Digitales Journal für Philologie
Textpraxis # 20 (2.2022)
In Textpraxis # 20 untersucht Andree Michaelis-König in seinem Aufsatz »›Eure Heimat ist unser Albtraum‹. (Post-)Migrantische Reflexionen eines umstrittenen ›Heimat‹-Diskurses in der neuesten deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« die kritischen Reaktionen jüngerer (post-)migrantischer Autor*innen auf die rezenten Debatten um den Begriff ›Heimat‹. In Anna-Maria Senuysals Beitrag »›In völliger Verrükung / constant zu werden‹. Verrückung als deterritorialiserende Textstrategie in Peter Weiss’ Hölderlin« wird analysiert, wie verschiedene Ebenen von Verrückungen aufeinandertreffen. In seinem Beitrag »›Sehnsucht nach einer geordneten Welt‹. Rainald Grebes Lob der Ratlosigkeit« stellt Tilman Venzl eine Poetik der Ratlosigkeit heraus, die sich dem Publikum appellativ mitteile.
Der Kabarettist, Liedermacher und Romancier Rainald Grebe befasst sich in seinem Werk intensiv mit dem Gefühl der Überforderung, das seit den 1990er Jahren in Deutschland bestimmend geworden sei. Er beobachtet ein sich hieraus ergebendes Bedürfnis nach Beheimatung, Orientierung in Raum und Zeit und einer Selbstversicherung der eigenen Identität, das leicht in eine Neigung zur Ab- und Ausgrenzung anderer Personen, Gruppen und Sichtweisen umschlagen könne. Der Aufsatz arbeitet Grebes künstlerische Strategien heraus, jenes Sinn- und Identifikationsbedürfnis ernst zu nehmen, ohne dabei retrograden Tendenzen und trügerische Essentialismen einen Resonanzraum zu geben. Mit Richard Rorty lässt sich dieses Verfahren Grebes als ironisch fassen: Entweder macht Grebe mögliche Heimatentwürfe auf ihren partikularen Charakter hin transparent oder er lässt sie als rein private, auf Generalisierbarkeit von vornherein verzichtende Haltungen erscheinen.
Der Beitrag untersucht die kritischen Reaktionen jüngerer (post-)migrantischer Autor*innen auf die seit einiger Zeit laufende Debatte um den Begriff ›Heimat‹ und versteht diese als eigenständige Position im Feld deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Herausgearbeitet wird, inwiefern Autor*innen wie Irena Brežná, Saša Stanišić, Sasha Marianna Salzmann, Hengameh Yaghoobifarah, Fatma Aydemir, Tamer Düzyol und Taudy Pathmanathan innovative Gegenentwürfe eines alternativen Gemeinschaftsverständnisses entwickeln, das den herrschenden ›Heimat‹-Diskurs umzudenken anregt. Dabei liegt ein expliziter Fokus auf der methodischen Reflexion eines Umgangs mit der Rede von »Heimat« und wie sich die literarischen Stimmen hierzu verhalten.
1970 erschien mit Peter Weiss’ Hölderlin ein Stück, welches sich mit dem Wahnsinn des im Titel benannten Dichters auseinandersetzt und die Thematik um eine zunächst distinkt politische Dimension erweitert, indem es ihn insbesondere (so von der Forschung häufig postuliert) als gescheiterten Revolutionär darstellt. Der Beitrag schlägt eine alternative Lesart vor, die dem Stück ein revolutionäres politisches Potenzial zuschreibt. Die These besagt, dass im Text Bewegungen auf den Ebenen von Temporalität, Subjekthaftigkeit und Ausdruck auftreten, die unter dem Begriff der Verrückung zusammengezogen werden. In diesen Bewegungen werden eindeutige Kodifizierungen und Fixierungen von Zeitlichkeit, Ausdruck und Subjekt dekonstruiert und der Text kann entlang der Linien der von Gilles Deleuze und Felix Guattari entwickelten Konzepte von Deterritorialisierung und Werden interpretiert werden.