Digitales Journal für Philologie
Age Revisited
Aufhebung der Altersbeschränkung
Identität ist in den letzten Jahren ein hart umkämpftes Feld geworden. In den gegenwärtigen Debatten wird mit dem Konzept der Identität nicht nur die Einheit oder Unverwechselbarkeit einer Person bezeichnet, sondern auch ihre Gruppenzugehörigkeit, ihre Hautfarbe, ihre sexuelle Orientierung, ihr Geschlecht oder ihr soziales Milieu. Allerdings wird ein Aspekt in den gesellschaftlichen Analysen und Küchentischdebatten bislang vernachlässigt: das Alter. Obwohl das Alter neben Geschlecht, Klasse und ethnischer Zugehörigkeit zu den zentralen gesellschaftlichen Dimensionen der Diversität gehört, scheint es indes weniger im Fokus der Betrachtung. Dabei organisiert es maßgeblich die lebensweltlichen Horizonte und strukturiert gemeinhin die Gesellschaft in spezifische Alterskohorten, Generationen und Jahrgänge. Trotz dieser schlichten Beobachtung scheint sich das Alter entgegen den beständigen Kategorien von Geschlecht, Klasse und ethnischer Zugehörigkeit in einem wesentlichen Punkt zu hervorzuheben: Das Alter ist prozessual. Das Alter als solches drückt zudem die mittlerweile angenommene Identitätspluralität und -dynamik eminent aus. Im Alterungsprozess ändert sich der soziale Status eines Subjekts mehrfach. Die Alterskategorie ist sowohl fest als auch fluide, insofern sie die Frage des Seins und Werdens gleichermaßen betrifft.
Aufgrund seiner besonderen Relevanz gehört das Lebensalter gemeinsam mit dem Altern zu den wichtigsten literarischen Sujets. In der Literatur sind Fundstellen, die den herausragenden Stellenwert des jeweiligen Alters belegen, zahlreich. Sie reichen von spezifischen Typologien, über beständige Figurenmodelle bis zu wiederkehrenden Alterstopoi. In allen literarischen Gattungen und Epochen finden sich Repräsentationen, Metaphern, Wertungen, Stereotype sowie konstante und fluktuierende Deutungskonzepte zum Alter und Altern neben Darstellungen von Lebensphasen und Gliederungsmodellen. Deutlich sichtbar sind Alter und Altern in der Literaturwissenschaft zu einem Fluchtpunkt ästhetischer und epistemischer Aushandlungen geworden, an dem unterschiedliche Wissensdiskurse und interdisziplinäre Dimensionen zusammenlaufen.
Allerdings fällt bei der Durchsicht der umfangreichen Forschungslage auf, dass unter dem Begriff des Alters in der Literaturwissenschaft hauptsächlich das hohe Alter verstanden wird.1 Diese Engführung hat zur Folge, dass das Alter in seiner ganzheitlichen Qualität, nämlich als diskursiv hervorgebrachte und performative Kategorie und Identitätsmarker, vernachlässigt und damit elementares Beschreibungs- und Erkenntnispotenzial der Literatur verschenkt wird. Besonders der Doppelaspekt des Alters als zugleich feste und fluide Kategorie ist in der germanistischen Literaturwissenschaft bislang nur peripher untersucht worden Der vorliegende Beitrag plädiert für eine umfassende Betrachtung des Alters in literarischen Texten und diskutiert die Funktionen und Konsequenzen einer solchen literaturtheoretischen Neukonzeption des Alters und Alterns als eines lebenslangen Prozesses, beginnend mit der Geburt, gefolgt von der Kindheit, der Jugend, dem Erwachsenenalter, dem Mittleren Alter, dem Renten- und Greisenalter bis zum Tod. Erst im Kontext des gesamten Lebensverlaufes werden das Alter und Altern sowie ihr literaturwissenschaftlicher Stellenwert hinreichend erfasst. Dadurch eröffnen sich vielfältige Referenzfelder und Bedeutungsdimensionen des Lebensalters, die in der Literatur thematisiert und implizit verhandelt werden: das Alter als Zeiteinheit; als Berechnungsgröße der Lebenszeit und als Cluster des Rechts; als sozialhistorische Kategorie und als kulturelles Deutungskonzept; als Identitätsmerkmal und als psychologisches Konzept; als Referenzpunkt für den Körper; als Kategorie familialer und generationeller Verhältnisse; als Ausgangspunkt von Gesellschaftsanalyse und als Repräsentationsmodell verschiedener Diskurse und Denkmodelle. Die Deutungspotenz und Referenzialität machen das Alter zu einem produktiven Gegenstand, wenn nicht gar zu einer anschlussfähigen Analysekategorie des literaturwissenschaftlichen Arbeitens.
Die semantische Tieflage des Alters und literaturwissenschaftliche Schieflage sollen paradigmatisch an Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens2 (1895) illustriert und tentativ korrigiert werden. Die Lebensgeschichte der Agathe Heidling, dargestellt qua ihrer Altersstufen, das altersgeschichtete Figurenensemble, die altersbezogenen Erwartungshaltungen und Handlungsmöglichkeiten werden vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Geschlechterdiskurses der wilhelminischen Zeit kritisch in den Blick genommen. Dabei wird insbesondere soziokulturelle Kopplung von Alter und Geschlecht reflektiert.
