Benjamin
Gittel
Göttingen

Die Architektur fiktionaler Kritik

Evaluative Textstrukturen, Codierungen und implizite Assertionen

Bei der Deutung fiktionaler literarischer Werke kommt der textinternen Wertung sowie der spezifisch-semantischen ›Aufladung‹ beziehungsweise Codierung von Entitäten wie Figuren, Räumen oder Zeitabschnitten bekanntlich eine große Bedeutung zu. Insbesondere um Textbedeutungen zweiter Ordnung zu eruieren, ist die Rekonstruktion evaluativer Textstrukturen häufig unerlässlich. Mit Textbedeutungen zweiter Ordnung sind Bedeutungen gemeint, die den fiktionalen Gehalt, also das, was in der fiktiven Welt der Fall ist, transzendieren,1 also Zuschreibungen wie Goethes Wahlverwandtschaften sei ein Roman über die Tragik des Zeichenverstehens, Die Schlafwandler eine Romantrilogie über den Zerfall gesellschaftlicher Werte oder Tellkamps Der Turm »ein großartig-stolzer Abgesang auf das deutsche Bildungsbürgerturm«.2 Teilweise können solche Bedeutungszuschreibungen die Identifikation von »implied truths«3 beziehungsweise »implicit assertions«4 – es sind hier in der Literaturtheorie unterschiedliche Begriffe vorgeschlagen worden5 – annehmen oder in sie überführt werden. Gemeint sind damit auf die reale Welt bezogene Propositionen, die obzwar nicht im fiktionalen Werk selbst vorfindlich, so doch von ihm suggeriert oder nahegelegt werden. Sie werden im Rahmen eines Interpretationsprozesses aus der fiktionalen Darstellung ›abgeleitet‹, wobei »abgeleitet« keine wie auch immer geartete logische Folgebeziehung, sondern eine nicht leicht näher zu bestimmende Relation beschreibt, die so vielfältig sein kann wie die Arten und Weisen der Interpretation selbst. In der literaturkritischen und literaturwissenschaftlichen Praxis wird diese Relation oft durch Formeln wie »Das Werk zeigt, dass/wie p« oder »Das Werk veranschaulicht, dass/wie p« ausgedrückt.6 

Ein Ziel des hier sehr selektiv mit Blick auf literaturtheoretisch relevante Aspekte vorgestellten Projekts »Modernity as Loss? Textual Structures, Variants, and Cycles of Literary Cultural Critique«7 ist es, am Beispiel einer bestimmten Art von fiktionalen Texten, die implizite Assertionen teilweise auf vergleichsweise schematische Art und Weise erzeugen, Licht ins Dunkel der Generierung und Rechtfertigung impliziter Assertionen zu bringen. Das Projekt untersucht daher kulturkritische fiktionale Texte, das heißt Texte, die eine weit verbreitete Form der Modernekritik ausdrücken, die die Gegenwart an einer idealisierten Vergangenheit misst und zeitgenössische kulturelle Phänomene als Verfallssymptome interpretiert.8 Dazu gehören in der deutschsprachigen Literatur etwa Texte von Bachmann, Broch, Eichendorff, Goll, Hofmannsthal, Hölderlin, Kafka, Koeppen oder J. Roth. Mit den Begriffen ›Generierung‹ und ›Rechtfertigung‹ ist schon angedeutet, dass sich das Projekt dem Problem sowohl aus empirischer als auch aus literaturtheoretischer Sicht widmet: Zum einen soll mithilfe von kollaborativer, softwaregestützter Annotation und computationellen Modellen untersucht werden, wie bestimmte evaluative Textstrukturen einerseits und Zuschreibungen impliziter Assertionen andererseits statistisch zusammenhängen. Zum anderen untersucht das Projekt, welche textuellen und außertextuellen Elemente relevant für die Rechtfertigung der Interpretationen sind, die kulturkritische implizite Assertionen zuschreiben. 

