Digitales Journal für Philologie
Sonderausgabe # 6 (1.2022)
Wie verändern neue technische Entwicklungen aus den Digital Humanities unser Verständnis von Literaturwissenschaft? Und: Welche Perspektiven eröffnen literaturwissenschaftliche Modelle und Praktiken auf digitale Methoden? Die interdisziplinären Beiträge in dieser Sonderausgabe beleuchten das komplexe sowie chancenreiche Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Digital Humanities aus verschiedenen praktischen und theoretischen Blickwinkeln.
Das Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Digital Humanities ist nicht nur dadurch geprägt, dass es mit den Digital (bzw. Computational) Literary Studies mittlerweile eine Subdisziplin gibt, die sich erkenntnistheoretisch aus beiden Supradisziplinen speist. Auch die Literaturwissenschaft selbst ist so digital geworden, dass entsprechende Verfahren ihren bestehenden Methodenstamm langfristig bereichern. Aus der Perspektive der Digital Humanities erscheint die Binnendifferenzierung in die Spielarten ›digitized humanities‹, ›numerical humanities‹ und ›humanities of the digital‹ instruktiv, welche sich den Bereichen Digitale Edition, Computationelle Methoden sowie Digitales Lesen/Social Media zuordnen lassen, die den vorliegenden Sonderband strukturieren.
In diesem Artikel werden einige der Probleme und Lösungen im Rahmen der Digitalen Philologie erörtert, die sich aus der Edition des Romanceiro – der ersten modernen iberischen Volksballadensammlung – des portugiesischen Schriftstellers Almeida Garrett (Porto, 1799 – Lissabon, 1854) ergeben. Wir analysieren in dieser Studie, inwieweit es angemessen ist, in ein digitales wissenschaftliches Umfeld zu wechseln, um unsere redaktionellen Anforderungen zu erfüllen. Darüber hinaus untersuchen wir methodische und workflowgesteuerte Aspekte, die wir während der Entwicklung des Garrettonline-Projekts im Hinblick auf die Beziehung zwischen einem Archiv und einer wissenschaftlichen Edition erörtert haben.
Der Beitrag zeigt, wie digitale Verfahren bei der Erschließung eines großen Briefkorpus eingesetzt werden können, um an der Schnittstelle von quantitativer Erfassung und qualitativer Kontextualisierung einen praxeologischen Zugang zu Literaturgeschichte zu schaffen. Mittels computationeller Verfahren wird es möglich, die Fokussierung auf kanonische Autor:innen zu überwinden und stattdessen die Perspektivenvielfalt künstlerischer und kultureller Arbeitszusammenhänge als polyphone Netzwerke sichtbar zu machen. Damit wird ein Beitrag zu einer Neujustierung der Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung im Zuge der Digitalisierung kultureller Artefakte geleistet.
›Distant Reading‹-Ansätze zur Erforschung literarischer Gattungen sind relativ neu, kommen jedoch vielfach zum Einsatz. Erforscht werden nicht nur neue Methoden, sondern es wird auch angenommen, dass einige Probleme, die die Literaturwissenschaft schon länger beschäftigen, mit diesen neuen Methoden produktiv behandelt werden können. In diesem Beitrag werden zwei einflussreiche Studien, die DH-Methoden (›Distant Reading‹) auf die Gattungstheorie bzw. Gattungsgeschichte anwenden, näher betrachtet: Andrew Pipers »Fictionality« (2016) und Ted Underwoods »The Life Cycles of Genres« (2016). Wir hinterfragen die Ziele und Ergebnisse dieser Studien, indem wir folgende drei Fragen stellen: (1) Welches ist das traditionelle Forschungsthema, das behandelt wird, und was genau soll innerhalb des Themas erklärt werden? (2) Welche Erklärungsstrategien werden verfolgt, und welche Ergebnisse werden erreicht? Und schließlich (3) Antworten die Studien tatsächlich auf die traditionellen Fragen, die sie (explizit) zu beantworten versuchen, und tun sie dies mit Erfolg? Indem wir diese Fragen stellen, hoffen wir, allgemeinere Aussagen über die Potenziale von DH-Methoden im Hinblick auf die (traditionelle) Gattungstheorie herauszuarbeiten.
