt die Verknüpfung mit der aggressiven deutschen Kriegsführung einerseits und der NS-Ideologie andererseits die Wahrnehmung der Siegfried-Figur im musealen Gesamt-Text. Wenn aber die Siegfried-Figur durch die Dolchstoß-Allegorie und das Hitler-Zitat mit der aggressiven deutschen Kriegsführung des ersten Weltkriegs verknüpft wird, wenn Siegfrieds Ermordung mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht und dem Beginn der ersten Demokratie auf deutschem Boden analog gestellt wird, dann ist aus der demokratischen Perspektive unserer Gegenwart zugleich der Trauer Kriemhilds um ihren Mann das Fundament entzogen.
4. Fazit
Das Nibelungenlied gerät im Nibelungenmuseum in Bewegung. Das gilt im ›Sehturm‹ durch die divergierenden Text-Paratext-Kombinationen, die den musealen Gesamt-Text stets neu erschaffen. Der mittelhochdeutsche Text wird so in ein Spannungsverhältnis zwischen dem historischen Stoff und seiner gegenwärtigen Perspektivierung gestellt. Dieses Spannungsverhältnis ist dem Nibelungenlied selbst aber inhärent: Genauso impliziert es die berühmte Prologstrophe (allerdings nur der A- und C-Fassung): Uns ist in alten maeren wunders vil geseit / von helden lobebaeren, von grôzer arebeit, / von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen, / von küener recken strîten muget ir nu wunder hoeren sagen (1,1–4b: Uns wird in alten Erzählungen viel Wunderbares berichtet von berühmten Helden, großer Mühsal, von glücklichen Tagen und Festen, von Tränen und Klagen und vom Kampf tapferer Recken könnt ihr jetzt Erstaunliches erfahren).
Wenn hier von den alten maeren die Rede ist, die man nu, in der Gegenwart, hören könne, dann bindet das den »in Halbvers-Gegensätzen und Langzeilen-Parallelen organisierten Inhalt zurück in die Vergangenheit der alten maere und zugleich an den gegenwärtigen Moment«93. Die Anlage des ›Sehturms‹ spiegelt damit die basale Verfasstheit des Nibelungenliedes zwischen germanischem Stoff und mittelalterlichem Text. Gleichzeitig wird im ›Sehturm‹ vorgeführt, dass die Perspektive auf den mittelhochdeutschen Text immer auch eine Frage des (wörtlichen) Standpunktes zu den modernen Rezeptionszeugnissen ist.
Ebenso in Bewegung gerät aber auch der Text des Nibelungenliedes im eigentlich weitgehend statischen ›Hörturm‹, indem hier, erkennbar am Beispiel der Kriemhild-Figur, durch Kürzungen, Umstrukturierungen und Neu-Kombinationen eine eindeutig negative Wertung entsteht, die der mittelhochdeutsche Text so deutlich nicht vorgibt. Auch dieses In-Bewegung-Geraten der zentralen Frauenfigur steht hierbei in der Tradition der Nibelungenlied-Überlieferung selbst.94 Denn der Redaktor der *C-Fassung hatte bereits im dreizehnten Jahrhundert den gegenteiligen Versuch, eine Exkulpierung der Rache Kriemhilds, unternommen: »Kriemhilds triuwe wird deshalb in der Auseinandersetzung mit dem Stoff aufgewertet. Die überwiegend negativen Bewertungen der Rache im Epos (*B) werden schon in *C abgeschwächt«95. Der *C-Redaktor hat »Hagen als den ungetriuwen (›treulosen‹) Urheber allen Übels hingestellt, Kriemhild aber als eine Leidende und Liebende, deren Handeln, so furchtbare Folgen es auch hat, von triuwe geleitet ist: der treuen Liebe zu Siegfried über dessen Tod hinaus«96. Insofern steht auch die wertende Transformation der Kriemhild-Figur im Nibelungenmuseum in der Tradition der Nibelungenlied-Überlieferung.
Der ›verräumlichte‹ Text des Nibelungenmuseums zeigt sich so als Spiegelung der medialen und textuellen Verfasstheit des Nibelungenliedes. Dass die erneute Bewegung, in welche die Legitimität der Kriemhild-Figur im musealen Gesamt-Text gerät, eine Gegenbewegung auf die deutschnationale Vereinnahmung des Nibelungenstoffes ist, impliziert die Dolchstoßlegende. Erst die Siegfried-Überformung des 19. und 20. Jahrhunderts lässt die Legitimität der Trauer Kriemhilds nicht-erzählbar werden. Dies hatte der ›anonyme Dichter‹ seinen Zuhörern bereits bei der ersten Einführung der Figuren im ›Sehturm‹ als Rezeptionssteuerung mitgegeben: Dass »Siegfried im Laufe der Jahrhunderte zum Archetypen des germanischen Helden geworden ist – ein schwertschwingender Arier«97, sei ein »Dämon der Interpretation und der Vereinnahmung«98. Ebenso stelle es sich bei Kriemhild dar: »Ihr blondes Haar und ihre Zöpfe sind um die Welt gegangen und zum hartnäckigen Klischee geworden: dem der deutschen Frau… Das alles hat gewiss nichts mit der Person zu tun, die ich beschrieben habe«99. Hier aber zeige sich das Resultat der »Mythenmaschinerie […]: Wie man zum Beispiel im 19. Jahrhundert Anleihen bei der christlichen Bildsprache machte, um Kriemhilds Sinnesadel hervorzuheben. Man hat fast den Eindruck, sie sei eine Heilige. […]. Verdient sie das überhaupt?‹ ist da nur eine beiläufige Frage«100.
Die Bewegung, in die die Kriemhildfigur im Nibelungenmuseum gerät, stellt sich demnach auch als Reflex dar auf den ›Dämon der Interpretation‹ und die ›Mythenmaschine‹ der deutschnationalen Rezeptionsvergangenheit des Nibelungenliedes. Die Moderne prägt hier die Perspektive auf die Figur eines mittelhochdeutschen Textes ebenso, wie der ›Sehturm‹ die Wahrnehmung des Museumsbesuchers im ›Hörturm‹ steuert.
Abb. 1: Erzählte Handlungssequenzen des Nibelungenliedes im Nibelungenmuseum Worms.
Literaturverzeichnis
ART. »Nibelungenlied«. In: Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/Nibelungenlied.
BENNEWITZ, Ingrid: »Kriemhild und Kudrun. Heldinnen-Epik statt Helden-Epik«. In: Klaus Zatloukal (Hg.): 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Mittelhochdeutsche Heldendichtung ausserhalb des Nibelungen- und Dietrichkreises (Kudrun, Ortnit, Waltharius, Wolfdietrich). Wien 2003, S. 9–20.
