Digital Journal for Philology
»l´amour / die tür / the chair / der bauch«: Konkrete Poesie als Europäisches Projekt
Einleitung
»Men are less and less determined by their nation, their class, their mother tongue, and more and more by the function which they perform in society and in the universe, by presences, textures, facts, information, impulsions, energies«.1 Diesen Satz formulierte Pierre Garnier 1963 in seiner »Position I du mouvement international«, einem der wesentlichsten und einflussreichsten Manifeste der Konkreten Poesie, das von 25 Dichtenden aus 14 Ländern unterschrieben wurde. Als internationale Kunstform und Bewegung war die Konkrete Poesie dank maßgeblicher Zusammenarbeit des Schweizers Eugen Gomringer mit der brasilianischen Noigandres-Gruppe bereits Mitte der 1950er Jahre entstanden, woran sich in den folgenden Jahren ein veritabler Boom dieser neuen Form des Schreibens speziell in Europa anschloss. Die neuen poetischen Möglichkeiten, die Konkrete Formen bereithielten, inspirierten Schreibende und Kunstschaffende speziell in den deutsch- und englischsprachigen Ländern Europas. Aufgrund der oft schwierigen Stellung im etablierten Literatur- und Kulturbetrieb, in der sich die nationalen Bewegungen befanden – die in manchen Ländern als zu radikal experimentell, in anderen als zu akademisch wahrgenommen wurden – entstand bald ein aktives internationales Netzwerk des Konkreten. Konkreter Ausdruck wurde zur lingua franca des progressiven poetischen und in manchen Fällen politischen Denkens. Nicht nur über Ozeane hinweg, sondern auch quer durch den Eisernen Vorhang wurden dank ihr Verbindungen geknüpft, für die Europa und die Welt auf institutionalisierter politischer Ebene noch Jahrzehnte später nicht bereit sein sollten. In diesem Sinne ist Ernst Jandls Gedicht »chanson« als programmatisch europäisches Gedicht zu lesen, das Sprach- und Landesgrenzen zu überwinden vermag: »l’amour / die tür / the chair / der bauch«.2 Es ist indes nur eines von vielen Beispielen transsprachlicher und -nationaler Gedichte, die die Konkrete Bewegung hervorgebracht hat.
»The Europe referred to by the EU can be envisaged as an ›imagined community‹ in the making. The notion refers to a community that does not lie in the tangible relations and binding ties between its people, but exists as a reality of the mind, as the image of the community its members share«.3 Diese von Monica Sassatelli formulierte Definition europäischer kultureller Identität, die auf institutioneller Ebene seit den 1990er Jahren zu erzeugen gesucht wird, lässt sich im übertragenen Sinn auch auf das informelle Konkrete Netzwerk der 1950er und 1960er Jahre anwenden bzw. soll in diesem Beitrag der Frage nach der Möglichkeit und Fruchtbarkeit so einer Übertragung nachgegangen werden. Sassatelli untersucht in ihrem Text die von der EU betriebene Konstruktion europäischer kultureller Identität mittels der Erfindung der europäischen Kulturhauptstädte, die die lokalen kulturellen Phänomene in den Kontext einer gemeinsamen Identität zu stellen; analog dazu lässt sich in der Konkreten Poesie beobachten, dass lokal(sprachlich)e Dichtung im Kontext einer gemeinsamen Poetik verortet wurde, die sich interessanterweise unabhängig voneinander an vielen Orten gleichzeitig entwickelte.
Vor dem Hintergrund jüngster politischer Entwicklungen gewinnt die Frage nach europäischer Gemeinschaft und gemeinsamer kultureller Identität neue Bedeutung – ihr soll daher in diesem Beitrag nachgegangen werden. Gezeigt werden soll der genuin europäische Geist der Konkreten Poesie, der sich trotz ihrer transkontinentalen Verbreitung identifizieren lässt. Es wird gezeigt werden, dass die Überwindung nationaler Grenzen und Identitäten, wie sie Sassatelli mit dem Konzept von unity zu fassen sucht, der Konkreten Poesie inhärent ist. Das machte sie, so soll argumentiert werden, zu einer Europäischen Kunstform, die sich nicht von nationalen Grenzen beschränken ließ, sondern Brücken zu bilden vermochte, die Kunstschaffende Europas lange vor seiner politischen Einigung zu einer Gemeinschaft verband.
Der Begriff Europa und die Europäische Identität
Die Konkrete Poesie bietet daher die Möglichkeit, eine Reflexion darüber anzustellen, was eine ›europäische (kulturelle) Identität‹ ausmachen könnte. Noch 2008, immerhin 15 Jahre nach dem Vertrag von Maastricht und ein Jahr nach der Unterzeichnung des Vertrages von Lissabon, diagnostizierte Wolfgang Schmale: »In Bezug auf Europäische Identität in historischer und gegenwartsgeschichtlicher Perspektive ist festzuhalten, dass die Bestimmung des oder der sozialen Kollektive, die eine Europäische Identität besaßen oder sich selber zuschrieben, eine weitgehende Forschungslücke darstellt«.4 Es soll daher nun in einem ersten Schritt eine Skizze dessen versucht werden, wie ›europäische Identität‹ in unserem heutigen Verständnis definiert ist oder potentiell sein könnte, um im Anschluss das weltweite (wenn auch deutlich eurozentristische) Netzwerk des Konkreten darzustellen und seinen europäischen Charakter herauszuarbeiten.