Der Beitrag versteht sich grundlegend als ein Vorschlag, sich dem bedeutungsgeladenen, assoziationsträchtigen und vielschichtigen Themenkomplex Alter und Literatur neu anzunähern, indem er einen Fokus auf das Alter als Strukturkategorie in literarischen Texten wirft. Die literaturwissenschaftliche Altersforschung und ihre vielfältigen ›Flaggschiffe‹ ausdifferenzierter Forschungszweige sollen somit in neue Fahrwasser gelenkt werden. Das Ziel kann dabei nicht sein, die Erkenntnisse der einzelnen Fachdisziplinen zum Alter über Bord zu werfen. Studien zu spezifischen Altersphasen werden wahrscheinlich immer notwendig sein, sofern die Bedürfnisse und Lebenslagen von Menschen in bestimmten Lebensphasen in einem gewissen Maße unterschiedlich zu denen anderer Phasen sind. Eine kritische und fundierte literaturwissenschaftliche Altersforschung setzt sich überdies aus ihren ausdifferenzierten und spezialisierten Teildisziplinen und deren umfangreichen Methoden, Materialien und Theorien zusammen. Der Vorstoß möchte die Potenziale eines solchen Denkansatzes ausloten und versteht sich als ein kritischer ›Überprüfungsmodus‹ bestehender altersbezogener Theoreme in der germanistischen Literaturwissenschaft. Wesentlicher Referenzrahmen und zentrale Anschlussstelle für den Beitrag bildet die Kinder- und Jugendliteratur, die sich in den letzten Jahrzehnten vermehrt für eine kritische Reflexion des Alters im Allgemeinen, d. h. jeden Alters, eintritt.3
Ähnlich wie die feministische Literaturwissenschaft in ihrer Hervorhebung des Geschlechts als zentrale Diskurskategorie neue Erkenntnisse auf bestehende Forschungen geliefert hat, setzt sich der Beitrag im Anschluss an die ›Alterstheorie‹ der Kinder- und Jugendliteratur4 für eine Revision des konservativen Altersverständnisses und für eine umfassende Betrachtung des Alters ein. Dieser Zugang verspricht eine neue Perspektive auf das Alter als analytische Kategorie in der germanistischen Literaturwissenschaft, die sich in den letzten Jahren vermehrt Konfigurationen von Klasse, Herkunft5 und ethnischer Zugehörigkeit zugewandt, das Alter aber bislang als zu alt gedacht hat.
Die ›alte Leier‹ – Zum Stand der literaturwissenschaftlichen Altersforschung
Die Beschäftigung mit dem Alter und Altern blickt im europäischen Kontext mit Werken Ciceros Cato maior de senectute oder Montaignes Philosophieren heißt sterben lernen auf eine lange Tradition. Mit dem tiefgreifenden demographischen Wandel von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit hat die Altersforschung an sozialpolitischer Geltung und wissenschaftlichem Profil gewonnen.6 Sie hat sich im 20. und 21. Jahrhundert mit einem umfangreichen theoretischen Vorbau als anschlussfähiger und multidisziplinärer Forschungssektor etabliert. Das Aufkommen der empirischen Altersforschung hat zudem zu einer weiteren Ausdifferenzierung des Forschungsparadigmas geführt. Ein Blick auf die gegenwärtigen Verästelungen der altersbezogenen Forschungszweige, allen voran das Forschungsfeld der Gerontologie als ›Mutterstamm‹, belegt eine anhaltende Altersaffinität, die sich allerdings fast ausnahmslos auf das hohe Alter bezieht. Die Alterstheorien sind vielfältig, das Methodenrepertoire umfangreich und die Spezialforschungen sowie Sektionalisierungen weitreichend. Die mit dem hohen Alter verknüpften Themenfelder reichen von sozio-ökonomischen Ungleichheiten über Gesundheit, Raum und Siedlung bis zu Sexualität und Technik. Fast alle großen akademischen Disziplinen, sei es die Psychologie, die Biologie, die Soziologie, die Kunstgeschichte, die Kulturwissenschaft oder die Demographie und ihre Rede von der alternden Gesellschaft, haben sich an der Erforschung des hohen Alters beteiligt. Es fehlt jedoch »an Versuchen zu großen Erzählungen«7innerhalb der multidisziplinären und heterogenen Altersforschung, d. h. es mangelt an einem integrativen Überbau, der die verschiedenen Erkenntnisse und Wissensproduktionen einschließt. Ein umfassender Bericht zum aktuellen Forschungsstand der interdisziplinären Altersforschung, ihren Entwicklungen und Tendenzen kann hier nicht abgefasst werden. Es kann nur schlaglichtartig auf wesentliche Paradigmen der literaturwissenschaftlichen Altersforschung verwiesen werden, die sich allerdings nur hinreichend innerhalb des theoretischen Rahmens anderer Fachdisziplinen konzipieren lassen und gedacht werden müssen.
Minimaldefinitorischer Konsens in der interdisziplinären Altersforschung besteht mittlerweile darin, dass das Alter bzw. Altern nicht bloß ein biologischer Sachverhal uund auch keine anthropologische Konstante ist,8 sondern ein soziales und kulturelles Konstrukt darstellt.9 Das Alter wird von gesellschaftlichen Verhältnissen und sozialen Erwartungen modelliert sowie von Wahrnehmungen und Deutungsmustern der einzelnen Epochen geprägt. Altersvorstellungen unterliegen dem historischen Wandel, allerdings lassen sich auch gewisse Kontinuitäten beispielsweise in beständigen Altersbildern identifizieren. Eine große Varianz gibt es zudem in den historischen Lebensverlaufsmodellen, die sich an verschiedenen, übergeordneten Zeitvorstellungen wie etwa der mythischen, heilsgeschichtlichen, kosmologischen und kalendarischen orientieren und ihrerseits an bestimmte Weltauffassungen und Ordnungsmodelle gebunden sind.10 Die Einteilungen des menschlichen Lebens variieren, sie können beispielsweise drei, vier oder sieben Lebensphasen umfassen; prominente Altersdarstellungen sind etwa das Lebensrad, die Lebenstreppe und die dekadischen Darstellungen mit ihren spezifischen Tieranalogien. Angesichts des Konstruktionscharakters lassen sich das Alter bzw. Altern in der Literatur auf unterschiedliche Weise inszenieren, kontextualisieren, konzipieren und interpretieren. Vor dem Hintergrund der konstanten Befassung mit Altersfragen hat sich die Literaturwissenschaft den diversen Typologien von weisen, kindischen, boshaften, geschwätzigen und unwürdigen Alten, Figurenmodellen wie dem der