Eine Arbeitshypothese, die für beide Untersuchungsdimensionen relevant ist, lautet, dass fiktionale Kulturkritik (d.h. kulturkritische implizite Assertionen) sich textuell in Oppositionen, insbesondere Wertoppositionen, zwischen Entitäten der fiktiven Welt wie Figuren, Räumen oder Zeitabschnitten manifestiert. Mit evaluativen Textstrukturen sind a) explizite und implizite Wertungen gemeint, b) die spezifisch semantische ›Aufladung‹ (im Folgenden »Codierung«) von innerfiktionalen Entitäten wie Figuren, Räumen oder Zeitabschnitten und c) die Oppositionen beziehungsweise Hierarchien zwischen fiktiven Entitäten, die sich aus beiden Aspekten ergeben (s. Abbildung 1, die exemplarisch die Annotation einer kurzen Passage aus Kleists Das Erdbeben in Chili zeigt). Während Wertungen in fiktionalen literarischen Texten seit längerem, wenn auch eher selten, untersucht werden,9 ist die Untersuchung von Codierungen fiktiver Entitäten im oben explizierten Sinne kaum über die Erkenntnisse strukturalistischer Ansätze hinausgelangt,10 obwohl zumindest die Codierung von Räumen seit dem spatial turn unter dem Schlagwort Raumsemantik‹11 häufiger thematisiert wird. 

Abbildung 1 Annotation
Abb. 1: Annotation evaluativer Textstrukturen in Inception

Eine zweite Hypothese lautet, dass die globale Eigenschaft eines Textes, Kulturkritik auszudrücken, über den evaluativen Textstrukturen superveniert,12 das heißt, dass sich die globale Eigenschaft eines bestimmten Textes, Kulturkritik auszudrücken, nicht ändern kann, solange sich nicht die lokalen Eigenschaften (evaluative Passagen und ihre Interrelationen) ändern, während verschiedene Textkonfigurationen von wertenden Passagen Kulturkritik oder sogar dieselbe Art von Kulturkritik ausdrücken können (siehe Abbildung 2). Einen wichtigen Grund dafür vermutet das Projekt mit Hypothese 3 darin, dass nostalgische Einstellungen der Leser beziehungsweise Annotatoren die Generierung kulturkritischer impliziter Assertionen maßgeblich beeinflussen. 

Abbildung 2 Supervenienz
Abb. 2: Supervenienz impliziter (kulturkritischer) Assertionen auf evaluativen Textstrukturen

Was die Seite der Rechtfertigung impliziter Assertionen angeht, untersucht das Projekt anhand von Fallstudien zu unterschiedlichen Typen fiktionaler Kulturkritik erstens die ›evidentielle Sättigung‹ impliziter Assertionen, zweitens ihre illokutionäre Stärke und drittens ihren Zusammenhang mit dem Thema eines Werks, verstanden als Organisationsprinzip, welches einem Werk Kohärenz verleiht. Es geht also zum einen um den Unterschied zwischen lokalen impliziten Assertionen, die selektiv durch ganz bestimmte Textstellen belegt werden können, und globalen impliziten Assertionen, also solchen, die dem Text als Ganzem zugeschrieben werden. Letztere wurden in der Forschung zum Teil auch als »implicit thematic statements« beschrieben.13 Dies wirft die Frage auf, wie sich das Konzept der »impliziten Assertion« zum Thema eines Werkes verhält. Zu guter Letzt geht es auch um die illokutionäre Stärke impliziter Assertionen, denn offensichtlich können literarische Werke implizite Propositionen über die reale Welt anschaulich machen, ohne zu suggerieren, dass sie wahr sind. Diesen Unterschied besser zu verstehen, sollte es erlauben, Werke mit kulturkritischen Gehalten von kulturkritischen Werken zu unterscheiden, oder Werke mit sozialkritischen Gehalten von sozialkritischen Werken, oder Werke mit zeitkritischen Gehalten von zeitkritischen Werken usw.