Denkt man ›europäische Identität‹ aus einer Gegenwartsperspektive, so muss die EU als Formerin und Trägerin dieser Identität zentral miteinbezogen werden. Wie schon die früher zitierte Aussage Sassatellis andeutet, ist die EU heute zur zentralen Definitionsautorität des Begriffs ›Europa‹ geworden, der zwar mehr als das gegenwärtige Gebiet der EU umfasst, potenziell aber das Gebiet meint, das die EU, einmal am Ziel angekommen, umfassen wird (das galt zumindest bis zum 23. Juni 2016). Insofern decken sich die Identitätsentwürfe Europas und der EU – vor allem auch deshalb, weil die EU im Gegensatz zu ›Europa‹ eine Institution ist, die als solche Definitionsentwürfe formulieren kann. Ob mit diesen Entwürfen Konsens oder Dissens herrscht, ist für ihre Wirkmächtigkeit nicht primär wesentlich; entscheidend ist, dass sie bei einer Reflexion über europäische Identität miteinbezogen werden müssen. Michael Metzeltins Analyse der »Europäischen Gemeinschaften als Identitätsquelle« hält fest, dass sich die Notwendigkeit für eine supranationale Identität der europäischen Einzelstaatenbürger überhaupt erst aus dem zunehmenden politischen (im Gegensatz zum anfangs rein wirtschaftlichen) Zusammenwachsen der europäischen Nationen ergeben hat.5 Folgt man diesem Gedanken, so ist eine Gleichsetzung der europäischen Identität mit der Identität der Europäischen Union impliziert – wenngleich man an dieser Analogisierung von politischer und geographischer Region Zweifel haben mag, so ist sie wohl aus politischer Perspektive erwünscht und wird betrieben. Auch in Wolfgang Schmales Argumentation lässt sich diese Engführung erkennen:
Der Weg zur europäischen Integration [...] ordnet sich historisch in einen fundamentalen Wandel ein, der vom Ergebnis her gesehen als postnationaler Kosmopolitismus bezeichnet wird. Die europäische Integration war nur im Kontext dieses universalistischen (globalen) Wandels möglich; sie stellt eines seiner Resultate dar, zugleich hat sie als eines seiner wichtigsten Medien zu gelten.6
Und wenig später hält Schmale fest: »Das Medium, das die EU darstellt, gehört zum Typus der Netzwerke«.7 Während also die europäische Integration ein Medium des globalen Wandels ist, ist die EU das Netzwerk, in dem sich dieser Wandel vollzieht. Der »postnationale Kosmopolitismus« der EU, von dem Schmale spricht, ergibt sich mit Metzeltin indes aus genau denselben Faktoren, die er für die »Bildung nationalstaatlicher Identitäten« identifiziert: »Bewusstwerdung, Territorialisierung, Historisierung, Sprachengebrauch, Textkanonisierung, Institutionalisierung, Medialisierung, Globalisierung«,8 wobei diese Prozesse nicht notwendig in dieser Abfolge und auch nicht notwendig nacheinander stattfinden müssen. Hier soll jedoch im Sinne Schmales argumentiert werden, dass die genannten Abläufe, die mit Metzeltin die Nationalisierung von Identität bedingen, vielmehr die Manifestation von Identität überhaupt, auch der europäischen oder der von der EU entworfenen, herbeiführen (ausgenommen ist davon die Territorialisierung, die im Entstehen postnational kosmopolitischer Identität als De-Territorialisierung eine maßgebliche Rolle spielt). Schlussendlich führt das Zusammenwirken der Prozesse zu einer Ausbildung von unity, die mit Sassatelli europäische Identität ausmacht und, so die These der vorliegenden Arbeit, auch die Konkrete Identität formte. Entlang dieser Faktoren soll daher im Folgenden die Entstehung und das Wesen der Konkreten Poesie dargestellt und analysiert werden, wobei die Beziehungen und Verbindungen der Schaffenden dieser Kunstform ins Zentrum gestellt und als ›Netzwerk‹ begriffen werden.
Die Konkrete Bewegung in Europa und der Welt
In its simplest definition concrete poetry is the creation of verbal artefacts which exploit the possibilities, not only of sound, sense and rhythm—the traditional fields of poetry—but also of space, whether it be the flat, two-dimensional space of letters on the printed page, or the three-dimensional space of words in relief and sculptured ideograms.9
Diese exzellente Definition dessen, was Konkrete Poesie ausmacht, macht zugleich deutlich, dass ihre ›Erfindung‹ an sich bereits eine Medialisierung, nämlich jene des Raums, beziehungsweise des sprachlichen Ausdrucks im Raum, bedeutet, und ihr damit ein erster der von Metzeltin identifizierten Prozesse der Identitätsbildung bereits inhärent ist. Die weiteren von Metzeltin identifizierten Faktoren der europäischen Identitätsbildung, die sich auch in der Geschichte der Konkreten Poesie erkennen und aus ihr destillieren lassen, sollen im Folgenden im Kontext eines kurzen Abrisses dieser Geschichte mit besonderem Fokus auf die Vernetzung ihrer Hauptakteure identifiziert und verortet werden.
Während Eugen Gomringer im Allgemeinen als der »Vater« der Konkreten Poesie bezeichnet wird und seine ab etwa 1955 entstehende Allianz mit der Konkreten Bewegung Brasiliens den entscheidenden Anstoß für die Entwicklung des weltumspannenden Konkreten Netzwerks darstellt, gab es doch innerhalb Europas schon früher entscheidende individuelle Entwicklungen, die der Konkreten Form ersten Ausdruck verliehen.10 Der früheste Wortkünstler, der der Konkreten Poesie zugerechnet wird, war der vom Futurismus stark beeinflusste Italiener Carlo Belloli. Er erschuf bereits ab 1943 das, »what would sixteen years later come to be called concrete poetry«.11 Bevor der Schwede Öyvind Fahlström dieser neuen Wortkunstform in seinem 1953 verfassten »Manifest för konkret poesi« / »Manifest für Konkrete Poesie« als erster explizit diesen Namen verlieh, wurden allerdings schon in weiteren Ländern verwandte ästhetische Ansätze erprobt. So datiert die Zagreber Marinko Sudac Sammlung, Teil des kroatischen Avantgarde-Museums, »the first book of concrete poetry in the former Yugoslavia« mit Josip Stošićs Đerdan auf 1951;12 noch im selben Jahr wurde die Poesie des kroatischen Dichters allerdings verboten.13 Wohl auch aufgrund der kriminalisierenden Haltung, mit der Stošićs Kunst in seinem Land somit begegnet wurde, waren in der Folge keine Schreibenden aus dem damaligen Jugoslawien Teil des internationalen Konkreten Netzwerks.
Im Jahr darauf, 1952, verfasste der Österreicher Gerhard Rühm, späteres Mitglied der wiener gruppe und noch später der maßgebliche Herausgeber ihrer Werke, nach eigener Aussage mit visuellen und auditiven Montagen und Konstellationen seine ersten Konkreten Texte.14 Erst im Jahr darauf entstand Öyvind Fahlströms »Manifest«. Als dieses ein weiteres Jahr später erschien,15 drang der Text des in São Paulo geborenen Schweden nicht bis zu dem in Bolivien geborenen Schweizer Eugen Gomringer durch, der seine Texte zu dieser Zeit – wie Gerhard Rühm, den er allerdings erst 1956 kennenlernte – als konstellationen16 bezeichnete. Weiterhin ohne Kenntnis der poetologischen Konkreten Grundsteinlegung Fahlströms kam Eugen Gomringer mit der seit 1952 aktiven Brasilianischen Noigandres-Gruppe in Kontakt, die im Jahr 1955 in der zweiten Ausgabe ihrer Zeitschrift (die den Titel NOIGANDRES trug) ihre ersten poetologischen Texte veröffentlichte.