alten Kupplerin, der fürsorglichen Großmutter, des alten Sehers und der alten Jungfer11 und Topoi des Alterslobs, der Altersklage, der Altersschelte und des Altersspotts12 zugewandt. Im Anschluss an das expandierende und hochgradig interdisziplinär organisierte Forschungsfeld der Gerontologie hat die germanistische Literaturwissenschaft verschiedene Zugänge erprobt und die Erforschung der Konzeptualisierungen sowie Historisierungen von Altersdiskursen sowie -kulturen vorangetrieben. Lebensalter und Lebensstufenmodelle werden im Kontext von Generationen-, Bildungs- und Entwicklungsromanen und vor dem Hintergrund der zeitlichen Verläufe und Entwicklungen von Figuren verhandelt, wenngleich sie nur selten primärer Untersuchungsgegenstand sind. Das Alter hat sich ebenso als Kriterium für die Verhandlung des Konzeptes der Generation hervorgetan. Infolgedessen tangiert es in den Texten im weitesten Sinne Fragen nach Geschlecht, Herkunft und Genealogie, Praktiken der Traditionsbildung und Erneuerung sowie des sozialen und kulturellen Wandels.13
Ein weiteres, stark verallgemeinertes Paradigma der literaturwissenschaftlichen Altersforschung betrifft das Alter als literaturwissenschaftliches Ordnungsmuster. Aus produktionsästhetischer und werkbiografischer Perspektivierung ist das Alter zur Kennzeichnung von Werkphasen, Stillagen und Epochen relevant. Studien zum Alterswerk und Altersstil haben in der germanistischen Literaturwissenschaft Konjunktur14 und dienen beispielsweise der Einschätzung anfänglicher avantgardistischer Schreibphasen oder ausgereifter Altersstile. Sinnfällig kommt das Alter zudem in programmatischen Zuschreibungen bzw. Selbstbeschreibungen etwa in den literarischen Epochen des Sturm und Drang, des Jungen Deutschlands im revolutionären Vormärz und des Jugendstils zum Ausdruck. Seit den 1880er-Jahren hat es sich im Jugendmythos und im Motiv des Generationenkampfes, insbesondere im Naturalismus und zur Hochblüte der 1920er-Jahre, paradigmatisch für den Konflikt zwischen traditionellen und progressiven gesellschaftlichen Kräften, dem literarischen Diskurs eingeschrieben. Der Jugend wurde sich in der Literaturwissenschaft einerseits als Adressat für Programme der Erneuerung, andererseits als identitätsverunsichernde Orientierungs- bzw. Reifungsphase zugewandt,15 gattungsspezifisch markiert durch den Adoleszenzroman. Für die Kinder- und Jugendliteratur ist das Alter selbst gattungskonstituierend. Dabei ist die Kinder- und Jugendliteratur einerseits von sozialen und kulturellen Konstrukten des Alters geprägt, andererseits bildet sie ein reichhaltiges Reservoir an kreativen, humorvollen und unkonventionellen Altersbildern.
Die Literatur hat mit ihren »Wirklichkeits- und Möglichkeitsszenarien«16 alternative Modelle, Repräsentationsformen und Narrative hervorgebracht sowie Stereotype durch die Differenziertheit von Lebensformen und Pluralisierung von Altersbildern herausgefordert, jene aber auch fortgeschrieben und damit erstarren lassen. Die literarischen Bearbeitungen gehen im gerontologischen Wissenskanon auf, zugleich hat die Literatur zur Erschließung neuer Wissensfelder und Perspektiven beigetragen, wie beispielsweise das performative Konzept des ageing trouble17 nahelegt. Die Literatur ist an der Herstellung, Tradierung und Modifizierung von Alterskonstruktionen produktiv bis subversiv beteiligt. Sie verspricht somit ein vertieftes Verständnis von Altersdiskursen und -repräsentationen sowie epochaler Tendenzen der Altersdarstellung. Allerdings tut sie dies, zumindest in der Neueren Deutschen Literatur und Mediävistik, mit einem scheinbar unverrückbaren Fokus auf das hohe Alter. Der überwiegend monoperspektivische Zuschnitt des Alters in der Literaturwissenschaft ist möglicherweise auch darauf zurückzuführen, dass die Gerontologie die Perspektiven auf das Alter bestimmte und den Altersbegriff lange Zeit für sich reklamierte. Erst in den letzten Jahrzehnten haben die kritischen age studies und die life coure perspective zu einem Umdenken geführt. Diesem Paradigma folgend ist jedes Alter, d. h. sämtliche Lebensalter und Altersstufen, für die Untersuchungen relevant. Die life course perspective rückte in den 1980er-Jahren die einzelne Person und ihre Auseinandersetzung mit dem Prozess des Alterns in den Mittelpunkt, nachdem in den 1960er-Jahren die Lebensphase des hohen Alters etabliert und in den 1970er-Jahren zum Ausgangspunkt für Gesellschaftskritik wurde.18 Mittlerweile ist die life course perspective in der internationalen Altersforschung fest verankert und laut Hutchison »an interdisciplinary theory that attempts to explain how humans change and stay the same as they make their journey from conception to death«.19 Programmatisch betrachtet dieser Ansatz Altern als ein dynamisches und heterogenes Phänomen, das sich nur unter Einbeziehung biologischer, psychologischer, sozialer, historischer, ökologischer und kultureller Einflüsse und Faktoren verstehen lässt.20 Das Konzept des Lebensverlaufes tangiert im weitesten Sinne dabei auch Themenfelder wie Macht- und Generationsverhältnisse, familiäre Beziehungen, die psychologische Entwicklung, soziale Gruppen sowie ihre Räume und ihre Beziehungen zueinander.
Die Kinder- und Jugendliteratur hat auf diesem Feld bereits Pionierarbeit geleistet. Zunächst scheint diese Vorreiterrolle darauf zurückzuführen, dass das Alter in der Kinder- und Jugendliteratur einen besonderen Stellenwert einnimmt. Es ist omnipräsent; es ist geradezu der wesentliche Aspekt der Definition von Kinder- und Jugendliteratur.21 Auf den Ebenen der Produktion und Rezeption, der Adressierung, Vermarktung und Distribution von Kindermedien sowie in den Texten selbst, beispielsweise in Form von Alterszuschreibungen, Beziehungskonzepten und Alterskonflikten, spielt die Konzeptualisierung von Alter und die Konstruktion von Lebensphasen eine signifikante Rolle. Nicht zuletzt basiert der Forschungsbereich selbst auf Alterskonstruktionen.
