Theories of Literary Study
Oliver
Jahraus
München

Kommunikationszusammenhänge

Ausgangsbeitrag: Operativität und Akteure des Literatursystems, in: Textpraxis # 3

Dieser Beitrag steht in einem hochinteressanten Kommunikationszusammenhang, der fast schon dasjenige exemplifiziert, worum es in dieser Kommunikation geht, nämlich um einen spezifischen Zusammenhang von Kommunikationen. Daher ist es durchaus eine Ehre für mich, dass ich von der Zeitschrift Textpraxis aufgefordert wurde, David Assmanns Replik auf den Text von Dominik Schreiber meinerseits zu begutachten und zu kommentieren. 1 Es geht also um einen spezifischen Zusammenhang von Kommunikation(en), den man auf eine Weise als literarisch charakterisiert und ausweist, dass sich daraus die Konzeption eines Literatursystems ergibt.

In dem Text von Assmann gibt es eine Stelle, die ich nicht ganz nachvollziehen kann. Er nimmt zwar die »Gefahr« auf sich, sich »dem Vorwurf auszusetzen, aus systemtheoretischer Perspektive immer nur, gleichsam reflexartig, auf den Begriff des Akteurs einschlagen zu können«, 2 plädiert dann aber gar nicht für den Gefahrenfall, sondern im Gegenteil für eine differenzierte Handhabung der Differenz von Kommunikation und Akteur der Kommunikation (was im systemtheoretischen Kontext alles andere als trivial ist). Dies gibt wiederum die Möglichkeit, eine Folgedifferenzierung einzuführen, die zwischen Person und Funktion (als Differenz, deren Einheit der Akteursbegriff markiert), und diese ihrerseits differenziert zu handhaben. Hierin sehe ich den zentralen Punkt, der über die Ausführungen von Dominik Schreiber hinausgeht. Diese Weiterführung erscheint mir aus der immanenten Logik der Überlegungen durchaus überzeugend zu sein, sodass ich dazu wenig sagen kann.

Ich würde aber gerne Assmanns Text zum Anlass nehmen, um von der Unterscheidung zwischen Kommunikation und Akteur beziehungsweise Akteur als Person und Akteur als Funktion ein, zwei Schritte zurückzugehen, um von dort aus eigene Fragen und Überlegungen wenigstens im Ansatz zu skizzieren.

Ich denke, man kann auch an Assmanns Text deutlich sehen, dass Unterschiede Unterschiede nach sich ziehen, sodass man Differenzierungsketten vorwärts oder rückwärts nachverfolgen kann. Ganz deutlich wird dies dort, wo Assmann noch einmal auf die Unterscheidung von Text und Kommunikation eingeht, die der Unterscheidung von Kommunikation und Akteur ja noch vorausliegt. Dass er diese Unterscheidung nicht weiter verfolgen will, ist pragmatisch geboten und im Kontext der Replik auch legitim. Dennoch ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass diese Unterscheidung bei den weiteren Unterscheidungen – ich würde sogar sagen: latent – virulent bleibt.

Denn man kann ja fragen, was man denn beobachtet, wenn man Literatur als System oder ein Literatursystem beobachtet. Ich sehe zwar, welches argumentative Ziel Assmann verfolgt, aber ein weniger wohlwollender Blick könnte natürlich auch in der Differenz von Person und Funktion ein Unterscheidungsschema von Empirie und System erkennen, oder noch gravierender: eine Konfundierung von Empirie (oder mit Habermas gesagt: von Lebenswelt) und System. Meine Frage lautet daher am Ende der Assmann’schen Überlegungen: Ist das Literatursystem ein empirisches Faktum, das man phänomenologisch erfassen und systemtheoretisch rekonzeptualisieren kann oder will, oder ist es selbst nur ein Beobachtungsinstrument, mit dem man etwas anderes beobachtet, wie zum Beispiel bestimmte Kommunikationen an Kommunikationen spezifisch anschließen und diese Spezifität wiederum als literarisch ausgewiesen wird? Wie verhält es sich mit dem ontologischen Status des oder der Literatursystem(e)? Der Hinweis auf Luhmanns berühmte Formulierung zu Beginn der Sozialen Systeme bedarf vielleicht doch auch noch einmal der eigenen Kommentierung. 3 (Luhmanns Formulierung hat wiederum Armin Nassehi in einem eigenen Aufsatz kommentiert. 4 ) Ich denke, der Hinweis von Jörg Schönert ist durchaus hilfreich, weil er diese möglicherweise waltenden Unentschiedenheiten ganz klar mit einer soziologischen Perspektive löst. 5 Diese würde ich nicht zu meinen Interessen zählen, was bedeutsam für den Fortgang meiner Überlegungen ist, aber nichts an der argumentativen Funktion und Nützlichkeit des Hinweises ändert.