Dass Fahlström die ersten drei Jahre seines Lebens in São Paulo verbracht hatte, wo die Noigandres wirkten, und auch Gomringers Wurzeln in Südamerika liegen, darf als Zufall der Konkreten Geschichte bewertet werden. Dennoch kann in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass die Konkrete Poesie insbesondere jene Dichtenden angesprochen hat, in deren Biographie Mehrsprachigkeit eine besondere Rolle gespielt hat.17 Der (Mehr)Sprachengebrauch der Konkreten Dichtenden hat ihre Dichtung ebenso wie ihre Poetik maßgeblich geformt und ebendiese Mehrsprachigkeit ist die gemeinsame Sprache der Konkreten: denn Konkrete Dichtung erhebt den Anspruch, selbst dann noch verstanden zu werden, wenn die Rezipierenden die Sprache, die als Werkmaterial gedient hat, nicht sprechen. Die häufige Mehrsprachigkeit der Konkreten Dichtenden, die sie für über das Semantische hinausreichende Dimensionen des Sprachlichen sensibilisiert haben mag, ermöglicht damit die gemeinsame Pan-Sprache der Konkreten Dichtung.
In seinem Beitrag zu NOIGANDRES 2 benutzte Augusto de Campos erstmals den Begriff »Konkrete Poesie« für die Arbeiten der Noigandres. Die Bewusstwerdung der Konkreten Bewegung vollzog sich demnach unabhängig voneinander mehrfach und an verschiedenen Orten. Gomringer begann in Reaktion auf den brasilianischen Impuls ebenfalls, diese Begrifflichkeit auf seine eigenen Arbeiten anzuwenden und trieb damit die Institutionalisierung des Begriffs voran. Gleichzeitig vollzog die Konkrete Bewegung dank der transatlantischen Verbindung zwischen ihm und den Noigandres mit diesem ersten Faden des Konkreten Netzwerks, an das sich bald viele weitere knüpfen sollten, bereits in ihrem Frühstadium den Schritt zur Globalisierung im Sinne einer ›Weltumspannung‹ (bis nach Schweden reichte es allerdings nicht; Fahlström schloss sich dem internationalen Netzwerk nie an und blieb isoliert). Der erwähnten bald darauf angebahnten Verbindung Gomringers zu Rühm in Österreich folgten weitere Kontakte dorthin, etwa mit weiteren wiener gruppe-Mitgliedern und Ernst Jandl, auf den an späterer Stelle noch im Detail einzugehen sein wird. Auch in Deutschland vernetzte sich Gomringer, zu den ersten Autoren seiner bald darauf ins Leben gerufenen und im Eigenverlag publizierten deutsch-brasilianischen Serie konkrete poesie poesia concreta gehörten etwa Helmut Heißenbüttel und Claus Bremer. Diese Serie trug schon früh maßgeblich zur Textkanonisierung innerhalb der Konkreten Bewegung bei, die später dank diverser Anthologien Konkreter Poesie fortgesetzt und zu einer Form der Historisierung und Institutionalisierung weiterentwickelt werden konnte.18 Mit der Stuttgarter Gruppe um Max Bense und Reinhard Döhl etablierte sich in Deutschland ein starker Konkreter Standort. In Frankreich gehörten Henri Chopin, Ilse Garnier und ihr eingangs zitierter Ehemann Pierre zu den Protagonisten der mit den frühen 1960er Jahren an Dynamik gewinnenden Bewegung, die in Pierre Garniers Manifest explizit als mouvement international bezeichnet wurde. Die Tendenz zur Gruppenbildung, die sich in Bezug auf die Akteure der Konkreten Poesie erkennen lässt, ist nicht nur ein weiteres Merkmal der Institutionalisierung, sondern kann metaphorisch auch auf die Phase der Territorialisierung bezogen werden, die Metzeltin anspricht. Im Konkreten Kontext bedeutet diese Territorialisierung allerdings immer gleichzeitig auch Globalisierung, da das Abstecken des Konkreten Territoriums sich auch innerhalb von nationalen (lokalen) Gruppenbildungen mit Bezug auf des mouvement international vollzog. Die Globalisierung kann in diesem Fall nicht nur als Verteilung über die Welt, sondern auch als eine Betonung der Allgemeingültigkeit der gemeinsamen Poetik verstanden werden. Die so erreichte Zunahme an Bedeutung dieser in ihrer Entstehungszeit revolutionär aufgefassten Kunstform mag einer der Gründe dafür sein, dass lokale Zusammenschlüsse, die in ihrer unmittelbaren Umgebung nicht immer auf positive Resonanz stießen, sich zugunsten der Zugehörigkeit zu einer weltweit vorhandenen Bewegung und deren unity auf eine ausgeprägte lokale Gruppenidentiätsbetonung verzichteten.
Auch zahlreiche nicht in Gruppen organisierte Konkrete wandten sich an verschiedenen Orten der Welt der Konkreten Schule zu und vergrößerten so ihr Territorium. 1960 organisierte Kitasono Katué die erste Ausstellung brasilianischer Konkreter Poesie in Japan, auch in den USA gab es mehrere Vertretende des Konkreten im engeren und weiteren Sinne (der international aktivste und vernetzteste darunter war wohl Emmett Williams). In Belgien arbeitete Paul de Vree insbesondere eng mit Henri Chopin zusammen, in Spanien und Portugal gab es weitere Anhänger der Bewegung. Eine besonders aktive und international einflussreiche Konkrete Szene mit mehreren prominenten Vertretern entwickelte sich zu Beginn der 1960er Jahre in Großbritannien. Eine der Hauptfiguren war dort der Konkrete Poet und Verlagsbetreiber Ian Hamilton Finlay, der von Österreich bis Brasilien Briefkontakte pflegte und eine der komplexesten Sammlungen an persönlichen Beziehungen innerhalb des gesamten Konkreten Netzwerks verwaltete. Der Austausch im Medium Brief ist eine zeittypische Form, darüberhinaus aber auch für die gemeinsame Identitätsbildung der Konkreten bedeutsame und spezifische Medialisierung, die Finlays dichtes Korrespondenznetz illustriert. Einzig zur ČSSR ließ sich für ihn keine Brücke schlagen – zu den Konkreten Dichtenden dort hielt indes sein Freund Ernst Jandl engen Kontakt, wie im Folgenden ausgeführt werden wird.