Aus dieser besonderen altersaffinen Position heraus hat die Kinder- und Jugendliteratur konsequenterweise die Interdependenzen und Parallelen zwischen den Lebensphasen in den literarischen Texten untersucht und herausgearbeitet. Sie knüpft damit an Bemühungen an, zwischen den childhood studies und den age studies einen produktiven Dialog herzustellen.22 Während sich die childhood studies vornehmlich mit sozialen Positionierungen von Kindern und Konstruktionen von Kindheit in diachroner Perspektive befasst haben, haben die age studies traditionell das hohe Alter untersucht. Erst in den letzten Jahren ist der Fokus der age studies weiter geworden und liegt schwerpunktmäßig nicht mehr nur auf der Gerontologie. Beide Forschungsfelder verfolgen ähnliche Anliegen, die sie zuweilen nur unterschiedlich definieren und konzeptualisieren. Eine gegenseitige Rezeption findet bis dato kaum statt, obschon sie Elemente eines einheitlichen Problemzusammenhanges darstellen. Dabei lassen sich die einzelnen, bisher voneinander getrennt untersuchten Lebensphasen unabhängig voneinander weder entwerfen noch verstehen, wie es bereits die Lebensaltersdarstellungen der Frühen Neuzeit in der Abbildung des Ablaufs des gesamten Lebens zu zeigen versuchten. Im Hinblick auf die Konstruktion von Kindheit scheint Setterstens Befund eindeutig: »the category ›adulthood‹ is particularly important because childhood is often defined in direct contrast to adulthood.«23 Die Lebensalter bringen sich gegenseitig hervor, d. h. Alter ist relational konzipiert. Eine einseitige Fokussierung auf das Alter als abgeschlossene, letzte Lebensphase erzeugt folgenschwer tote Winkel. Erst im Kontext des gesamten menschlichen Lebensverlaufs werden sämtliche Lebensalter, Lebensaltersmodelle. Infolgedessen setzen sich einige Autoren und Autorinnen der Kinder- und Jugendliteratur verstärkt für eine theoretische Reflexion des Alters im Allgemeinen ein. Damit ist jedes Alter und jede Lebensphase für die literaturwissenschaftliche Analyse relevant. Dies sollte bei weitem nicht überraschend sein, denn: »Children’s books are populated by characters of all ages.«24 In diesem Sinne wird das Alter als relationales Konzept aufgefasst. Das ›kategoriale Alter‹ ist für die Identität eines Individuums nicht nur in der Kindheit und im hohen Alter relevant, sondern spielt zu jedem Zeitpunkt des Lebens eine beachtliche Rolle. Im Anschluss an die Errungenschaften der interdisziplinären Altersforschung ist jedes Alter kulturell und sozial konstruiert, es ist eine diskursive Größe im gesellschaftlichen Raum und zugleich ein Erzeugnis der Zeit. Jede Altersstufe wird durch Ideale, Zuschreibungen und Werte normiert und mit sozialen Erwartungen und Rollen verbunden. Selbst das chronologische Alter ist laut Benner und Ullmann ein »diskursives Werkzeug […], mittels dessen, gefiltert durch Altersnormen, biologische, psychologische und gesellschaftliche Signifikanzen von age konstruiert und fixiert werden«.25
Diese erweiterte Sicht setzt den abgeschlossenen Lebensphasen eine dynamische, differenzierungstheoretische Perspektive entgegen, die sowohl die Normierung der Lebensphasen als auch die davon ausgehenden Diskriminierungen überdenkt und eine flexiblere Theorieanlage notwendig macht. Die Ausweitung des Theorems spiegelt sich eminent in den Diskussionen um eine altersbedingte Diskriminierung. Ageismus beispielsweise kann sich nicht nur auf ältere Menschen beziehen. Jede Altersgruppe kann von altersbezogenen Vorurteilen, Stereotypisierungen und Marginalisierungen betroffen sein. Zudem werden in den gegenwärtigen Debatten um den Begriff des ›Adultismus‹ Machtverhältnisse zwischen Erwachsenen und Kindern problematisiert und damit Altersnormen hinterfragt.26 Der routinierte ›Alters-Reflex‹ in der Literaturwissenschaft, d. h. eine allzu vorschnelle Identifizierung des Alters mit dem hohen Alter, sollte vor dem Hintergrund der diversifizierten, fachübergreifenden Forschungslage zum Alter, allen voran den Tendenzen in der Kinder- und Jugendliteratur, hin überprüft und kritisch reflektiert werden. Im Anschluss an die Kinder- und Jugendliteratur und die age studies wie auch zu Teilen die childhood studies wird das Alter in diesem Beitrag als eine lebenslange soziale Kategorie, Diversitätsdimension und Identitätsmarker in der Literaturwissenschaft konzeptualisiert. Es werden literarische Belege angeführt, um diese Position über die Kinder- und Jugendliteratur hinauszuführen und in der Literaturwissenschaft zu stützen. Für eine fundierte literaturwissenschaftliche Altersforschung ist die Einbindung kulturhistorischer, philosophischer, psychologischer, historischer, physiologischer, rechtswissenschaftlicher und soziologischer Ansätze maßgeblich, die in diesem Beitrag allerdings nur ansatzweise aufgegriffen werden können. Erst der interdisziplinäre Ansatz ermöglicht es, das Alter auf seine imaginativen Referenzfelder und vielfältigen Bedeutungsdimensionen, die es in der Literatur entfalten kann, zu befragen. Der interdisziplinäre Zugriff ist deshalb erforderlich, weil das Alter als fluide Identitätskategorie ein komplexes, theoretisch sprödes und zuweilen schwer zugängliches Phänomen darstellt.27 Nur auf den ersten Blick erscheint das Alter als eine einfache, chronologisch quantifizierbare Variable. In der Literatur werden die Lebensalter nicht einfach gezählt, sie werden auch erzählt. Zwar belegt eine Fülle von Studien, dass die Lebenszeit in der Literatur nicht einfach vermessen, sondern auch ausgedeutet wird. Allerdings wird in den meisten Analysen das jeweils untersuchte Alter als substanziell und fest präsentiert und der fluide, differenzierte Charakter des Alters, eben als Statuspassage, nur unzureichend reflektiert.
»Altjungferngedanken«28 – Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie
Die Möglichkeiten und Herausforderungen aufzuzeigen, die sich ergeben, wenn das Alter als soziale Kategorie in erzählenden Texten verstanden wird, soll paradigmatisch an Gabriele Reuters Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens aufgezeigt werden.