Meine Frage lautet also: Was intendieren wir zu beobachten? Wissenschaftstheoretisch ganz simpel gefragt: Was ist der Gegenstand unserer Beobachtung? Wollen wir das Literatursystem in seiner phänomenalen Breite mit all seinen Ingredienzien vom Buch über den Buchmarkt bis hin zu seinem Personal aus Autoren, Rezensenten, Buchhändlern, Lesern usw. erfassen, oder interessiert uns das Systemische an der Literatur selbst. Man könnte dies fast auf den begrifflichen Unterschied von ›Literatursystem‹ und ›Literatur als System‹ bringen. Ich habe den Eindruck, als sei dies nicht immer klar entschieden. Wenn man erst einmal in diesem Bereich sich Klarheit verschafft hat, verliert die Frage nach dem Code des Literatursystems ihre vexierende Kraft. Denn der Code ist ja nur ein theoriebautechnisches Element, um Literatur als System im Sinne einer sozial orientierten Systemtheorie aufzuweisen. In diesem Rahmen hat der Vorschlag von Albrecht Koschorke durchaus etwas Subversives und Bedenkenswertes gleichzeitig. 6 Jedes Subsystem der Gesellschaft kann alles beobachten, aber alles eben nur unter systemspezifischen Bedingungen des Beobachtens. Und kein Subsystem kann den Code wechseln, ohne seinen Status zu verlieren. Aber gerade das kann die Literatur seit dem 18. Jahrhundert. Insofern kann Literatur sich als Kunst ausgeben, muss es aber nicht. Es gibt Texte, die wir naiv als Literatur identifizieren, aber dabei gar nicht auf die Idee kommen, es sei Kunst. Und im Grunde genommen können Texte dies sogar mit allen anderen Beobachtungsweisen (das heißt: Differenzierungsmustern) machen, und es bleibt Literatur. Warum? Oder anders gewendet: Wo wäre die Antwort zu suchen? Nun ja, in der Literatur. Die Frage ist, wie man Literatur konzipiert, und der systemische Vorschlag ist ein Vorschlag, dessen Verfasstheit sich danach richten muss, dass er ein Vorschlag auf eben diese Frage ist.

Mein Vorschlag lautet kurz gesagt mit einem erfundenen Begriff: ›Entempirisierung‹. Oder anders gewendet: Die Idee des Literatursystems ist ein Beobachtungsinstrument, um Literatur als System beobachten zu können. Und das war ja der Einstiegspunkt der Systemtheorie in die Literaturwissenschaft. Ich selbst plädiere sehr dafür, diesen Einstiegspunkt nicht zu vergessen, also nicht Systemtheoretiker sein zu wollen, die sich für Literatur interessieren, sondern Literaturwissenschaftler, die sich für die Systemtheorie interessieren und diese als theoretische Option nutzen. Dieses zuletzt genannte Interesse findet seine Legitimation darin, dass es ein Instrumentarium nutzbar macht, mit dessen Hilfe unser Gegenstand, die Literatur, in einer Weise und in einer Dimension und Perspektive beobachtbar wird, die uns ohne Systemtheorie nicht zur Verfügung gestanden hätte. Wenn wir dies tun, beobachten wir Literatur als Kommunikation – das ist trivial, wie auch sonst. Nun kommt es aber gerade darauf an, die spezifische Form der literarischen Kommunikation ins Auge zu fassen, und die ist textförmig. Die Frage also, wie Text und Kommunikation zusammenhängen und zu differenzieren sind, ist grundlegend. Damit ist das Problem verbunden, wie denn einerseits Kommunikation ihre eigenen Anschlüsse produziert, wenn andererseits Texte gerade diese Freiheit der Kommunikation zumindest zu restringieren suchen. (Mit Umberto Eco könnte man sagen, dass es keine richtigen, wohl aber immerhin falsche Interpretationen gibt.) Die Frage lautet also, wie die Beobachtung des Literatursystems uns Literaturwissenschaftlern helfen kann, unseren Gegenstand wissenschaftstheoretisch gesehen besser erfassen zu können. Für mich steht hinter den Überlegungen, zu denen wir – Schreiber, Schönert, Assmann, Jahraus – hier beitragen, diese Frage immer noch unbeantwortet da. Die Antwort auf die Frage muss sich im Konzept von ›Literatur als System‹ finden lassen. (Seinerzeit habe ich sie mit der anderen Schwerpunktsetzung Literatur als Medium zu beantworten gesucht. 7 ) Doch das sagt nicht viel, weil damit zunächst nur ein Name gegeben ist.