Mit Schmale lassen sich in den politischen Selbstverortungen der ersten Europäischen Kommission, die zeitlich parallel zur Konkreten Bewegung amtierte,
durchaus selbstreflexive Momente erkennen, der ehemalige imperialistische europäische Anspruch wird nicht ungefiltert als Plattform für Identitätsformulierungen genutzt. Aber es fehlten mehrere enscheidende Momente der historischen Distanzierung, [...] solange das zu einigende Europa nicht wirklich als ein Europa der Bürgerinnen und Bürger sowie als ein Europa durch die Bürgerinnen und Bürger konzipiert wurde.19
Die Konkrete Bewegung der 1950er und 60er Jahre war der europäischen aus dieser Sicht in der Identitätsbildung um einige Schritte voraus. Insbesondere die (literatur)historische Distanzierung – oder zumindest Reflexion – war nicht nur ein Aspekt, sondern vielleicht das wesentliche Moment der Konkreten Poesie. Ein Beispiel hierfür ist Ernst Jandls in Gomringers poesia concreta-Reihe publizierter visueller Gedichtzyklus klare gerührt,20 in dem eine Szenenanweisung aus Goethes Egmont (»Klare (gerührt):«) als Ausgangsmaterial verwendet wurde. Mit ironischer Referenz auf jenen Dichter, der den Begriff »Weltliteratur« geprägt hat, gelang es Jandl mit diesem Gedicht, sich in einer Bewegung zu etablieren, die traditionelle literarische Formen systematisch aufzubrechen suchte und so dem Goethe’schen Begriff eine neue Dimension hinzufügte. Am 25. März 1957, als die Römischen Verträge unterzeichnet wurden, befand sich dieses Gedicht im Entstehen,21 auf das Solts Definition des Konkreten Gedichts genuin zutrifft: Dieses »communicates first and foremost its structure« und operiert mit »reduced language«.22 Zu diesem zufällig auch für die europäische Identität so bedeutenden Zeitpunkt war Jandl jedoch weder die Existenz noch die Dimension des Konkreten und des Konkreten Netzwerks bekannt. In der Folge entwickelte er sich zu einem seiner aktivsten Akteure, indem er nicht nur Konkretes, sondern auch über Konkretes schrieb und zu all jenen, die dasselbe taten, Kontakt aufbaute.
Fallbeispiel Ernst Jandl: Der Dichter als Entgrenzer
Der österreichische Konkrete Poet Ernst Jandl fand nach einer ersten Phase der formal eher konventionellen lyrischen Arbeit23 zur experimentellen Dichtung, der er sich den Rest seines Lebens widmete. Besonders in den frühen 1960er Jahren legte er dabei besonderen Fokus auf die Konkrete Poesie, obwohl er sich dieser speziellen Form nicht exklusiv verschreiben wollte: »even though some of my poems may belong to that class, I should rather not call myself a ›concrete poet‹«.24 Nachdem Jandl in den 1950er Jahren sowohl als konventioneller als auch als experimenteller Dichter Schwierigkeiten gehabt hatte, in der etablierten und der alternativen Literaturszene in Österreich Fuß zu fassen, wandte er sich ab den frühen 1960ern intensiv den Auf- und Ausbau internationaler Kontakte zu. Dank seiner beinah systematischen Arbeit an und in seinem Konkreten Netzwerk gelang es ihm, sich auf dem internationalen Parkett zu etablieren. Diesen Erfolg verdankte Jandl nicht nur seinem persönlichen Talent für das Netzwerken, sondern auch der Natur der Konkreten Gemeinschaft, der er sich anzuschließen suchte. Dabei verfolgte er die Maxime, sein Schreiben als eines zu formen das, »regardless of matters of language and nationality, [...] is trying to find its place within the context of modern writing anywhere, modern writing as seen internationally«.25 Die Einordnung Ernst Jandls, die Katja Stuckatz vornimmt, indem sie seinen »Beitrag zur Verständigung [Bewusstwerdung], Historisierung und Internationalisierung [Globalisierung] der Konkreten Poesie Bewegung« hervorhebt,26 entspricht einigen der wesentlichen Faktoren, die auch die europäische Identität, wie oben argumentiert, bestimmen. Aus diesem Grund wird im Folgenden Jandls Konkretes internationales Beziehungssystem mit Schwerpunkt auf je eine Verbindung nach Osten (in die ČSSR) und nach Westen (nach Großbritannien) vor- und die von ihm gewählte »Rolle des literarischen Vermittlers und lyrischen Botschafters« dargestellt.27 Dabei wird im Falle der britischen Beziehungen besonders die Rolle des Netzwerks in der kollektiven Schaffung einer Konkreten Poetologie in den Mittelpunkt gestellt, in Hinblick auf die ČSSR wird vor allem die politische Dimension Konkreter Vernetzung und Konkreter Poetologie untersucht.
Ernst Jandl 1: Dichter überbrückt das Meer
Nachdem er daran gescheitert war, sich den Vorreitern der österreichischen Avantgarde, der wiener gruppe, enger zu verbinden, wandte sich Jandl ihren literarischen Kontakten außerhalb Österreichs zu. Er war jedoch zögerlicher, sich den ›radikalen‹ neuen Strömungen ausdrücklich zu verschreiben. Eugen Gomringer erinnert sich an erste Begegnungen mit den wiener gruppe-Mitgliedern Friedrich Achleitner und Gerhard Rühm: »Das Bewusstsein, die Avantgarde der Stunde zu sein, etwas in der Zeit mitbestimmen zu können, beflügelte. Dieses Gefühl konnte man mit dem zeitlich etwas zurückgestaffelten Ernst nicht teilen. Er ging um wie ein Suchender«.28 Jandls Zurückhaltung mag in einem gewissen Vorbehalt gegenüber Begrifflichkeiten seine Begründung haben:
So fand und erprobte man die Namen ›konkrete Poesie‹, ›Konstellation‹, ›visueller Text‹ und andere, oder spricht ganz allgemein von ›experimenteller Dichtung‹. Ich übernehme solche Namen, sobald ich mit ihnen umgehen kann, gerne […]. Mir selbst gelang es nur einmal – 1957 – für eine Reihe eigener Texte einen wenig originellen Namen – ›Sprechgedichte‹ – zu finden.29