BENNEWITZ, Ingrid: »Chlage über Kriemhild. Intertextualität, literarische Erinnerungsarbeit und die Konstruktion von Weiblichkeit in der mittelhochdeutschen Heldenepik«. In: Klaus Zatloukal (Hg.): 6. Pöchlarner Heldenliedgespräch. 800 Jahre Nibelungenlied. Rückblick – Einblick – Ausblick. Wien 2001, S. 26–36.
BENNEWITZ, Ingrid: »Kriemhild im Rosengarten. Erzählstrukturen und Rollenkonstellationen im ›Großen Rosengarten‹«. In: Klaus Zatloukal (Hg.): 5. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Aventiure – Märchenhafte Dietrichsepik. Wien 2000, S. 39–59.
CURSCHMANN, Michael: »›Nibelungenlied‹ und ›Nibelungenklage‹. Über Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Prozeß der Episierung«. In: Christoph Fasbender (Hg.): Nibelungenlied und Nibelungenklage. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2005, S. 159–189.
DAS NIBELUNGENLIED. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B hg. von Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt u. kommentiert von Siegfried Grosse. Stuttgart 2011.
EHRISMANN, Otfrid: »Kriemhild-*C«. In: Jürgen Breuer (Hg.): Ze Lorse bi dem münster. Das Nibelungenlied (Handschrift C). Literarische Innovation und politische Zeitgeschichte. München 2006, S. 225–247.
EHRISMANN, Otfrid: »›ze stücken was gehouwen dô daz edele wîp‹: The Reception of Kriemhild«. In: Winder McConnel (Hg.): A Companion to the Nibelungenlied. Columbia 1998, S. 18–41.
EHRISMANN, Otfrid: Nibelungenlied. Epoche – Werk – Wirkung. 2. Aufl. München 2002.
GFREREIS, Heike: »Literaturtheorie als Literaturdidaktik. Das Gründungskonzept des Literaturmuseums der Moderne«. In: Christine Ott und Dieter Wrobel (Hg.): Öffentliche Literaturdidaktik: Grundlegungen in Theorie und Praxis. Berlin 2018, S. 193–208.
GFREREIS, Heike u. Ellen Strittmatter: »Die dritte Dimension. Ausgestellte Textualität bei Ernst Jünger«. In: Katerina Kroucheva u. Barbara Schaff (Hg.): Kafkas Gabel. Überlegungen zum Ausstellen von Literatur. Bielefeld 2013, S. 25–52.
HANSEN, Lis u. Janneke Schoene: »Das Immaterielle ausstellen. Zur Einführung«. In: Dies. u. Levke Teßmann (Hg.): Das Immaterielle ausstellen: Zur Musealisierung von Literatur und performativer Kunst. Bielefeld 2017, S. 11–31.
HEINZLE, Joachim: »Die Rezeption in der Neuzeit«. In: Badische Landesbibliothek Karlsruhe u. Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg.): »Uns ist in alten Mären…«. Das Nibelungenlied und seine Welt. Darmstadt 2003, S. 162–181.
HEINZLE, Joachim: Die Nibelungen. Lied und Sage. 2. überab. u. akt. Aufl. Darmstadt 2012.
HEINZLE, Joachim: »Der deutscheste aller Stoffe«. In: Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Albtraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt / M. 1991, S. 7–18.
HELLER, Heinz-B.: »›…Nur dann überzeugend und eindringlich, wenn es sich mit dem Wesen der Zeit deckt…‹. Fritz Langs Nibelungen-Film als ›Zeitbild‹«. In: Joachim Heinzle, Klaus Klein u. Ute Obhof (Hg.): Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos. Wiesbaden 2003, S. 497–509.
HENKEL, Nikolaus: »›Nibelungenlied‹ und ›Klage‹. Überlegungen zum Nibelungenverständnis um 1200«. In: Christoph Fasbender (Hg.): Nibelungenlied und Nibelungenklage. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2005, S. 210–237.
HILLENBACH, Anne-Kathrin: Literatur und Fotografie. Analysen eines intermedialen Verhältnisses. Bielefeld 2012.
HOFFMANN, Anna R.: »Zum Potential literaturmusealer Einrichtungen als Orte der Literaturvermittlung«. In: Christine Ott u. Dieter Wrobel (Hg.): Öffentliche Literaturdidaktik: Grundlegungen in Theorie und Praxis. Berlin 2018, S. 179–192.
JÜRGENSEN, Christoph: ›Der Rahmen arbeitet‹. Paratextuelle Strategien der Lektürelenkung im Werk Arno Schmidts. Göttingen 2007.
KLEIN, Klaus: »Die Handschriften«. In: Badische Landesbibliothek Karlsruhe u. Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg.): ›Uns ist in alten Mären...‹. Das Nibelungenlied und seine Welt. Darmstadt 2003, S. 188–208.
KNAPP, Fritz Peter: »Tragoedia und Planctus. Der Eintritt des Nibelungenliedes in die Welt der litterati«. In: Christoph Fasbender (Hg.): Nibelungenlied und Nibelungenklage. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2005, S. 30–47.
KROUCHEVA, Katerina u. Barbara Schaff: »Einleitung«. In: Dies. (Hg.): Kafkas Gabel. Überlegungen zum Ausstellen von Literatur. Bielefeld 2013, S. 7–23.
LIENERT, Elisabeth: »Perspektiven der Deutung des Nibelungenliedes«. In: Joachim Heinzle, Klaus Klein u. Ute Obhof (Hg.): Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos. Wiesbaden 2003, S. 91–112.
MARTIN, Bernhard R.: Nibelungen-Metamorphosen. Die Geschichte eines Mythos. München 1992.
MÜLLER, Jan-Dirk: »Das Nibelungenlied«. In: Horst Brunner (Hg.): Interpretationen. Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Bibl. erg. Ausg. Stuttgart 2004, S. 146–172.
MÜLLER, Jan-Dirk: Das Nibelungenlied. 3. neu bearb. u. erw. Aufl. Berlin 2009.
MÜLLER, Ulrich: »Die Nibelungen: Literatur, Musik und Film im 19. und 20. Jahrhundert«. In: Joachim Heinzle, Klaus Klein u. Ute Obhof (Hg.): Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos. Wiesbaden 2003, S. 407–444.
KREISFREIE STADT WORMS. Nachrichtliches Verzeichnis der Kulturdenkmäler. http://denkmallisten.gdke-rlp.de/Worms.pdf (zuletzt eingesehen am 28. März 2019).
NIBELUNGENMUSEUM WORMS (Hg.): Das Buch des anonymen Dichters. Museumsführer. Worms 2001.