Literaturverzeichnis

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  • 1. Zur Unterscheidung von gehaltsspezifizierenden und gehaltstranszendierenden interpretierenden Aussagen vgl. Christian Folde: Exploring Fictional Truth. Content, Interpretation, and Narration. Frankfurt a. M. 2021, S. 77–93.
  • 2. Eckhard Fuhr: »In postheroischen Stahlgewittern«. In: Die Welt vom 21. September 2008, https://www.welt.de/wams_print/article2473282/In-postheroischen-Stahlgew... (zuletzt eingesehen am 07. März 2023).
  • 3. Vgl. John Hospers: »Implied Truths in Literature«. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 29.1 (1960), S. 37–46.
  • 4. Jukka Mikkonen: »Implicit Assertions in Literary Fiction«. In: Proceedings of the European Society for Aesthetics 2 (2010), S. 312–330.
  • 5. Locus classicus ist Hospers: »Implied Truths in Literature«, S. 37–46. Daneben existieren u. a. »implied […] thesis« / »implicit thematic statement« (Peter Lamarque u. Stein Haugom Olsen: Truth, Fiction, and Literature. A Philosophical Perspective. Oxford 1994, S. 324), »implicit reflections« oder »theses« (Monroe C. Beardsley: Aesthetics. Problems in the Philosophy of Criticism. 2. Aufl. Indianapolis 1981, S. 415), »implicit assertions« (Mikkonen: »Implicit Assertions in Literary Fiction«, S. 312–330) sowie »implizite […] Propositionen« (Thomas Petraschka: Interpretation und Rationalität. Billigkeitsprinzipien in der philologischen Hermeneutik. Berlin 2014, S. 100).
  • 6. Vgl. Benjamin Gittel: »Der Roman zeigt, dass …‹ Implizite literarische Assertionen, Weltanschauungen und ideologiekritische Interpretationen«. In: Scientia Poetica 27 (2023) [zur Publikation angenommen] für vielfältige Beispiele aus der Deutungspraxis von Literaturkritiker*innen und Literaturwissenschaftler*innen.
  • 7. Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 497113588.
  • 8. Zum Begriff ›Kulturkritik‹ vgl. die maßgeblichen Darstellungen von Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders. München 2007; Ralf Konersmann: Kulturkritik. Frankfurt a. M. 2008; Theo Jung: Zeichen des Verfalls. Semantische Studien zur Entstehung der Kulturkritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 2012.
  • 9. Vgl. stellvertretend Simone Winko: Wertungen und Werte in Texten: axiologische Grundlagen und literaturwissenschaftliches Rekonstruktionsverfahren. Braunschweig 1991; Katharina Prinz u. Simone Winko: »Wie rekonstruiert man Wertungen und Werte in literarischen Texten«. In: Gabriele Rippl u. Simone Winko (Hg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. Stuttgart u. a. 2013, S. 402–407; Katharina Prinz: Helden und Verbrecher. Herausforderungen der wert- und normbezogenen Erzähltextanalyse. Berlin 2020.
  • 10. Vgl. stellvertretend: Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil. München 1972; Michael Titzmann: »Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik«. In: Roland Posner u. a. (Hg.): Semiotics: A Handbook on the Sign-theoretic Foundations of Nature and Culture, Bd. 3. Berlin 2003, S. 3028–3103, insbes. 3077–3083; Hans Krah: Einführung in die Literaturwissenschaft/Textanalyse. Unter Mitarbeit von Dennis Gräf, Stephanie Großmann u. Stefan Halft. 2., komplett überarb. und aktual. Aufl. Kiel 2015, insbes. S. 296–318.
  • 11. Vgl. etwa Jörg Dünne u. Andreas Mahler: »Einleitung«. In: Dies. (Hg.): Handbuch Literatur & Raum. Berlin u. a. 2015, S. 1–11, hier S. 4 sowie Eckhard Lobsien: »Literatur und Raumbegriff«. In: Philosophische Rundschau 60.2 (2013), S. 157–174, insbes. S. 158f.
  • 12. Zum Konzept der Supervenienz im Kontext der Ästhetik vgl. Gregory Currie: »Supervenience, Essentialism and Aesthetic Properties«. In: Philosophical Studies 58.3 (1990), S. 243–257.
  • 13. Vgl. Lamarque u. Olsen: Truth, Fiction, and Literature. A Philosophical Perspective, S. 324.

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