Das Forschungsfeld der mehrsprachigen Literatur nutzt eine Vielzahl an Methoden, wobei selten genauer darauf eingegangen wird, mit welchen (digitalen) Methoden Fallstudien oder Korpusanalysen durchgeführt werden. Der vorliegende Beitrag führt anhand eines Korpus aus 138 lyrischen Texten aus dem Literaturraum Südtirol eine digital durch die Software ATLAS.ti gestützte Korpusanalyse vor, die sich an sozialwissenschaftlichen Methoden der qualitativen Datenanalyse orientiert. Das Ziel dieses Werkstattberichtes ist es, Einblick in Zusammenstellung und Annotation des Korpus sowie in die Möglichkeiten der Analyse zu geben.
Der Einsatz des Computers in der Literaturwissenschaft kann als Bindeglied zwischen den beiden wichtigsten intellektuellen Traditionen, die sich dem Studium literarischer Texte widmen, gesehen werden: der Philologie und dem close reading auf der einen Seite und der Literaturtheorie auf der anderen. Es ist jedoch nicht einfach, diese Verbindung herzustellen. In diesem Beitrag wird ein experimenteller Ansatz für die computergestützte Literaturwissenschaft beschrieben, der auf einer Kombination mehrerer Modelle beruht und sich auf die Diskrepanzen zwischen diesen Modellen konzentriert. Der Computer wird mit literarischen Texten gespeist, verarbeitet sie auf verschiedene Weise und liefert den Forschenden dann ein grafisches Produkt, das aufzeigt, wo die Modelle nicht übereinstimmen – in der Annahme, dass solche Stellen für Wissenschaftler*innen hermeneutisch interessant sein könnten.
Die Auseinandersetzung mit Raumtheorien in der Literaturwissenschaft ist nicht zuletzt seit dem Spatial Turn vielschichtig geprägt. Insbesondere narratologisch-textuelle Raumkonzepte liefern dabei die Grundlage für eine Operationalisierung und computationelle Modellierung. Basierend auf einschlägigen Publikationen von Katrin Dennerlein und Barbara Piatti werden in diesem Beitrag annotierbare Kategorien für die Grundkategorie der literarischen Raumentität sowie deren Klassifikation im Hinblick auf den Status als Handlungsort (Setting) entwickelt und in einer Pilotannotation qualitativ und mittels ›Inter-Annotator-Agreement‹ evaluiert. Dabei werden textuelle Marker für die Klassifikation des Setting-Status herausgearbeitet, die in einem maschinellen ›Classifier‹ Verwendung finden.
Dieser Beitrag untersucht digitale Verfahren der Literatur(wissenschafts)vermittlung in den Social Media. Social Media übermitteln nicht nur digitale Dubletten von offline verfügbaren Angeboten der Literaturvermittlungsinstitutionen, sondern bilden eigene literarische Formen und kulturelle Praktiken der Kommunikation von, mit und über Literatur aus. Der Beitrag charakterisiert diese digitalen Praktiken der literarischen Kommunikation in den Social Media und typologisiert am Beispiel des sozialen Netzwerks Twitter, wie Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik diese Praktiken methodisch systematisch in der akademischen Lehre nutzen. Aufgezeigt wird, dass Social Media literarisch und epistemisch relevante Netzwerke der (Literatur-)Wissenschaftskommunikation werden.
Der Artikel fragt nach dem Einfluss digitaler Medien auf die Praktik des Lesens. Der methodischen Herausforderung, digitales Lesen zu untersuchen, wird mit dem Entwurf einer literatur- und medientheoretisch informierten Lesepraxeologie begegnet. Diese geht aus theoretischen Überlegungen hervor, die u.a. auf der Materialitätsforschung, Wolfgang Isers Leseakttheorie und dem Eigenschaftskatalog digitaler Lesemedien (Kuhn & Hagenhoff) aufbauen. Anhand zweier literarischer Beispiele wird veranschaulicht, wie Lesen an digitalen Medien von Affordanzen begleitet wird, die stabile Lesestrategien erfordern.
Die Aufmerksamkeit um #IchBinHanna und #IchBinReyhan brandet seit mittlerweile über einem dreiviertel Jahr wiederholt auf. Es ist Zeit für einen Textpraxis-Podcast: In dieser Episode sprechen wir mit Iuditha Balint (Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt in Dortmund), Kristin Eichhorn (Universität Stuttgart) und Mahshid Mayar (Universität Bielefeld) über die Hashtagkampagne, ihre Vorläufer, das WissenschaftsZeitVertragsGesetz und die Arbeitsbedingungen in der deutschen Wissenschaft.