NIBELUNGENMUSEUM WORMS: Das Nibelungenmuseum Worms. https://www.nibelungenmuseum.de/nibelungenmuseum/Museum/ (zuletzt eingesehen am 24. März 2019).
NIBELUNGENMUSEUM WORMS: Der Hörturm. https://www.nibelungenmuseum.de/nibelungenmuseum/Museum/Hoerturm/ (zuletzt ein-gesehen am 24. März 2019).
NIBELUNGENMUSEUM WORMS: Der Sehturm. https://www.nibelungenmuseum.de/nibelungenmuseum/Museum/Sehturm/ (zuletzt ein-gesehen am 24. März 2019).
NIBELUNGENMUSEUM WORMS: Der Wehrgang. https://www.nibelungenmuseum.de/nibelungenmuseum/Museum/Wehrgang/ (zuletzt ein-gesehen am 24. März 2019).
NIBELUNGENMUSEUM WORMS: WAGNERs RING. https://www.nibelungenmuseum.de/nibelungenmuseum/Ausstellungen/Wagner/ (zuletzt eingesehen am 24. März 2019).
PENKE, Niels: »Werke und Wunderkammer. Das Jünger-Haus als fortgesetzte Autorschaft und musealer Sonderfall«. In: Katerina Kroucheva u. Barbara Schaff (Hg.): Kafkas Gabel. Überlegungen zum Ausstellen von Literatur. Bielefeld 2013, S. 185–196.
SCHÖNEICH, Juliane: »Relationale Poesie. Text. Raum. Sprache im Werk von Barbara Köhler«. In: Mauerschau 1 (2010), S. 142–154.
SCHUBERT, Christoph: Raumkonstitution durch Sprache. Blickführung, Bildschemata und Kohäsion in Deskriptionssequenzen englischer Texte. Tübingen 2009.
SCHULZE, Ursula: Das Nibelungenlied. Durchg. u. bibl. erg. Aufl. Stuttgart 2013.
SESINK, Werner: »Raum und Lernen«. In: Education Permanente. Schweizerische Zeitschrift für Weiterbildung 1 (2007), S. 16–18.
SIEGFRIEDMUSEUM XANTEN: Das Museum, undatiert. http://www.siegfriedmuseum-xanten.de/das-museum/ (zuletzt eingesehen am 13. November 2018).
WATANABE, Noriaki: »Kriemhild als Widerspenstige. »Rosengarten zu Worms A« und Frauenzucht«. In: Josef Fürnkäs, Masato Izumi u. Ralf Schnell (Hg.): Zwischenzeiten. Zwischenwelten. Festschrift für Kozo Hirao. Frankfurt / M. u.a. 2001, S. 105–119.
WIKIPEDIA PAGEVIEWS ANALYSIS: Nibelungenlied. https://tools.wmflabs.org/pageviews/?project=de.wikipedia.org&platform=all-access&agent=user&range=latest-20&pages=Nibelungenlied.
WENZ, Karin: Cybertextspace. Raummetaphern und Raumstruktur im Hypertext. https://www.netzliteratur.net/wenz/cybertextspace_dt.htm (zuletzt eingesehen am 28. März 2019).
WUNDERLICH, Werner (Hg.): Der Schatz des Drachentöters. Materialien zur Wirkungsgeschichte des Nibelungenliedes. Stuttgart 1977.
ZEISSIG, Vanessa: Performative Literatur. Neue Vermittlungs- und Inszenierungsmethoden in Literaturausstellungen. http://www.zkfl.de/134.html (zuletzt eingesehen am 28. März 2019).
- 1. Der Text des Nibelungenliedes wird im Folgenden zitiert nach: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B hg. von Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt u. kommentiert von Siegfried Grosse. Stuttgart 2011.
- 2. Vgl. https://www.nibelungenmuseum.de/nibelungenmuseum/index.php (zuletzt eingesehen am 13. November 2018).
- 3. Vgl. zur Klassifizierung von Literaturmuseen weiterführend Anna R. Hoffmann: »Zum Potential literaturmusealer Einrichtungen als Orte der Literaturvermittlung«. In: Christine Ott u. Dieter Wrobel (Hg.): Öffentliche Literaturdidaktik: Grundlegungen in Theorie und Praxis. Berlin 2018, S. 179–192.
- 4. Die räumlichen Verortungsversuche des Nibelungenliedes weisen eher in den Donauraum, ggf. nach Passau. Vgl. Jan-Dirk Müller: »Das Nibelungenlied«. In: Horst Brunner (Hg.): Interpretationen. Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Bibl. erg. Ausg. Stuttgart 2004, S. 146–172, hier S. 146.
- 5. Heike Gfrereis: »Literaturtheorie als Literaturdidaktik. Das Gründungskonzept des Literaturmuseums der Moderne«. In: Christine Ott u. Dieter Wrobel (Hg.): Öffentliche Literaturdidaktik: Grundlegungen in Theorie und Praxis. Berlin 2018, S. 193–208, hier S. 193.
- 6. Vgl. Joachim Heinzle: »Die Rezeption in der Neuzeit«. In: Badische Landesbibliothek Karlsruhe u. Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg.): »Uns ist in alten Mären…«. Das Nibelungenlied und seine Welt. Darmstadt 2003, S. 162–181; Ulrich Müller: »Die Nibelungen: Literatur, Musik und Film im 19. und 20. Jahrhundert«. In: Joachim Heinzle, Klaus Klein u. Ute Obhof (Hg.): Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos. Wiesbaden 2003, S. 407–444.
- 7. Vgl.: »Auf zum Teil überbauten historischen Gebäuderesten beherbergt das Museum Ausstellungsstücke aus 600 Jahren Nibelungenrezeption und zeigt ein dramatisches Bild jeder einzelnen Epoche« (Siegfriedmuseum Xanten: Das Museum, undatiert. http://www.siegfriedmuseum-xanten.de/das-museum/ [zuletzt eingesehen am 13. November 2018]).
- 8. Im Folgenden zitiert nach: Nibelungenmuseum Worms (Hg.): Das Buch des anonymen Dichters. Museumsführer. Worms 2001.
- 9. Vgl.: »Im 21. Jahrhundert werden in Literaturmuseen noch immer vorrangig die Biografie des Autors und die Entstehungsgeschichte eines Werks vorzugsweise am authentischen Ort ausgestellt. Der Inhalt, also das tatsächlich Literarische, kommt nicht zuletzt deshalb zu kurz, weil es bei der Visualisierung, also beispielsweise bei der Übersetzung in Raum oder Film, stets eine Verschiebung seines Mediums provoziert und damit eine Art Dogma der Museumswelt zur Unausstellbarkeit von Literatur mit sich bringt« (Vanessa Zeissig: Performative Literatur. Neue Vermittlungs- und Inszenierungsmethoden in Literaturausstellungen, undatiert. http://www.zkfl.de/134.html [zuletzt eingesehen am 13. November 2018]).