Auf Vermittlung von Reuters Freund, John Henry Mackay, an den Berliner Verleger Samuel Fischer erschien Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens in der Vorweihnachtszeit des Jahres 1895. Der Roman wurde ein großer Erfolg, seine Autorin über Nacht berühmt. In seinem ersten Jahr nach Erscheinen erlebte der Roman allein vier Auflagen, bis 1911 wurde er jährlich neu aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt.29 Trotz alledem geriet der Roman weitestgehend in Vergessenheit und wurde im Gegensatz zu Fontanes im selben Jahr veröffentlichten Roman Effi Briest nicht kanonisiert.30
Der Roman erzählt die leidvolle Lebensgeschichte der Protagonistin Agathe Heidling, die im wilhelminischen Kaiserreich die weiblichen Rollenbilder der heiratswilligen Jungfrau, treuen Gattin und fürsorglichen Mutter nicht erfüllt und an diesen allmählich zerbricht. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Spielregeln des Heiratsmarktes und das patriarchale Familienmodell verhindern Agathes freie Entfaltung und ihre Suche nach alternativen Lebensmodellen, die ohnehin aufgrund ihres Geschlechts und ihrer sozialen Stellung limitiert sind. Kein anderes Ziel als die Ehe wurde in den damaligen dominanten Gesellschaftsschichten des Kaiserreiches anerkannt. Dementsprechend gestaltet sich von Beginn an ihre Erziehung und Bildung als Tochter aus großbürgerlichen Kreisen eindimensional. Trotz einer zumindest äußerlich vorbildhaften Performanz der sogenannten höheren Tochter gelingt es Agathe nicht, innerhalb des streng normierten heiratsfähigen Zeitraumes einen Mann an sich zu binden. In zunehmende Isolation gedrängt und allen möglichen, wenn auch ohnehin stark begrenzten Handlungsoptionen beraubt, gelangt Agathe nach einem Zusammenbruch in eine Nervenheilanstalt. Anschließend wohnt sie nach zweijähriger Elektroschock-Behandlung bei ihrem Vater, wo sie in völliger Resignation vor sich hinlebt.
Die signifikante Rolle des Geschlechts für den Roman ist von der überschaubaren Forschungsliteratur thematisiert und wenig überraschend vor dem Hintergrund der rezeptionsgeschichtlichen Kategorisierung als ›Frauenliteratur‹ ausgiebig behandelt worden.31 Mit besonderem Interesse wurden und werden die Themenfelder weibliche Pathologie,32 Hysterie33 und Erschöpfung34 verfolgt. Agathes Lebenslauf respektive ihr Alterungsprozess konnte meist mit Blick auf den zeitlichen Verlauf der Handlung und Agathes Verfallsgeschichte, d. h. der radikalen Verengung ihres lebenszeitlichen Horizontes, nicht unterschlagen werden. Es blieb allerdings ein nachgeordneter Faktor35 und dies, obgleich der Roman mit dem lakonischen, bedeutungsschwangeren und ironischen Satz, der unweigerlich das Alter in seiner prozessualen Dimension hervorhebt, schließt: »Und Agathe hat vielleicht ein langes Leben vor sich – sie ist noch nicht vierzig Jahre alt« (AgF, S. 268).36 Die Alterskategorie ist in diesem Roman ein entscheidender Faktor, der zur Dramatisierung der Zustände beiträgt und in seiner Kopplung an die Kategorie des Geschlechts zum tragischen Ausgang des Romans führt. Nicht die Markierung als Frau allein begründet Agathes Schicksal, substanziell ist Agathes Alterung, ist der geschlechtskodierte Lebenslauf im großbürgerlichen Milieu. Agathes Alterung zeigt sich, wenn auch mit anachronistischen Versatzstücken, als eine Aggregation an leidvollen Erfahrungen und einer zunehmenden Minderung an Möglichkeiten, die insgesamt in ihrer Vehemenz den Lebensweg als Leidensweg kennzeichnen. Im Kontrast dazu stehen die Lebensläufe der männlichen Figuren, die sich trotz vorangeschrittenen Alters oder gesellschaftlich inadäquaten Verhaltens keinen und wenn nur minimalen Einschränkungen ausgesetzt sehen. Susan Sontag beschreibt diesen Umstand fast ein ganzes Jahrhundert später als den double standard of aging.37 Der Bewertungsrahmen ist für Frauen deutlich strenger. Der Personenstand der Frau ist auf besondere Weise enger mit dem Alter verwoben als der des Mannes. Alter und Geschlecht werden in ständiger Korrelation als wesentliche Identitätskategorien in einem großbürgerlichen Milieu hervorgehoben.
Die Virulenz des Alters für den Roman wird zudem vor der Folie der spannungsvollen Familienverhältnisse und Generationsbeziehungen und den damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen des wilhelminischen Kaiserreichs deutlich, die sich zum einen implizit durch das Alter konstituieren und zum anderen erzähltechnisch am Alter veranschaulichen lassen. Machtverhältnisse werden durch enorme Altersunterschiede wie beispielsweise zwischen Agathe und ihrem Bewerber Raikendorf sowie zwischen Agathe und ihrem Vater untermauert und perpetuiert. Soziale Binnengruppierungen wie die der höheren Töchter, eine Bezeichnung für Mädchen und junge Frauen aus großbürgerlichen Kreisen, werden signifikant durch das Alter eingegrenzt und vor dem Hintergrund Agathes Lebensweg diskutabel gemacht. In der Wilhelminischen Ära ist das Ziel der höheren Tochter zunächst die Eheschließung, für die es einen engen zeitlichen Rahmen gibt, der mit der Lebensphase des Mädchens koinzidiert. Diese zeitliche, respektive altersbezogene Markierung kündigt sich bereits im Untertitel Leidensgeschichte eines Mädchens an und Mellmann übersetzt ihn nach dem Sprachgebrauch der Zeit mit einer Unverheirateten.38 Das Alter stellt insofern einen zentralen Bestandteil der moralischen Organisation des Werkes dar, als dass die Lebensleistung der Mädchen unter einem strengen Bewertungsrahmen ins Verhältnis zu ihrem Alter gesetzt wird. Unverheiratete, ältere Frauen werden im Roman größtenteils von Agathe selbst als minderwertig und anstößig befunden. Sie erfüllen nicht den allgemeinen Sittenkodex und das Idealbild einer Frau. Die gesellschaftliche Doppelmoral setzt dabei an der Koppelung von Geschlecht und Alter an. Tangiert werden damit auch ethische Fragen nach einer gelingenden Lebensführung, die für Agathe ex negativo bestimmt werden muss. Die Identitäten der Romanfiguren werden durch Altersnormen sowie Altersrollen determiniert und mit bestimmten Alterserwartungshaltungen konfrontiert, d. h. spezifischen Vorstellungen einer gewissen Altersgemäßheit. Darüber hinaus erwächst aus der spezifischen Altersstruktur als zentraler Teil der symbolischen Ordnung die innere Logik eines Konfliktes. Altersangaben sind »hochverdichtete symbolische Repräsentationen eines komplexen sozialen und moralischen Beziehungsgefüges«.39