Seine »Sprechgedichte« waren es auch, die Jandl zu internationalem Ruhm verhalfen. Von Jandl habe er gelernt, wie man »aus dem Käfig der Gewohnheitssprache (aus der ›poetischen‹ Sprache auch) ganz eigene, verheimlichte Stimm- und Sprachwesen befreien kann«,30 beschrieb etwa der (Konkrete) Poet und Übersetzer Christopher Middleton, den Jandl 1965 auf einer für seine Positionierung im Konkreten Netzwerk bedeutsamen England-Reise kennenlernte. Während dieser Reise fand auch Jandls legendärer Auftritt in der Royal Albert Hall statt, bei dem er die Bühne vor allem mit der Beat-Strömung zuzuzählenden Poeten teilte; bei der Veranstaltung mit dem Titel International Poetry Incarnation gehörten neben anderen der Schotte George MacBeth, der Brite Michael Horovitz, der Amerikaner Allen Ginsberg sowie die Stimme von William S. Burroughs zu Jandls Mitstreitenden.31 Dass sich Jandls Durchbruch als Schreibender auf einer Bühne vollzog, verwundert nicht, denn das »Sprechgedicht wird erst durch lautes Lesen wirksam«.32 Es wurde darauf hingewiesen, dass Jandl mit der Konzentration auf die stimmliche Seite der Dichtung Charles Olsons und der (amerikanischen) Beat-Poeten näher stünde als allgemein angenommen;33 wenngleich der Hinweis zeigt, wie weitreichend und formal divers Jandls Netzwerk konzipiert war, übersieht die Argumentation doch die Kritik, die Jandl selbst an der Beat-Poesie geübt hat, denn ihre Verfasser »pflegen weiterhin \ein/ jeder seinen persönlichen Stil, \haben ein jeder seine eigene Sprache/ […] im Gegensatz zu […] jener anderen Art […] des Gedichteschreibens heute, bei welcher der Autor […] selbst aus dem Gedicht draußen bleibt«.34 Mit diesem Konkreten Credo positionierte sich Jandl poetologisch deutlich diesseits des Ozeans, wo sich die experimentelle Dichtung anders als in den USA von der individualistischen Persona des Dichtenden zu verabschieden suchte. Diese Position teilte auch Ian Hamilton Finlay: »I do not have that capacity of the modern Individualist to run with the Herd. (Joke). (Whole herds of individualists were running all ways.)«35
Im Konkreten Gedicht operiert Jandl mit der »Pointe, zu der er sich bekennt« und die »die intellektuelle Rechtfertigung seiner konkreten Gedichte« ist;36 diese Qualität attestierte er selbst den Arbeiten des Engländers Edwin Morgan, zu dem er Mitte der 1960er Jahre in Kontakt trat. Dass das konkrete Gedicht auch für Jandl diese »intellektuelle Rechtfertigung« durchaus benötigt, formulierte der Deutsche Jandl-Freund Reinhard Döhl in seiner Analyse des Gedichts »i love concrete«37, das in der Pointe »i’m not / a concrete pot« aufgeht: Damit wende sich Jandl »gegen eine Poesie, die den Aspekt des (Kunst)handwerklichen zu sehr betont«.38 Das Bekenntnis zur Pointe war indes einer der Gründe, die das Naheverhältnis zu wiener gruppe, das Jandl sich gewünscht hätte, verhinderten. In seiner ersten Frankfurter Vorlesung erzählte er über seine Einleitung zu »drei visuelle lippengedichte«:
Hätte ich den Vorspann weggelassen und mich mit den drei Lippengedichten zufriedengegeben, stimmlos vorgetragen wie soeben, es hätte damals, 1957, Gnade gefunden vor meinen Freunden von der Wiener Gruppe, soweit sie überhaupt Konkrete Poesie schrieben, nämlich Achleitner und Rühm. Sie taten es mit großem Ernst, auch in ihren lustigen Texten, aber was mir hier eingefallen war, schien Ihnen sträfliche Parodie.39
Auch deshalb kam es, dass Jandl sich auf die Suche nach Verbündeten jenseits der österreichischen Grenzen machte; schon dieser Überblick zu poetologischen Selbst- und Fremdbestimmungen machte einerseits deutlich, wie eng die Konkrete Szene in Kontakt stand, und illustriert andererseits, wie sehr diese Kunstform vom und durch das Netzwerk der Beteiligten und den konstanten Austausch definiert und belebt wurde. Der Kontakt zu Schreibenden desselben Geistes spielte in der Konkreten Bewegung, wie schon oben ausgeführt, deshalb eine so wesentliche Rolle, weil sich nur im Austausch miteinander die gemeinsame Poetologie des mouvement international entwickeln konnte. Welche Distanzen und welche Grenzen es dafür zu überwinden galt, spielte dabei keine Rolle, wie ein Brief Jandls an Ian Hamilton Finlay zeigt:
The rather isolated position in which, I think, most writers of concrete (and perhaps of all non-traditional) poetry find themselves is somewhat relieved by the knowledge that there are friends in many parts of the world with whom one can in some way or other communicate even if one cannot meet them in person. A few days ago I met Josef Hiršal, […] and some weeks earlier Ladislav Novák – 2 leading members of a concrete school of poetry in Czechoslovakia. They feel even more isolated in their surroundings, and yet they show an immense optimism with regard to their work and its chances of being ultimately understood and acknowledged by a larger public.40
Im Kontext gegenwärtiger politischer Entwicklungen scheint es erwähnenswert, dass Finlay, als einer der führenden britischen Konkreten, im Austausch mit Jandl sich zwar gerne und ausführlich über andere Dichtende äußerte, auf Jandls mehrfache Erwähnungen der tschechoslowakischen Konkreten und ihrer politischen Rahmenbedingungen nie einging, wie er sich allgemein zu internationalen politischen Themen nie äußerte. Die Bezugnahme auf Politisches ist in der britischen Konkreten Poesie insgesamt kaum zu finden. Im Kontext von Finlays künstlerischem Schaffen ist außerdem bemerkenswert, dass er sich dem Krieg, insbesondere dem Zweiten Weltkrieg, als Thema seiner Arbeit intensiv widmete – allerdings in einer späteren Schaffensphase, als sich das Konkrete Netzwerk bereits fast völlig aufgelöst hatte. Schon in der britischen Konkreten Poesie, so könnte man argumentieren, ließ sich eine gewisse Reserviertheit gegenüber internationalen politischen Nahverhältnissen erkennen. Bedacht werden muss allerdings auch, dass das auch für viele Konkrete anderer Nationalitäten galt, die die Verbindung von Poesie und Politik ablehnten.
Ernst Jandl 2: Dichter untergräbt den eisernen Vorhang
Unter Bezugnahme auf die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975 hat Wolfgang Schmale festgestellt, dass im europäischen Raum der »Westen vom bürgerrechtlichen Impuls und Mut des Ostens [profitierte]«.41 Selbiges diagnostizierte Ernst Jandl insbesondere den tschechischen Konkreten Schreibenden bereits zehn Jahre zuvor: »They are very active and, I think, very brave, considering conditions in ČSSR«.42 Auch Jandl war der Meinung, dass aus dem Osten nicht nur substanzielle Beiträge, sondern die entscheidenden Impulse zur Weiterentwicklung Konkreter Formen ausgingen: »The Czechs, particularly Ladislav Novák, seem to be the most productive at present. He is a teacher, too, and an extra weight pulling him down is the system in his country, I suppose.«43
Sein mehrfach aufgenommener Versuch, eine Verbindung zwischen Finlay, seinem engsten poetologischen Briefpartner in England, und seinen Konkreten Freunden in der ČSSR herzustellen, gelang allerdings nicht.