- 10. Vgl. zur »dichotomen Konzeption von Materialität und immateriellem Sinn« Lis Hansen u. Janneke Schoene: »Das Immaterielle ausstellen. Zur Einführung«. In: Dies. u. Levke Teßmann (Hg.): Das Immaterielle ausstellen: Zur Musealisierung von Literatur und performativer Kunst. Bielefeld 2017, S. 11–31, hier S. 13. Siehe auch den thematischen Überblick und weiterführende Literatur, in: Ebd., S. 12–14.
- 11. Vgl. zu Fritz Langs Nibelungenliedverfilmung Heinz-B. Heller: »›…Nur dann überzeugend und eindringlich, wenn es sich mit dem Wesen der Zeit deckt…‹. Fritz Langs Nibelungen-Film als ›Zeitbild‹«. In: Joachim Heinzle, Klaus Klein u. Ute Obhof (Hg.): Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos. Wiesbaden 2003, S. 497–509.
- 12. Vgl. zum hier verwendeten Begriff des Paratextes Christoph Jürgensen: ›Der Rahmen arbeitet‹. Paratextuelle Strategien der Lektürelenkung im Werk Arno Schmidts. Göttingen 2007, S. 11–38. Im Folgenden werden Paratexte nicht primär als »Zone der Transaktion zwischen Text und Nicht-Text« (ebd., S. 16) verstanden, sondern hinsichtlich ihrer »Stellung im Prozess der literarischen Kommunikation« (ebd., S. 17) und ihrem »funktionalen Charakter« (ebd.) nach definiert: »Mittels der Elemente des Paratextes [...] [entstehen] Lektüreanleitungen, ohne die zentrale Sinnzusammenhänge übersehen und [...] missverstanden werden können« (ebd.).
- 13. Vgl.: »Erst seit der Jahrhundertwende sind Literaturausstellungen nicht mehr gleichzusetzen mit Archivausstellungen. Sie haben sich vom Papier gelöst, den Raum der Architektur und vor allem auch der neuen Medien entdeckt, um Literatur in eine andere Oberflächen- und manchmal auch Strukturerfahrung zu übersetzen« (Heike Gfrereis u. Ellen Strittmatter: »Die dritte Dimension. Ausgestellte Textualität bei Ernst Jünger«. In: Katerina Kroucheva u. Barbara Schaff [Hg.]: Kafkas Gabel. Überlegungen zum Ausstellen von Literatur. Bielefeld 2013, S. 25–52, hier S .26).
- 14. Vgl. zum Begriff des »Nibelungischen Stil[s]« Joachim Heinzle: Die Nibelungen. Lied und Sage. 2. überab. u. akt. Aufl. Darmstadt 2012, S. 53f.
- 15. Nach der Systematisierung Hoffmanns handelt es sich somit um ein ausstellungsbetrieblich orientiertes Literaturmuseum (Typ 2): »Sogenannte Primärerfahrungen bleiben den Besucher/innen somit sowohl in Hinblick auf die (originalen) Objekte als auch auf den ›authentischen Ort‹ [...] verwehrt. Dafür bieten sie im Gegensatz [...] gut strukturierte und ansprechend designte (chronologische) Ausstellungen, die grundlegende Informationen zu Autor/in und Werk sowie geschichtliche Hintergründe bieten«, in: Hoffmann: »Potential literaturmusealer Einrichtungen« (Anm. 3), S. 183f.; vgl. auch ebd., S. 189.
- 16. Vgl. Art. »Nibelungenlied«. In: Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/Nibelungenlied.
- 17. Vgl. Wikipedia Pageviews Analysis: Nibelungenlied. https://tools.wmflabs.org/pageviews/?project=de.wikipedia.org&platform=all-access&agent=user&range=latest-20&pages=Nibelungenlied (zuletzt eingesehen am 24. März 2019).
- 18. Dies gilt auch, da eine verbindliche, in Lehrplänen festgeschriebene Lektüre des Nibelungenliedes in deutschen Schulen kaum mehr vorgesehen ist.
- 19. Ausdrücklich ausgeklammert bleibt hierbei die Frage, ob das Vermittlungskonzept aus museumsdidaktischer Perspektive gelungen ist. Die folgenden Analysen zielen ausschließlich auf textuelle Veränderungen des Nibelungenliedes in der musealen Darstellung.
- 20. Vgl. für den räumlichen Aufbau des Museums Das Nibelungenmuseum Worms: Das Nibelungenmuseum Worms. https://www.nibelungenmuseum.de/nibelungenmuseum/Museum/ (zuletzt eingesehen am 24. März 2019).
- 21. Zusätzlich zu diesen Haltepunkten sind Stationen zu Wagners Ring integriert. Da diese aber über einen zweiten Audio-Guide angesteuert werden, es sich also um einen zweiten, gesonderten Durchlauf handelt, bleibt dies im Folgenden ausgeklammert. Vgl. Nibelungenmuseum Worms: WAGNERs RING. https://www.nibelungenmuseum.de/nibelungenmuseum/Ausstellungen/Wagner/ (zuletzt eingesehen am 24. März 2019).
- 22. Vgl. Nibelungenmuseum Worms: Der Sehturm. https://www.nibelungenmuseum.de/nibelungenmuseum/Museum/Sehturm/ (zuletzt eingesehen am 24. März 2019).
- 23. Vgl. hierzu den Kommentar des Museumsführers: »In der Mitte des Turmes hängt ein monumentales, goldenes Zepter (auch ›Rütelin‹ genannt), das uns an den ›verfluchten‹ Nibelungenschatz erinnern soll«.
- 24. Vgl. »Alle Bestandteile des Mythos sind hier enthalten, in dem Zepter [das ist das Rütelin], das sich vor Ihnen erhebt. Woher stammt das goldene Ding? Wer hat das erste Stück geschmiedet?... Nun, ich selbst vielleicht, ohne es zu wissen, als ich an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert diese merkwürdige Geschichte verfasst habe. […] Ich habe alles geprüft, alles verglichen und nach bestem Wissen und Gewissen das herausgezogen, was mir richtig schien. Am Ende stand das Nibelungenlied auf dem Pergament, zum ersten Mal. So habe vielleicht auch ich dazu beigetragen, dem Mythos Gestalt zu geben: dem goldenen Stab hier. Aber bin ich dafür verantwortlich, was nach meinem Tod durch all die geschah, die sich seiner bemächtigten? Darf ich dafür gescholten werden, dass sich das Zepter in eine Höllenmaschine verwandelte?« (Nibelungenmuseum Worms: Buch des anonymen Dichters [Anm. 8], S. 30).