Das Alter wird in Reuters Roman Aus guter Familie explizit und auf verschiedene Weise thematisiert. Neben den Schematisierungen wie Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter werden die numerischen Altersangaben aufgerufen, die spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts zur standardisierten Repräsentationsform des Alters werden. Die folgende Analyse entfaltet sich vorwiegend entlang der numerischen Altersangaben von Agathe Heidling. Die konkret messbaren Jahreszahlen einer Figur tragen nicht nur zur Individualisierung der Figur bei, sie ordnen das Leben auch entlang zeitlicher und sozialer Positionssequenzen. Die Alterung sortiert sich als eine Bewegung des Einzelnen durch die Zeit- und Sozialstruktur. Die Lebensalter sind sonach an übergeordnete Zeitsysteme angeschlossen und sie sind zugleich gesellschaftlich konstruiert. Die chronologischen Altersangaben insgesamt stellen ein engmaschiges Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren her. Darüber hinaus etablieren die chronologischen Altersangaben zeitliche Sinneinheiten in dem Erzähltext und bilden in zunehmendem Maße die fluide Altersidentität und relationalen Alterskonzeptionen ab. Folgend zeichnet der Beitrag Agathes Lebensweg, d. h. als Ereignissequenz und in zeitliche Perspektivität konstruiert, nach. Der biographische, dynamische Alterungsprozess ist dabei vorwiegend am chronologischen Alter als Grundkriterium orientiert. Agathes Alterung beschreibt sich als eine Verlaufsform, nämlich eine auf Entfaltung bzw. – im Hinblick auf den Ausgang des Romans – auf Regression angelegte Struktur. Der standardisierte Lebenslauf der höheren Tochter, der im Zuge seiner Uneinlösbarkeit in einer vereitelten Entfaltung pervertiert, steht diametral zu Agathes zaghaften Bildungsavancen. Der vorgezeichnete, normierte Lebensweg der Frau ist Ausdruck der sozialen Kontrolle. Mit Agathes zunehmendem Alter wechseln nicht nur ihre sozialen Positionen und Aufgaben, es verschieben sich kontinuierlich innere Deutungs- und äußere Gestaltungsspielräume. Wenngleich festgehalten werden muss, dass sich Agathes Handlungsspielräume über den Handlungsverlauf nur geringfügig verändern, bleibt sie doch ein Leben lang durch ihre Eltern bevormundet und in ihren Entscheidungsmöglichkeiten stark reglementiert. Es wird deutlich, dass ihr Wirkungskreis mit zunehmendem Alter immer kleiner wird. Mit der Gewissheit der unmöglichen Eheschließung scheint ihr jede Lebensenergie genommen. In völliger Erschöpfung wird Agathe in einer Frauenanstalt eingewiesen, in der fast ausnahmslos junge Frauen aus einem Ungenügen aus der Gesellschaft auszuscheiden haben. Agathe ist eine Vertreterin einer bestimmten Gruppe junger Frauen, deren Dilemma darin besteht, dass sie jung sind und zugleich zu alt, als dass sie auf eine offene und eigenständig gestaltbare Zukunft hoffen könnten. Die defizitäre Subjektposition der Frau wird somit mit der Dimension des Alters zusammenführt. Zentral ist folglich nicht allein das Frauenschicksal im wilhelminischen Kaiserreich, sondern das Los der alternden Frau.
Agathes Werdegang wird prozessual von einer aufregenden und vielversprechenden Mädchenzeit hin zum Status der alten Jungfer nachgezeichnet, der sich als eine Geschichte der sozialen Degradierung schreibt, strenggenommen als ein gesellschaftlicher Ausschluss moduliert. Mit der Kategorie der jungen, unverheirateten Frau verbinden sich persönliche Hoffnungen und Aussichten auf gesellschaftliche Teilhabe, die durch eine sukzessive Absenkung der Erwartung und Minderung an Initiativformen substituiert werden. Der soziale Status der Unverheirateten ist prinzipiell als ein Übergangszustand konzipiert, er muss überwunden werden und darin besteht die gesellschaftliche Drucksituation für junge Frauen im Wilhelminischen Kaiserreich. Die soziale Anerkennung junger Mädchen ist eine auf Zeit. Zwar sind die alten Jungfern in den meisten Fällen durch ihre Eltern abgesichert oder werden als Kindermädchen in die Familie der Geschwister eingesetzt, allerdings bleiben ihnen gesellschaftliche Zugänge und ein Maß an Selbstständigkeit verwehrt.
Der Roman setzt mit Agathes Konfirmation ein, die sich als konventionelle Zäsur zwischen zwei gesellschaftlichen Statuspassagen darstellt. Der kulturell habitualisierte und mehr oder weniger an eine feste Alterszahl gebundene Einschnitt gliedert Agathes Leben sinnhaft.40 Sie ist zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt (AgF, S. 21). Die Konfirmation initiiert das Heiratsthema und damit nach damaligem Verständnis die allmähliche Überführung vom Kindes- zum Erwachsenenalter. Zur Frau wird Agathe erst durch eine erfolgreiche Eheschließung. Der Abschied von der sorglosen Kindheit markiert den Eintritt in die protestantisch-patriarchale Gesellschaft, der Agathe allerdings weniger Autonomie gegenüber den Eltern verschafft, als vielmehr ihre enge Bindung an die Familie qua der gesellschaftlichen Anforderungen besiegelt. Agathe empfängt nicht nur die kirchliche Segnung. Überdies werden ihre künftige Rolle als Frau und der damit vorgesehene bürgerliche Lebensweg durch die zwei wichtigsten Säulen des Wilhelminischen Kaiserreiches, Kirche und Staat, repräsentiert durch den Pfarrer und den Vater in seiner Funktion als Regierungsrat, definiert (AgF, S. 20f.). Das von ihnen gepriesene weiblicheIdeal manifestiert sich in einem Konfirmationsgeschenk, ein Buch mit dem Titel: »Des Weibes Leben und Wirken als Jungfrau, Gattin und Mutter.« (AgF, S. 17) Die Konfirmation gefolgt von Agathes 17. Geburtstag bilden wesentliche Knotenpunkte in Agathes Leben, von denen aus sich die Geschichte entfaltet und in eine sinnvolle narrative Abfolge gebracht werden (AgF, S. 55). Von diesem Zeitpunkt an ist das präzise Alter der Protagonistin keiner zufälligen Benennung geschuldet. Die Handlung setzt sich mit Agathes neu erreichtem Lebensabschnitt in Bewegung.41
Der jetzige Zustand war Noviziat, das der Einweihung in die heiligen Geheimnisse des Lebens voranging. Die einfachsten häuslichen Pflichten führten Agathe ein in den gottgewollten und zugleich so süßen, entzückenden Beruf einer deutschen Hausfrau. Durfte sie am Sonntag ein Tischtuch aus dem schönen Wäscheschrank der Mutter holen und die Bettbezüge und Laken für den Haushalt verteilen, that [sic] sie es mit froher Andacht, wie man eine symbolische Handlung verrichtet. (AgF, S. 53)
In dieser Passage erscheint Agathes Leben als verheißungsvoll und glücksbestimmt. Und obgleich sie ihr gesamtes Leben noch vor sich hat, ist es in seiner Mannigfaltigkeit und Gestaltbarkeit bereits begrenzt. Agathes kindliche Naivität, geradezu ihre schwärmerische Adaption und Internalisierung bürgerlicher Normen werden im Kontext der auktorialen
Erzählperspektive ironisch überspitzt dargestellt und in ihrer Banalität entlarvt.