Ganz knapp gesagt: Das Problem einer literaturwissenschaftlichen und genauer einer literaturtheoretischen Adaptation der Systemtheorie liegt für mich nach wie vor darin, dass die Idee, die einst Niels Werber hatte, nämlich eine systemtheoretische Literaturwissenschaft so zu konzipieren, dass sie, wie er es in seiner Dissertation mit dem programmatischen Titel Literatur als System 1992 formulierte, bis »auf die Ebene von Texten« ›durchgreift‹, 8 nie richtig eingelöst wurde. Nach wie vor besteht diese Aufgabe darin, das Systemische und das Symbolische zusammenzubringen. Also frage ich, und die Frage mag aus Assmanns Sicht unberechtigt sein, was ich aus der Logik seiner Argumentation sofort zugestehe, aber mich treibt sie um: Was hilft es, Literatur als System und mithin als literarische Kommunikation zu konzipieren, für die Umsetzung dieser Idee? Ich denke, eine positive Antwort ist möglich.

Literaturverzeichnis

ASSMANN, David-Christopher: »Operativität und Akteure des Literatursystems. Eine Replik auf Dominik Schreibers Artikel ›Literarische Kommunikation‹ und Jörg Schönerts Kommentar«. In: Textpraxis. Digitales Journal für Philologie 3 (2.2011). URL: http://www.uni-muenster.de/textpraxis/sites/default/files/beitraege/david-christopher-assmann-operativitaet-und-akteure-des-literatursystems.pdf, URN: urn:nbn:de:hbz:6-13439433693 (zuletzt eingesehen am 10.09.2011).

JAHRAUS, Oliver: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation. Weilerswist 2003.

KOSCHORKE, Albrecht: »Codes und Narrative. Überlegungen zur Poetik der funktionalen Differenzierung«. In: Walter Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? DFG-Symposion 2003. Stuttgart 2004, S. 174–185.

LUHMANN, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. 1987.

NASSEHI, Armin: »Wie wirklich sind Systeme? Zum ontologischen und epistemologischen Status von Luhmanns Theorie selbstreferentieller Systeme«. In: Werner Krawietz u. Michael Welker (Hg.): Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzungen mit Luhmanns Hauptwerk. Frankfurt/M: Suhrkamp 1992, S. 43–70.

SCHÖNERT, Jörg: »Literarische Kommunikation. Kommentar«. URL: http://www.uni-muenster.de/textpraxis/dominik-schreiber-literarische-kommunikation#comments (zuletzt eingesehen am 12.09.2011).

WERBER, Niels: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation. Opladen 1992.

  • 1. [Anm. d. Red.: Wie Oliver Jahraus deutlich macht, ergab sich dieser Text aus seiner Begutachtung der Replik von David-Christopher Assmann. Diese kommentierende Begutachtung wird nun, da sie über eine Begutachtung weit hinausgeht und um den Kommunikationszusammenhang offenzulegen, selbst als Replik und damit als Fortsetzung der Debatte über die systemtheoretische Literaturwissenschaft veröffentlicht. Da es sich bei dem Text ursprünglich um eine Begutachtung handelte, haben wir darauf verzichtet, die Begutachtung selbst jenseits des redaktionellen Lektorats extern begutachten zu lassen.]
  • 2. David-Christopher Assmann: »Operativität und Akteure des Literatursystems. Eine Replik auf Dominik Schreibers Artikel ›Literarische Kommunikation‹ und Jörg Schönerts Kommentar«. In: Textpraxis. Digitales Journal für Philologie 3 (2.2011). URL: http://www.uni-muenster.de/textpraxis/sites/default/files/beitraege/david-christopher-assmann-operativitaet-und-akteure-des-literatursystems.pdf, URN: urn:nbn:de:hbz:6-13439433693 (zuletzt eingesehen am 10.09.2011), S. 2.
  • 3. »Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt.« Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. 1987, S. 30.
  • 4. Vgl. Armin Nassehi: »Wie wirklich sind Systeme? Zum ontologischen und epistemologischen Status von Luhmanns Theorie selbstreferentieller Systeme«. In: Werner Krawietz u. Michael Welker (Hg.): Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzungen mit Luhmanns Hauptwerk. Frankfurt/M: Suhrkamp 1992, S. 43–70.
  • 5. Vgl. Jörg Schönert: »Literarische Kommunikation. Kommentar«. URL: http://www.uni-muenster.de/textpraxis/dominik-schreiber-literarische-kommunikation#comments (zuletzt eingesehen am 12.09.2011).
  • 6. Vgl. Albrecht Koschorke: »Codes und Narrative. Überlegungen zur Poetik der funktionalen Differenzierung«. In: Walter Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? DFG-Symposion 2003. Stuttgart 2004, S. 174–185.
  • 7. Vgl. Oliver Jahraus: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation. Weilerswist 2003.
  • 8. Niels Werber: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation. Opladen 1992, S. 103.

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