- 25. Vgl. den Eintrag zum Torturmplatz, in: Stadt Worms: Nachrichtliches Verzeichnis der Kulturdenkmäler. Kreisfreie Stadt Worms. http://denkmallisten.gdke-rlp.de/Worms.pdf (zuletzt eingesehen am 24. März 2019), S. 18.
- 26. Vgl. Nibelungenmuseum Worms: Der Wehrgang. https://www.nibelungenmuseum.de/nibelungenmuseum/Museum/Wehrgang/ (zuletzt eingesehen am 24. März 2019).
- 27. Nibelungenmuseum Worms: Buch des anonymen Dichters (Anm. 8), S. 94f.
- 28. Vgl. »[D]ie Autorität des ausgestellten Objekts, die zunächst mit seiner Authentizität einhergeht, [ist] sinnstiftend. [...] So wird [...] der Status eines Ortes vorausgesetzt, der die literarische Aura beheimatet und ihr zur Entfaltung im Rahmen der ›literarischen Rekonstruktion‹ in Form eines ›begehbaren Romans‹ verhilft« (Katerina Kroucheva u. Barbara Schaff: »Einleitung«. In: Dies. [Hg.]: Kafkas Gabel. Überlegungen zum Ausstellen von Literatur. Bielefeld 2013, S. 7–23, hier S. 13 [das Zitat ist ursprünglich bezogen auf das Buddenbrookhaus]). Vgl. zum Verhältnis von Original und Inszenierung ferner Hoffmann: »Zum Potential literaturmusealer Einrichtungen als Orte der Literaturvermittlung«. (Anm. 3), S. 180f.
- 29. Vgl. »[D]ie Bauten bleiben bloße Kulisse, stereotype Versatzstücke ohne individuellen Zug. Kein Detail weist das Gebäude, vor dem die Königinnen streiten, als den realen Wormser Dom aus«. Heinzle: Die Nibelungen (Anm. 14), S. 71.
- 30. Vgl. zur »Illusionsbildung von Authentizität« durch »die Verknüpfung von Biografie und Literatur in einem Haus« Niels Penke: »Werke und Wunderkammer. Das Jünger-Haus als fortgesetzte Autorschaft und musealer Sonderfall«. In: Katerina Kroucheva u. Barbara Schaff (Hg.): Kafkas Gabel. Überlegungen zum Ausstellen von Literatur. Bielefeld 2013, S. 185–196, hier 188.
- 31. Vgl. Nibelungenmuseum Worms: Der Hörturm. https://www.nibelungenmuseum.de/nibelungenmuseum/Museum/Hoerturm/ (zuletzt eingesehen am 24. März 2019).
- 32. Das heißt alle Texte des ›Sehturms‹ und des Wehrgangs sowie die Textteile des ›Hörturms‹, die keine Zitate oder Übersetzungen aus dem Nibelungenlied sind.
- 33. Hansen u. Schoene: »Das Immaterielle ausstellen« (Anm. 10), S. 22.
- 34. Kroucheva u. Schaff: »Einleitung« (Anm. 27), S. 12.
- 35. Hieraus resultiert eine unterschiedliche Perspektivierung: Im ›Sehturm‹ ist »die Änderung der Blickmöglichkeiten [...] abhängig von der Bewegungsmotivation des Betrachters [...]. So ergeben sich unterschiedliche Perspektiven, wenn sich das Blicksubjekt zum Beispiel in festem Abstand am Objekt entlang bzw. in gleich bleibendem Radius um das Betrachtete herum bewegt« (Christoph Schubert: Raumkonstitution durch Sprache. Blickführung, Bildschemata und Kohäsion in Deskriptionssequenzen englischer Texte. Tübingen 2009, S. 77). Anders verhält es sich bei der statischen Positionierung im ›Hörturm‹: »Die Funktionen dieses Typs liegen [...] in der [...] plastischen Verbildlichung, die durch die Ruheposition mit lang anhaltenden Fixationen ermöglicht wird. Die Statik des Betrachters gestattet ihm keine genauere Inspektion durch Annäherung, doch garantiert sie eine gleichbleibende präzise Blickmöglichkeit« (ebd. S. 75).
- 36. Zusätzlich zu diesen drei Stationen ist im Nibelungenmuseum noch das ›Mythenlabor‹ besuchbar. Dieser Raum ist aber nicht mehr Teil des Rundgangs und bleibt daher im Folgenden unberücksichtigt.
- 37. Dies ist das Resultat der »Wahrnehmung der materiellen und logischen Struktur des geschriebenen Textes: das Äußere, wie es auf der Seite erscheint, und die Textstruktur selbst werden durch Raummetaphern beschrieben. Zum einen beziehen diese sich auf die Zweidimensionalität der (Buch-) Seite und des Bildschirms mit ihren sichtbaren Begrenzungen, zum anderen auf die eindimensionale Linearität von Sprache und Schrift, auf das Ergebnis des Linearisierungsprozesses und die Eindimensionalität des Lesens in der Abfolge der Zeit« (Karin Wenz: Cybertextspace. Raummetaphern und Raumstruktur im Hypertext, undatiert. https://www.netzliteratur.net/wenz/cybertextspace_dt.htm [zuletzt eingesehen am 24. März 2019]).
- 38. Vgl. »Literaturausstellungen können eine Textualität exponieren, die spezifisch räumlich ist und die in ihrer Dynamik, ihrer realen Präsenz und ihren ungeheuren Ausmaßen nur im Medium der Ausstellung rekonstruiert und damit auch dekonstruiert und vermittelt werden kann. Sie können das tun, indem sie den reproduzierten Text zum Exponat machen« (Gfrereis u. Strittmatter: »Die dritte Dimension« [Anm. 13], S. 26).
- 39. Vgl. Wenz: Cybertextspace (Anm. 37).
- 40. Ebd.