Neben dem von Jandl in den zitierten Briefen an Finlay genannten Ladislav Novák gehörten Bohumila Grögerova und Josef Hiršal, die neben Konkreten Arbeiten auch zahlreiche Übersetzungen ins Tschechische anfertigten (und so die Textkanonisierung mittels Sprachengebrauch vorantrieben), zu den wesentlichen Beitragenden zur tschechoslowakischen Konkreten Szene. Sie besuchten 1968 das Europäische Forum Alpbach, ein 1945 gegründetes Symposium, das die Intelligenzija Europas aus allen Disziplinen jährlich im österreichischen Alpbach versammelt, um die dringenden Probleme der Gegenwart zu diskutieren. Ernst Jandl war ein regelmäßiger Teilnehmer dieser Veranstaltung und traf seine tschechischen Konkreten Mitstreitenden dort im Jahr ihres Besuchs. Während dieses Auslandaufenthalts wurden Grögerova und Hiršal vom Einmarsch der russischen Truppen in der ČSSR überrascht. Von ihrem Konkreten Netzwerk wurden sie in dieser turbulenten Situation aufgefangen:
Aus Alpbach übersiedelten wir nach Wien, wohin unsere Familien nachkamen. Eine unschätzbare Hilfe gewährten uns die ›Österreichische Gesellschaft für Literatur‹ und deren Direktor Wolfgang Kraus. In diesen schweren Tagen, wo wir uns entscheiden mußten, ob wir nach Hause zurückkehren oder emigrieren sollten, wußten wir den guten Willen und die finanzielle Hilfe unserer Freunde Döhl, der nach Wien kam, um uns nach Stuttgart zu holen, Schmidt, der uns eine Anstellung anbot, Jandl und Friederike Mayröcker, die uns in Wien auf alle erdenklichen Arten halfen, außergewöhnlich zu schätzen.44
Die Grenzen und Zäune, die Europa zu dieser Zeit noch in viele Splitter teilten, würden von der Konkreten Szene selbstverständlich überbrückt und unterwandert. Diese (De-)Territorialisierung sollte jenen, deren persönliche Freiheiten von diesen Grenzen oder den politischen Entwicklungen bedroht wurden, die hinter ihnen stattfanden, Unterstützung sichern.
Auch jenseits der Poesie und ihres Konkreten Umfelds setzten sich Konkrete Dichtende für die Globalisierung mittels Auflösung von Grenzen ein. Jahrzehnte nach der Konkreten Hoch-Zeit warben Mitglieder des Netzwerks für den Beitritt ihrer jeweiligen Länder zur EU: Ernst Jandl bekannte sich öffentlich zu seiner kompromisslosen Unterstützung für den österreichischen EU-Beitritt.45 Wenngleich insgesamt wohl gesagt werden kann, dass Konkrete Dichtende in der Regel für die Auflösung (oder zumindest Aufweichung) von Grenzen waren, traten nicht alle explizit oder öffentlich dafür ein; Jandl etwa war aufgrund seines sozialpolitischen Engagements den Dichtenden der ČSSR in gewisser Weise näher als etwa seinen österreichischen Kollegen aus der wiener gruppe, die sich gegen die Verbindung von Poesie und Politik positionierte.
Ein weiterer, für seinen politischen Einsatz für den EU-Beitritt seines Landes wesentlich berühmterer Dichter, der umgekehrt kaum für seine Konkrete Poesie bekannt ist, war der spätere tschech(oslowak)ische Präsident Václav Havel. In den 1960er Jahren gehörte er zur Gruppe im Umkreis von Grögerova und Hiršal, die den sozialpolitischen Impetus seiner Dichtung und damit seinen Beitrag zur Bewusstwerdung später beschrieben: »Die Typogramme Havels stützen sich im Wesentlichen auf die rationalen Systeme, Mathematik, Logik und Grammatik. Trotz dieses objektiven, häufig wissenschaftlichen Prinzips steht hinter jedem der Texte ein starkes und unverwechselbares Autorbewußtsein des gesellschaftlichen Engagements«.46 Dabei blieben Havels Konkrete Arbeiten dennoch deutlich der Konkreten Tradition seines Landes verpflichtet, wie Solt feststellte: »[H]is few poems achieve a balance between the graphic and the semantic relating to the human situation in the best Czech tradition«.47 Ein Beispiel für Havels poetische wie politische Mission der Entgrenzung ist das Gedicht »Ať jde každý vlastní cestou!« / »Jeder folge seinem eigenen Weg!«,48 in dem der namensgebende Satz 21 Mal uniform untereinander geschrieben steht, durchbrochen von demselben Satz, der das Druckbild schräg durchbricht und mit einer für Schreibmaschinenstreichungen üblichen Reihe an »xxxxx« überschrieben ist. Es entsteht so der Eindruck einer von einem Zaun begrenzten oder durchschnittenen Bahn, gleichzeitig ist der »eigene Weg« der schräg getippten Zeile als Fehler ausgestrichen. Das Zulassen von individuellen Wegen und das Auflösen von Grenzen, das Havel mit diesem 1964 publizierten Gedicht propagierte, machte er auch als Politiker zu seinem Programm.
Conclusio
Dieser Aufsatz stellte eingangs die These auf, dass die Konkrete Poesie-Szene der 1950er und 1960er Jahre als »Netzwerk« interpretiert und so als europäische Bewegung, die im Sinne von Sassatellis unity-Konzept mittels der von Metzeltin identifizierten Prozesse eine kulturelle Identität formt, aufgefasst werden kann. Zur Frage nach kultureller Identität wurde eingangs argumentiert, dass diese im europäischen Rahmen ohne Bezugnahme auf die EU und ihre Sinnangebote nicht formulierbar ist. Auf Basis der theoretischen Reflexionen zu europäischer Identität von Monica Sassatelli, Wolfgang Schmale und Michael Metzeltin wurden das Konkrete Netzwerk und die Geschichte seiner Entstehung auf die Faktoren Bewusstwerdung, Territorialisierung, Historisierung, Sprachengebrauch, Textkanonisierung, Institutionalisierung, Medialisierung und Globalisierung untersucht. Naturgemäß spielten für das Konkrete als Wortkunstform Sprachengebrauch und Textkanonisierung eine vorrangige Rolle, wobei auch die Territorialisierung einen markanten Faktor darstellte. In Bezug auf das weltumspannende Konkrete Netzwerk bedeutete Territorialisierung aber immer auch Globalisierung, da das ›Territorium‹ dieser Kunstform notwendig ein metaphorisches sein muss und seine Ausweitung den Aufbau von Verbindungen zu Geistesverwandten an anderen Orten der Welt bedeutet.