Die altersbezogenen hierarchischen Familienstrukturen, die damit verbundenen Praktiken der Traditionsbildung und die Vermittlung spezifischer Rollenbilder werden symptomatisch auf dem ersten Ball ausgestellt. In der gehobenen Gesellschaftsschicht dient der Ball als stark choreografierter und sozial reglementierter Ort zur förmlichen Einführung der jungen Frauen in die Gesellschaft. Von diesem Moment an gelten sie als heiratsfähig. Folglich ist der Ball ein integraler Bestandteil des Eheschließungsprozesses, der einerseits das Zusammentreffen der Geschlechter koordiniert und reguliert, die Frau ist auf ein weitgehend passives Werbungsverhalten in ihrer Wahl eingeschränkt. Andererseits wird auf den Bällen das Konkurrenzverhältnis zwischen den Gleichaltrigen desselben Geschlechts hergestellt. Die Konkurrenzsituation reflektiert auch Agathe: »Ihr kamen alle verheirateten Frauen ungeheuer alt vor und durchaus nicht mehr geeignet zu Rivalinnen« (AgF, S. 72). Der Status der Frau wird deutlich an das Alter gebunden, während das vorangeschrittene Alter der Männer kaum mit sonderlichen Einschränkungen einhergeht, wie sich etwa an dem weitaus älterem, betont kahlköpfigem Raikendorf und seinen emsigen Werbungen zeigt (AgF, S. 67, S. 71f.). Je älter Agathe wird, desto stärker nimmt sie das Alter als Stigma wahr. Sie greift ihrem eigenen langsamen Ausscheiden aus dem Heiratsmarkt mit einer Altersreferenz vorweg:
Die Bälle der Gesellschaften waren ihr eine Qual. Nirgends fühlte sie sich so ausgeschlossen von jeder Lebensfreude, wie in den lichterhellten Sälen, wo schon ein jüngeres Geschlecht den ersten Platz einnahm und die Herren zu den jungen Frauen drängten. (AgF, S. 165, meine Hervorhebungen)
Die Frauen werden altersspezifisch markiert, hingegen wird das Alter der Männer ausgespart. Das Alter ist folglich für den Eheschließungsprozess von herausragender Bedeutung. Agathes Einführung in die Gesellschaft wird vor dem Hintergrund der zeitlich begrenzten Heiratsfähigkeit gedacht und verweist dadurch impliziert auf die Grundgliederung und Normierung ›weiblicher‹ Lebensläufe: Sie war »[s]chon acht Monate lang ein erwachsenes Mädchen – da war es doch die höchste Zeit« (AgF, S. 61), sich zu verlieben. Das großbürgerliche Ensemble ist in diesem ritualisierten Begegnungsrahmen in Geschlechter- und Altersgruppen eingeteilt. Die Töchter stehen unter ständiger Aufsicht der Mütter, die die sozialen Rollen in der Dressur der eigenen Tochter reproduzieren. Sie stehen folglich in unmittelbarer patriarchaler Komplizenschaft zu den Vätern, die sich auf dem Ball geschlechterstereotypisch politischen Fragen zuwenden (AgF, S. 65).
Agathes nächsten drei Lebensjahre sind von eben jenen Pflichten an die höhere Tochter erfüllt. Alle Tätigkeiten und Selbstbildungsversuche, die der Erfüllung dieses Ideals nicht zuträglich sind, werden von den Eltern autoritär unterbunden. Die familialen Verhältnisse, insbesondere zwischen Vater und Tochter, werden durch die gesellschaftlichen Erwartungen, d. h. die elterlichen Pflichten und Erziehungsideale, vorstrukturiert und immerzu daran selbstinquisitorisch gemessen. Während ihre Freundin Eugenie, die im Roman als Kontrastfigur zu Agathe fungiert42 ihren Bruder Walter ehelicht, flüchtet sich Agathe in fantastische Schwärmereien für Byron, durch dessen Lektüre sie das Ideal einer romantisch-ganzheitlichen Liebe internalisiert. Die damit freigesetzten Hoffnungen auf eine Liebesheirat werden mit der Figur des Malers Lutz möglich. Agathes Heiratspläne werden zudem umso dringender, da sie – in ironischer Übermalung – »nun schon zwanzig Jahre alt« (AgF, S. 85, meine Hervorhebung) ist, indessen ist Lutz »ganz jung – höchstens achtundzwanzig« (AgF, S. 107). Der Tabubruch, Lutz’ außereheliches Kind, disqualifiziert ihn als Heiratskandidat und verhindert die Aussicht auf eine Liebesheirat endgültig.
Die mit der neuen Lebensdekade einsetzende Abwärtsspirale kündigt sich in der Verschränkung von sozialer Deklassierung und Niedergeschlagenheit an. Diese zweite numerische Altersangabe Agathes weist einerseits auf Agathes 17. Lebensjahr zurück, die Einführung in die Gesellschaft, andererseits auf die folgenden Lebensdaten prognostisch voraus. Die Verkettung der numerischen Altersangaben tragen zur textimmanenten Logik der Zeitordnung und insgesamt zur Verzeitlichung des Geschehens bei. Zugleich erzeugen sie die innere Kohärenz des dargestellten Lebens von Agathe Heidling.