- 41. Vgl. »Literatur im Archiv und im Museum bringt uns tendenziell dazu, offensichtliche Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. Sie ist primär etwas Fragwürdiges, zumindest Merkwürdiges. Schon die Dialektik, mit der wir üblicherweise die Literatur von der bildenden Kunst unterscheiden – Inhalt gegen Form, Unsichtbarkeit gegen Sichtbarkeit, auch Ausdruck gegen Berührung –, trifft nicht deren Kern, sondern unser Klischee und stimmt beim genauen Hinsehen nicht. Schrift, unabhängig ob sie auf Papier steht oder auf einem Screen, ist konkret und materiell. Es gehört zu den Phänomenen des Lesens, dass die Leser die Schrift vergessen und sie in ihre einzigartig subjektive Vorstellungswelt verwandeln, und zu den Aufgaben oder auch Nebenwirkungen der Handschrift wie der Typographie, das zu erleichtern oder auch zu erschweren. Archivalien und Ausstellungen zeigen gerade vom Material aus, wie Texte und Kontexte, Autoren und Leser konstruiert, dekonstruiert und rekonstruiert werden können« (Gfrereis: »Literaturtheorie als Literaturdidaktik« [Anm. 5], S. 196).
- 42. Vgl. »Es dürfte somit nur noch von wenigen bestritten werden, daß am langen Entstehungsprozeß des Nibelungenliedes beide Bildungswelten, die der illiterati wie der literati, wesentlichen Anteil haben. Das gilt vermutlich schon für die Anfänge der Sagentradition, höchstwahrscheinlich aber dann für die Ausformung jenes poetischen Gebildes, das […] auf Pergament gelangt ist« (Fritz Peter Knapp: »Tragoedia und Planctus. Der Eintritt des Nibelungenliedes in die Welt der litterati«. In: Christoph Fasbender [Hg.]: Nibelungenlied und Nibelungenklage. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2005, S. 30–47, hier S. 30). Vgl. zum Prozess der Verschriftlichung »dieses aus der uralten schriftlosen Dichtungstradition stammenden deutschen Heldenepos« (ebd., S. 44) auch: ebd., besonders S. 39–44. Vgl. weiterführende Literatur unter ebd., Anm. 1. Vgl. ferner Joachim Heinzle: »Von der Sage zum Epos«. In: Badische Landesbibliothek Karlsruhe u. Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg.): »Uns ist in alten Mären…«. Das Nibelungenlied und seine Welt. Darmstadt 2003, S. 20–29; Michael Curschmann: »›Nibelungenlied« und »Nibelungenklage«. Über Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Prozeß der Episierung«. In: Christoph Fasbender (Hg.): Nibelungenlied und Nibelungenklage. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2005, S. 159–189; Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied. 3. neu bearb. u. erw. Aufl. Berlin 2009, S. 31–34; Elisabeth Lienert: »Perspektiven der Deutung des Nibelungenliedes«. In: Joachim Heinzle, Klaus Klein u. Ute Obhof (Hg.): Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos. Wiesbaden 2003, S. 91–112, hier S. 93–96.
- 43. Vgl. Ursula Schulze: Das Nibelungenlied. Durchg. u. bibl. erg. Aufl. Stuttgart 2013, S. 77–81. Prägnant lässt sich das in der Prologstrophe der Hss. A und C fassen: »Wir haben in dieser Strophe die literarisch-poetische Metapher für den Akt des mündlichen Erzählens« (Curschmann: »›Nibelungenlied« und »Nibelungenklage‹« [Anm. 42], S. 166.
- 44. Vgl. Heinzle: Die Nibelungen (Anm. 14), S. 39–43.
- 45. Anne-Kathrin Hillenbach: Literatur und Fotografie. Analysen eines intermedialen Verhältnisses. Bielefeld 2012, S. 10.
- 46. Dies war in einer früheren Version des Museums nicht der Fall, in der die auditiven Texte durch die Nähe zu bestimmten Kontaktpunkten automatisch abgespielt wurden.
- 47. Vgl.: »Da [...] kein Rezeptionsleitfaden vorgegeben ist, sondern die LeserInnen entscheiden, was wann in welcher Reihenfolge gelesen wird, können der historisch-mythischen Perspektive der Gesprächsgegenwart multiple Perspektiven in der Lektürezeit hinzugefügt werden. [...] Dementsprechend bestimmt die notwendige performative Lektüre sowohl zeitliche als auch räumliche Aspekte. Die Bewegung der RezipientInnen im Raum ergänzen die Raumreferenzen der Gestalt- und Objektidentifikationen, das ›Was‹ und ›Wo‹ durch ein ›Wann‹« (Juliane Schöneich: »Relationale Poesie. Text. Raum. Sprache im Werk von Barbara Köhler«. In: Mauerschau 1 [2010], S. 142–154, hier S. 148).
- 48. Nibelungenmuseum Worms: Das Buch des anonymen Dichters (Anm. 8), S. 29.
- 49. Ebd.
- 50. Dieses Prinzip gilt allerdings nur idealiter, denn noch immer kann der Rezipient natürlich unabhängig von diesen Thronen an jeder beliebigen Position des Turmes jede Texteinheit des Audio-Guides abspielen.
- 51. Solche Doppelungen sind durchaus auch in der Struktur des Nibelungenliedes selbst angelegt, das »großräumige Zusammenhänge […] durch Parallelisierung verwandter Figuren und analoger Situationen und durch scheinbar redundante Doppelungen [herstellt], die sich bei genauerer Betrachtung als Varianten erweisen«. Müller: Das Nibelungenlied (Anm. 42), S. 66.
- 52. Vgl. hierzu die Gliederung in: Nibelungenmuseum Worms: Das Buch des anonymen Dichters (Anm. 8), S. 3; Kapitel I – Sehturm. Wie der Mythos entstand. Bilder des Mythos. Kapitel II – Hörturm. Wie das Nibelungenlied geschrieben wurde. Bilder des Liedes.
- 53. Vgl. hierzu grundsätzlich Bernhard R. Martin: Nibelungen-Metamorphosen. Die Geschichte eines Mythos. München 1992.
- 54. »Im gestalteten Raum (room) finden wir Bestimmungen wie Nähe und Ferne, Oben und Unten, Innen und Außen, Objekte und Funktionen, Beziehungen und Isolationen usw. vor. Im zu gestaltenden Raum (space) müssen all diese Bestimmungen erst noch getroffen werden. Der gestaltete Raum verlangt, seinen Bestimmungen gerecht zu werden; der zu gestaltende Raum ist (noch) leer und (erst) zu konstruieren. Der gestaltete Raum bietet bestimmte Möglichkeiten an; der zu gestaltende Raum fragt nach Möglichkeiten bzw. fordert auf, seine Möglichkeiten zu bestimmen« (Werner Sesink: »Raum und Lernen«. In: Education Permanente. Schweizerische Zeitschrift für Weiterbildung 1 (2007), S. 16–18, hier S. 17).