Ernst Jandls Arbeit an und mit diesen Verbindungen wurde als Fallbeispiel untersucht, um zwei Dimensionen der Konkreten Poesie – die poetologische und die politische – genauer zu beleuchten. Die Weiterentwicklung der gemeinsamen Konkreten Poetologie innerhalb des Netzwerks wurde insbesondere an Jandls Austausch und Zusammenarbeit mit den Konkreten Schreibenden Großbritanniens festgemacht. In der Analyse der Beziehung zwischen Jandl und Finlay zeigte sich, dass die Verräumlichung von Dichtung, die das Konkrete entwickelte, nicht nur auf dem Papier, sondern auch im dreidimensionalen Raum – auf Bühnen und in Form von Skulpturen – stattfinden konnte. Insofern zielt die poetologische Stroßrichtung des Konkreten auf die Auflösung von (Genre-)Grenzen. Diese poetologische Dimension seiner Vernetzungsarbeit mit der politischen zu verbinden, gelang Jandl nicht immer – etwa scheiterte der Versuch, seinen schottischen Kollegen Finlay mit seinem tschechoslowakischen Netzwerk in Verbindung zu setzen. Die tschechoslowakischen Beispiele Konkreter Arbeit zeigten, dass politische Weltanschauung und Konkrete Poetik miteinander in Beziehung treten können. Dass die Konkrete politische Sichtweise dabei deutlich auf den Abbau von Grenzen ausgerichtet ist, verwundert nicht, verfolgt doch die Konkrete Poetologie dasselbe Ziel.
Aus aktuellem Anlass muss in einem Text nach Formen europäischer Identität abschließend auch ein Ausblick auf einen möglichen Identitäts- und Gemeinschaftsverlust versucht werden. Schon 1965 – und damit noch während der aktiven Konkreten Hoch-Zeit – diagnostizierte Finlay in einem Brief an Jandl das Ende »of that pure green springtime« des Konkreten und formulierte die Melancholie,49 in die ihn dieses absehbare Ende versetzte: »It was nice to be one of a world-wide family. I have a sense of loss, and doubt«.50 Mancher Europäer und manche Europäerin mögen sich nach dem großbritannischen Votum zum Austritt aus der EU ähnlich fühlen. Acht Jahre später sah Finlay neue Hoffnung für ein neues, »post-Konkretes« Netzwerk: »It is a little time of re-union, and perhaps we have all been (each alone) through some ›post-concrete‹ crisis, and have grown so accustomed to the stormy waves, that we almost suppose ourselves to be in harbour…«51 Den Europäerinnen und Europäern ist dasselbe zu wünschen.
Literaturverzeichnis
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- 1. Pierre Garnier: »Position I du mouvement international«. Zitiert nach Mary Ellen Solt: »Introduction«. In: Dies. (Hg.): Concrete Poetry: A World View. Bloomington 1970, S. 79.
- 2. Ernst Jandl: »chanson«. In: Ders.: poetische werke. Hg. v. Klaus Siblewski. Bd. 2: Laut und Luise. verstreute gedichte 2. München 1997, S. 18.
- 3. Monica Sassatelli: »Imagined Europe. The Shaping of a European Cultural Identity Through EU Cultural Policy«. In: European Journal of Social Theory 5.4 (2002), S. 435–451.
- 4. Wolfgang Schmale: Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität. Stuttgart 2008, S. 38.
- 5. Michael Metzeltin: »Europäische Identität und Europäische Integration«. In: Brigitte Mazohl (Hg.): Europäische Integration – Europäische Identität? Impulstexte und Diskussionsbeiträge aus der Sitzung der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 20. März 2014. Wien 2014, S. 8–34, hier S. 9.
- 6. Schmale: »Europäische Identität« (Anm. 4), S. 136.
- 7. Ebd., S. 137.
- 8. Metzeltin: »Europäische Identität« (Anm. 5), S. 13.
- 9. R. P. Draper: »Concrete Poetry«. In: New Literary History 2.2 (1971), S. 329–340, hier S. 329.
- 10. Für den folgenden Abriss der Geschichte der Konkreten Poesie und die Bestimmung der Mitwirkenden vgl. allgemein Stephen Bann (Hg.): Concrete Poetry: An International Anthology. London 1967; Emmet Williams (Hg.): An Anthology of concrete poetry. New York u.a. 1967 und Mary Ellen Solt (Hg.): Concrete Poetry. A World View. Bloomington 1968, auch verfügbar über http://www.ubu.com/papers/solt/index.html (zuletzt eingesehen am 31. Januar 2017).
- 11. Solt: »Introduction – Italy«. In: Dies. (Hg.): Concrete Poetry (Anm. 10), http://www.ubu.com/papers/solt/italy.html (zuletzt eingesehen am 31. Januar 2017).
- 12. Ohne Verfasser: Avantgarde Museum. JOSIP STOŠIĆ. undatiert. http://www.avantgarde-museum.com/en/museum/collection/authors/josip-stos... (zuletzt eingesehen am 31. Januar 2017).
- 13. Das mag mit ein Grund dafür sein, warum Stošić jenseits der Grenzen des vormaligen Jugoslawiens kaum bekannt ist; auch von Solt, Williams und Bann wird er nicht erwähnt.
- 14. Gerhard Rühm: »Persönliches zur Konkreten Poesie«. In: Anne Thurmann-Jajes (Hg.): Poesie – Konkret. Zur internationalen Verbreitung und Diversifizierung der Konkreten Poesie. Poetry – Concrete – On Concrete Poetry‹s Worldwide Distribution and Diversification. Köln 2012, S. 213–219, hier S. 213.
- 15. Öyvind Fahlström: »Hätila ragulpr på fåtskliaben: Manifest för konkret poesi«. In: Odyssé 3–4 (1954).
- 16. Eugen Gomringer: Konstellationen. Bern 1953.
- 17. Für Gomringer waren die wesentlichen Sprachen Deutsch, Spanisch und Französisch; für Ernst Jandl Deutsch und Englisch; für Ilse Garnier Deutsch und Französisch; um nur einige Beispiele zu nennen.
- 18. Siehe Anm. 10.
- 19. Schmale: »Europäische Identität« (Anm. 4), S. 121.
- 20. Ernst Jandl: klare gerührt. Frauenfeld 1964.
- 21. Siehe die Datierung auf Ernst Jandl Online http://jandl.onb.ac.at/content/jandl-e-klare-geruehrt-0 (zuletzt eingesehen am 31. Januar 2017).