- 55. Thematisiert wird die handschriftliche Überlieferung im Eingangsbereich des ›Hörturms‹ (Station 13 und Zusatz, vgl. Nibelungenmuseum Worms: Das Buch des anonymen Dichters [Anm. 8], S. 59–62, S .66). Im Museum und damit auch im hier als Quelle verwendeten Buch des anonymen Dichters wird sich hinsichtlich der Strophenzählung an der Nibelungenausgabe (1870) von Karls Bartsch orientiert. Der hier eigentlich nach der Handschrift B wiedergegebene Text verhält sich aber zu der tatsächlichen Strophenreihung der Handschrift (und damit zu den aktuellen Ausgaben des B-Textes) diskrepant, wodurch die Strophenzählung im Buch des anonymen Dichters nicht mit der hier zitierten Ausgabe Schulzes (vgl. Anm. 1) übereinstimmt. Daher wird im Folgenden dort, wo es relevant ist, zwischen dem mittelhochdeutschen B-Text (b) und dem im Museum verwendeten Text des Buches des anonymen Dichters (m) differenziert, wobei die Angabe m natürlich nicht mit der Sigle des Darmstädter Aventiurenverzeichnis (m) identisch ist. Auf die Diskrepanz innerhalb der handschriftlichen Überlieferung wird ferner im Folgenden nicht eingegangen.
- 56. Vgl. zu den Handschriften des Nibelungenliedes Heinzle: Die Niebelungen (Anm. 14), S. 62–70; Klaus Klein: »Die Handschriften«. In: Badische Landesbibliothek Karlsruhe u. Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg.): »Uns ist in alten Mären...«. Das Nibelungenlied und seine Welt. Darmstadt 2003, S. 188–208.
- 57. Nibelungenmuseum Worms: Das Buch des anonymen Dichters (Anm. 8), S. 35.
- 58. Zuvor ist im ›Hörturm‹ nur der kurze Exkurs zur Überlieferungs- und Editionsgeschichte angesiedelt (Station 13 und 13 Zusatz), vgl. ebd., S. 59–62.
- 59. Ebd., S. 64. Vgl. auch: »Jedenfalls sind bei dem C-Bearbeiter nicht nur einige Irrtümer richtiggestellt und Widersprüche behoben, sondern vor allem wird hier auch deutlich gesagt, wer an der Katastrophe schuld war. Hagen nämlich. Der wird hier als schwarzer Bösewicht hingestellt. Und auf der anderen Seite kommt Kriemhild viel besser weg. Ob man da die Frauen nicht etwas unterschätz?« (ebd., S. 66).
- 60. Ebd., S. 66.
- 61. Diese Einschätzung lässt sich auch mit dem Nibelungenlied selbst begründen: »Es ist [...] die Rolle Kriemhilds, die Teil I und II zusammenhält« (Ingrid Bennewitz: »Kriemhild und Kudrun. Heldinnen-Epik statt Helden-Epik«. In: Klaus Zatloukal (Hg.): 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Mittelhochdeutsche Heldendichtung ausserhalb des Nibelungen- und Dietrichkreises (Kudrun, Ortnit, Waltharius, Wolfdietrich). Wien 2003, S. 9–20, hier S. 11; die Paratexte der Hs. D (Daz ist das Buoch Chreimhilden) und des Ambrasser Heldenbuchs (Ditz Puech Heysset Chrimhilt) zeigen, »wem zumindest die Schreiber und Auftraggeber dieser Handschriften die entscheidende und handlungstragende Rolle zuordneten« (ebd., S. 12). Und schließlich beginnen alle Handschriften »gleichermaßen mit der Vorstellung der höfisch erzogenen jungen Dame in Worms« (ebd.), ein »seltsamer Einsatz für ein Heldenepos« (Müller: »Das Nibelungenlied« [Anm. 4], S. 153).
- 62. Vgl. zur Diskrepanz der Strophenzählung oben, Anm. 55.
- 63. Vgl. Müller: Das Nibelungenlied (Anm. 42), S. 105–114.
- 64. Vgl. »Dieser emotionale Ausbruch motiviert die nun folgende jahrzehntelange Rechtssuche als Blutrache und Wiederherstellung ihrer [das ist Kriemhilds] Ehre« (Otfrid Ehrismann: »Kriemhild-*C«. In: Jürgen Breuer [Hg.]: Ze Lorse bi dem münster. Das Nibelungenlied (Handschrift C). Literarische Innovation und politische Zeitgeschichte. München 2006, S. 225–247, hier S. 231).
- 65. Vgl. »The poet makes repeated, deliberate references to this great feeling of love« (Otfrid Ehrismann: »›ze stücken was gehouwen dô daz edele wîp«: The Reception of Kriemhild«. In: Winder McConnel [Hg.]: A Companion to the Nibelungenlied. Columbia 1998, S. 18–41, hier S. 25).
- 66. Sîvride dem herren wart beide lieb und leit (282,4b): Das machte Herrn Siegfried freudig stolz und traurig zugleich.
- 67. wie kunde daz ergân, / daz ich dich [Kriemhild] minnen solde (283,1f.b): Wie könnte ich nur Deine Liebe gewinnen?
- 68. »Wenn ich Dich jedoch meiden sollte, dann wäre es besser, ich wäre tot!« (285m) – sol aber ich dich vremeden, sô waere ich sanfter tôt (283,3b).
- 69. er wart von den gedanken vil dicke bleich und rôt (283,4b): Bei diesem Gedanken wurde er in raschem Wechsel blass und rot.
- 70. Er neig ir flîzecliche. […] / wie rehte minnecliche er bî der frouwen gie! (291,1f.b): Er verneigte sich vor ihr beflissen. [...] Wie so liebevoll ging er neben der jungen Herrin.
- 71. mit lieben ougenblicken einander sâhen an / der herre und ouch diu frouwe (291,3bf.): Sie sahen sich mit dem Blick verliebter Augen an – der Herr und auch die Dame.
- 72. Vgl. 130,2–4b: er truog in sîme sinne ein minneclîche meit, / und ouch in ein diu frouwe, di er noch nie gesach, / diu im in heinliche vil dicke güetlîchen sprach: Seine Gedanken waren erfüllt von dem einen liebenswerten Mädchen, und zugleich dachte auch Kriemhild an ihn, die er noch nie gesehen hatte, die unter ihren Vertrauten sehr oft freundlich von ihm sprach.
- 73. Vgl. 131,2–4b: daz sach vil dicke sint / Kriemhilt durch diu venster, diu kuneginne hêr. / deheiner kurzwîle bedorftes in den zîten mer: seit Siegfrieds Ankunft [sah] Kriemhild, die stolze Königin, oft von den Fenstern aus zu.
- 74. Vgl. 135,3b.
- 75. Vgl. zur Liebe und triuwe Kriemhilds Müller: Das Niebelungenlied (Anm. 42), S. 110–114.
- 76. Nibelungenmuseum Worms: Das Buch des anonymen Dichters (Anm. 8), S. 68.
- 77. Vgl. »Die Liebe des hohen Paares [...] geht in ihrer Tiefe weit über den höfischen Minnebegriff hinaus« (Ottfrid Ehrismann: Nibelungenlied. Epoche – Werk – Wirkung. 2. Aufl. München 2002, S. 103).
- 78. Dô rief vil trûreclîche diu vrouwe milt: /Ouwê mich mînes leides! (1009,1bf.): Da rief die edle Königin in großer Trauer: »O weh mir, welches Leid [...]«.
- 79. »Dein Schild ist nicht von Schwertern zerschlagen« (1012m); nu ist dir dîn schilt / mit swerten niht verhouwen (1009,2bf.).
- 80. »Zusammen mit ihrer lieben Herrin klagte und schrie die gesamte Dienerschaft« (1013m); Allez ir gesinde klagete und schrê / mit ir vil edelen vrouwen (1010,1bf.).
- 81. Vgl. »Great love occasions great grief«. Ehrismann: »ze stücken was gehouwen« (Anm. 64), S. 28.
- 82. Vgl. »The motivation for her actions is the murder of her husband. Given the tenor of the time in which the work was written, this motivation is complemented by the theme of the great love which overlaps the revenge motif aimed at restoring her honor«. Ehrismann: »ze stücken was gehouwen« (Anm. 64), S. 38.
- 83. Nibelungenmuseum Worms: Das Buch des anonymen Dichters (Anm. 8), S. 66.
- 84. Ebd., S. 69.
- 85. Vgl. zur Trauer Kriemhilds Müller: Das Niebelungenlied (Anm. 42), S. 133–140. Bereits die in Überlieferungsgemeinschaft zum Nibelungenlied stehende ›Klage‹ wertet die Trauer und triuwe Kriemhilds positiv, vgl. Ingrid Bennewitz: »Chlage über Kriemhild. Intertextualität, literarische Erinnerungsarbeit und die Konstruktion von Weiblichkeit in der mittelhochdeutschen Heldenepik«. In: Klaus Zatloukal (Hg.): 6. Pöchlarner Heldenliedgespräch. 800 Jahre Nibelungenlied. Rückblick – Einblick – Ausblick. Wien 2001, S. 26–36; Nikolaus Henkel: »›Nibelungenlied‹ und ›Klage‹. Überlegungen zum Nibelungenverständnis um 1200«. In: Christoph Fasbender (Hg.): Nibelungenlied und Nibelungenklage. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2005, S. 210–237, hier S. 223–228; Lienert: »Perspektiven« (Anm. 42), S. 101.
- 86. Ingrid Bennewitz: »Kriemhild im Rosengarten. Erzählstrukturen und Rollenkonstellationen im ›Großen Rosengarten‹«. In: Klaus Zatloukal (Hg.): 5. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Aventiure – Märchenhafte Dietrichsepik. Wien 2000, S. 39–59, hier S. 57; vgl. ferner Noriaki Watanabe: »Kriemhild als Widerspenstige. »Rosengarten zu Worms A« und Frauenzucht. « In: Josef Fürnkäs, Masato Izumi u. Ralf Schnell (Hg.): Zwischenzeiten. Zwischenwelten. Festschrift für Kozo Hirao. Frankfurt / M. u.a. 2001, S. 105–119.
- 87. Nibelungenmuseum Worms: Das Buch des anonymen Dichters (Anm. 8), S. 78.
- 88. Nibelungenmuseum Worms: Das Buch des anonymen Dichters (Anm. 8), S. 42.
- 89. Vgl. 1126,1bf.: »Dô sprach der künec Gunther: ›ir ist lîp und guot. / zwiu sol ich daz wenden, swaz si dâ mit getuot […]‹: Da sagte König Gunther: ›Leben und Besitz gehören ihr. Auf welche Weise soll ich ändern, was sie alles damit tut? [...]‹; 1129,2b–1130,3b: dô nâmen si der witwen daz kreftige guot. / Hagen sich der slüezzel aller underwant. / daz zurnde ir bruoder Gêrnôt, dô er daz rehte bevant. // Dô sprach der herre Gîselher: ›Hagen hât getân / vil leides mîner swester. ich solde iz understân. / waere er niht mîn mâg, ez gienge im an den lîp‹: Da nahmen sie der Witwe den stattlichen Besitz weg. Hagen hatte sich aller Schlüssel bemächtigt. Darüber war ihr Bruder Gernot zornig, als er das erfuhr. Da sagte Herr Giselherr: »Hagen hat meiner Schwester erneut tiefes Leid zugefügt. Ich hätte es verhindern sollen. Wäre er nicht mein Verwandter, es kostete ihn das Leben«.
- 90. Der Hintergrund hierfür ist die Tatsache, »daß der Umgang mit dem Nibelungen-Stoff in Kunst und Politik des 19. und 20. Jahrhunderts eines der großen Paradigmen ist für die Wirkungsmächtigkeit nationalistischer Symbole« (Joachim Heinzle: »Der deutscheste aller Stoffe«. In: ders. u. Anneliese Waldschmidt [Hg.]: Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Albtraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt / M. 1991, S. 7–18, hier S. 8.
- 91. Vgl. hierzu: Werner Wunderlich (Hg.): Der Schatz des Drachentöters. Materialien zur Wirkungsgeschichte des Nibelungenliedes. Stuttgart 1977, S. 70–80.
- 92. Nibelungenmuseum Worms: Das Buch des anonymen Dichters (Anm. 8), S. 40.
- 93. Curschmann: »›Nibelungenlied‹ und »›Nibelungenklage‹« (Anm. 42), S. 166.
- 94. Darüber hinaus auch in der Tradition der Stoffgeschichte, denn die Rache Kriemhilds war ursprünglich eine für ihre ermordeten Brüder (so im Atlilied) und damit durch die Bindung der Sippe, nicht der Minne bedingt. Vgl. Müller: »Das Nibelungenlied« (Anm. 4), S. 151f.
- 95. Müller: Das Niebelungenlied (Anm. 42), S. 112f.
- 96. Heinzle: Die Niebelungen (Anm. 14), S. 60; vgl. auch ebd., S. 56–62; Curschmann: »›Nibelungenlied« und »Nibelungenklage‹« (Anm. 42), S. 168–170.
- 97. Nibelungenmuseum Worms: Das Buch des anonymen Dichters (Anm. 8), S. 34.
- 98. Ebd.
- 99. Ebd., S. 36.
- 100. Ebd.
Add comment