- 22. Solt: »Introduction«. In: Solt (Hg.): Concrete Poetry (Anm. 10).
- 23. Siehe dazu seinen ersten Gedichtband Andere Augen, Wien 1956, sowie diesbezügliche Selbstaussagen des Dichters, etwa in Ernst Jandl: »Wie kommt man zu einem Verlag?«. In: Freibord 17 (1979), S. 57–58.
- 24. Ernst Jandl: Brief an Ian Hamilton Finlay. 24. Januar 1965. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Nachlass Ernst Jandl, ÖLA139/99, ohne Signatur.
- 25. Ernst Jandl: »Vorbereitung USA Tournee«. Vortrag, 1972. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Nachlass Ernst Jandl, ÖLA139/99, ohne Signatur. Zitiert nach Katja Stuckatz: Ernst Jandl und die internationale Avantgarde. Berlin, Boston 2016, S. 40f.
- 26. Stuckatz: »Ernst Jandl« (Anm. 25), S. 40.
- 27. Ebd.
- 28. Eugen Gomringer: »DENK ICH AN ERNST JANDL –«. In: Kristina Pfoser-Schewig (Hg.): Für Ernst Jandl. Texte zum 60. Geburtstag. Werkgeschichte. ZIRKULAR Sondernummer 6 (Juli 1985), S. 17.
- 29. Ernst Jandl: »Orientierung«. In: Ders.: Autor in Gesellschaft. München 1997, S. 10.
- 30. Christopher Middleton: »Nimbus für Ernst Jandl: ein horizontales Ellipsengedicht. Explicatio«. In: Kristina Pfoser-Schewig (Hg.): Für Ernst Jandl. Texte zum 60. Geburtstag. Werkgeschichte. ZIRKULAR Sondernummer 6 (1985), S. 39.
- 31. Vgl. Hannes Schweiger: »Intermedialität und Internationalität. Ernst Jandl und die Avantgarden der 1960er Jahre«. In: Julian Müller u. Liu Wei (Hg.): Österreich im Reich der Mitte. Österreichische Literatur in China. Wien 2013, S. 127–148; Jed Birmingham: »45th Anniversary of the International Poetry Incarnation at Royal Albert Hall«. In: RealityStudio.org. 11. Oktober 2010. http://realitystudio.org/bibliographic-bunker/45th-anniversary-of-the-in... (zuletzt eingesehen am 31. Januar 2017).
- 32. Ernst Jandl: »Das Sprechgedicht«. In: Ders.: Autor in Gesellschaft. München 1997, S. 8.
- 33. Katja Stuckatz: »›Wie einen Bissen Brot‹. Ernst Jandl und die englische Sprache«. In: Hannes Schweiger u. Hajnalka Nagy (Hg.): Wir Jandln! Didaktische und wissenschaftliche Wege zu Ernst Jandl. Innsbruck u.a. 2013, S. 61–78.
- 34. Ernst Jandl: Material zum Vortrag ›Poetologische Reflexionen eines Schriftstellers‹. Arbeitstagung ›Neue Grammatik – Dichtung der Gegenwart‹. Universität Wien, 29. August 1969. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, NL Ernst Jandl, ÖLA 139/99.
- 35. Ian Hamilton Finlay: Brief an Ernst Jandl. 29. April 1971. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Nachlass Ernst Jandl, ÖLA139/99, ohne Signatur.
- 36. Ernst Jandl: »Konkrete Poesie in Grossbritannien«. In: neue texte 2 (1969), o.S.
- 37. Ernst Jandl: »i love concrete«. In: Ders.: poetische werke. Hg. v. Klaus Siblewski. Bd. 4: der künstliche baum. flöda und der schwan. München 1997, S. 92.
- 38. Reinhard Döhl: »Wie konkret sind Ernst Jandls Texte oder Ernst Jandl und Stuttgart«. In: Reinhard Döhl, Johannes Auer u. Friedrich W. Block (Hgg.): Als Stuttgart Schule machte. Ein Internet-Reader. Ab 2005. http://www.stuttgarter-schule.de/jandlstu.htm (zuletzt eingesehen am 31. Januar 2017).
- 39. Ernst Jandl: »Das Öffnen und Schließen des Mundes. Frankfurter Poetikvorlesungen«. In: Ders.: Werke. Hg. v. Klaus Siblewski. Bd. 6: Mein Gedicht und sein Autor. Statements Reden Vorträge. München 2016, S. 295–401, hier S. 301.
- 40. Ernst Jandl: Brief an Ian Hamilton Finlay. 7. Oktober 1964. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Nachlass Ernst Jandl, ÖLA139/99, ohne Signatur.
- 41. Schmale: »Europäische Identität« (Anm. 4), S. 126.
- 42. Ernst Jandl: Brief an Ian Hamilton Finlay. 7. Januar 1965. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Nachlass Ernst Jandl, ÖLA139/99, ohne Signatur.
- 43. Ernst Jandl: Brief an Ian Hamilton Finlay. 19. September 1965. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Nachlass Ernst Jandl, ÖLA139/99, ohne Signatur.
- 44. Bohumilá Grögerova u. Josef Hiršal: »Prag Stuttgart und zurück«. Vortrag, Wilhelmspalais 10. September 1994, aktualisiert 1997. In: Reinhard Döhl, Johannes Auer u. Friedrich W. Block (Hgg.): Als Stuttgart Schule machte. Ein Internet-Reader. Ab 2005. http://www.stuttgarter-schule.de/pragstgt.htm (zuletzt eingesehen am 31. Januar 2017).
- 45. Siehe dazu das Zitat aus Jandls Stellungnahme in der Kronenzeitung in Franz Schuh: »lechts und rinks«. In: Die Zeit (03.08.2000). http://www.zeit.de/2000/32/lechts_und_rinks (zuletzt eingesehen am 31. Januar 2017).
- 46. Grögerova, Hiršal: »Prag Stuttgart« (Anm. 44). http://www.stuttgarter-schule.de/pragstgt.htm (zuletzt eingesehen am 31. Januar 2017).
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- 48. Vaclav Hável: »Ať jde každý vlastní cestou!« In: Ders.: Antikódy. Prag 1964, o. S. https://monoskop.org/images/7/7e/Havel_Vaclav_Antikody.pdf (zuletzt eingesehen am 31. Januar 2017).
- 49. Ian Hamilton Finlay: Brief an Ernst Jandl. 14. Februar 1965. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Nachlass Ernst Jandl, ÖLA139/99, ohne Signatur.
- 50. Ebd.
- 51. Ian Hamilton Finlay: Brief an Ernst Jandl. 27. September 1973. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Nachlass Ernst Jandl, ÖLA139/99, ohne Signatur.
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