Mit 24 Jahren ist Agathe vom Signum der alten Jungfer bedroht (AgF, S. 183), weshalb sie eine Vernunftheirat mit dem fast 40 Jahre alten Landrat Raikendorf erwägt (AgF, S. 181) und dies trotz aller Abneigungen gegenüber seines vom Alter gekennzeichneten, unschönen Erscheinungsbilds und des bevorstehenden langweiligen und liebesleeren Lebens als Beamtenfrau. Sie wollte »[n]ur nicht mehr ausgeschlossen daneben stehen [sic], neben den tiefen, heiligen, reifenden Erfahrungen des Lebens« (AgF, S. 184). Der Altersunterschied zwischen den beiden wird zum einen unverhohlen überbetont, zum anderen besteht in ihrem beidseitigen fortgeschrittenen Alter eine für die damalige Zeit komplementäre Entsprechung. Raikendorf wie auch Agathe sind nun gemeinsam das »würdige[…] ältere[…] Paar« (AgF, S. 180). Der Maßstab der geschlechtsspezifischen Alterung ist schlicht ein anderer. Raikendorfs Alter und Handlungsfähigkeit, d. h. nicht nur seine angestrebte Familiengründung, sondern auch sein Karrieresprung,43 stehen karikaturistisch in einem unmittelbaren Kontrast zu Agathes Alter von fast 40 Jahren am Ende des Romans. Nicht wegen eigener Insuffizienz kommt die Heirat nicht zustande, sondern weil Agathes Mitgift für die Begleichung der Spielschulden ihres Bruders aufgebraucht worden ist. Während das Geschlecht als wesentlich stabilere Differenzkategorie Agathes defizitäre Subjektposition grundsätzlich ausmacht, wird die relationale und prozesshafte Kategorie des Alters erst mit zunehmender Zeit zum defizienten Faktor für ihre Identitätsbildung und Ausschlusskriterium für eine erfolgreiche Lebensführung als idealtypische Frau. Kontrastiv dazu stehen die in Aus guter Familie vorgestellten männlichen Lebensläufe. An der Figur Walter, Agathes Bruder, wird ein besonders normierter männlicher Lebensweg illustriert: Er legt das Abitur ab, anschließend schlägt er die Offizierskarriere ein, heiratet und zeugt Kinder. Fehltritte wie der sexuelle Übergriff auf ein Dienstmädchen oder seine Spielschulden haben keinerlei negative Auswirkungen auf seine Zukunft. Demgegenüber wählt Agathes Vetter, Martin Greffinger, einen unkonventionellen, antibürgerlichen Lebensweg. Er sagt sich aufgrund politischer Differenzen von der Familie los, bricht sein Studium ab und verbringt einige Zeit in England, anschließend als gefeierter sozialistischer Autor in der Schweiz, wo er Agathe wiedertrifft. Die männlichen und weiblichen Lebenswege sind in ihrer kontrastiven Setzung als Öffnungs- und Schließungsbewegungen gekennzeichnet. Während die Lebensläufe der Männer eine große Varianz und Eigengestaltung zulassen, ist Agathes Lebensweg eindimensional, fremdgesteuert und patriarchal determiniert.44 Agathes Alterung zieht nur geringfügige Veränderung sozialer Positionssequenzen nach sich. Sie wird als ewige Tochter gehalten. Ihre Entwicklung stagniert. Es folgen Erschöpfung, Vereinsamung und Langeweile. Nach der Zerschlagung jedweder individueller Glücksansprüche und den zerstörenden Folgen für ihren Körper und Geist sieht sie ihren Lebenssinn in der Aufopferung für die Eltern, d. h. der guten Familie: »[S]ie wollte leben – für niemanden und für nichts anderes auf der weiten Welt, als nur für ihre Eltern« (AgF, S. 151). Agathes Altersskript ändert sich damit nur geringfügig. Sie verbringt ihre Zeit mit klassischen, monotonen Sorge- und Pflegeaufgaben. Das für sie einzig tragfähige Lebensmodell der Hausfrau und Mutter ist spätestens mit ihren ungefähr 28 Jahren vor dem Hintergrund der rigiden zeitgenössischen Altersnormen obsolet (AgF, S. 214). Alle Bemühungen um ein alternatives Lebenskonzept scheitern: die Professionalisierung der Frömmigkeit im Sinne der Karitas, die Ausbildung eines künstlerischen Talents, die angestrebte Vernunftheirat mit Raikendorf, die Selbstbildung durch Lektüre, die aufopferungsvolle Pflege der Eltern oder außerbürgerliche Existenz: »Sie war ›das junge Mädchen‹ und mußte es bleiben, bis man sie welk und vertrocknet, mit grauen Haaren und eingeschrumpften Hirn in den Sarg legte« (AgF, S. 219). Ihr Status als Unverheiratete konfligiert mit ihrem Altersstatus, der nun überwiegend ihre soziale Deklassierung bestimmt. Sie trägt das Stigma der alten Jungfer.
Mit 30 Jahren erleidet sie einen erneuten heftigen Zusammenbruch. Das 30. Lebensjahr, das in der Literatur häufig eine Zäsur und ein Referenzpunkt zur Bilanzierung und Reflexion des bisherigen Lebens darstellt,45 beendet Agathes Lebensweg symbolisch (AgF, S. 259). Die ohnehin geringen Chancen, den prekären Status der alten Jungfer abzulegen oder perspektivisch durch eine Stellung als Kindermädchen aufzuwerten, sind durch den tätlichen Übergriff auf Eugenie vertan (AgF, S. 268). Agathes Zukunft ist nicht offen, sie ist durch eine zunehmende Schließung gekennzeichnet. Es ist für sie nicht möglich, auf ihre Situation verändernd und proaktiv einzuwirken. Ihre Erwartung an das Leben und ihre Lebenserwartung treten fulminant auseinander. Die Definition eines Ichs und damit elementar verbunden die Möglichkeit des ›Entwurfs‹ auf eine zukünftige Existenz sind unlösbar mit der Zeitlichkeit verknüpft. Doch für Agathe ist die Zeit stehengeblieben, ihr bleibt die Möglichkeit der Statuspassage, überhaupt einer Entwicklung, verwehrt. Ausgesondert in einer Klinik und nach zweijähriger Therapie abgestellt beim Vater erwartet sie – ähnlich zu den Zuständen in den Altersheimen unserer Gegenwart46 – den Tod. Quittiert wird dies mit dem bereits zitierten Schlusssatz: »Und Agathe hat vielleicht ein langes Leben vor sich – sie ist noch nicht vierzig Jahre alt« (AgF, S. 268). Ihr Ausschluss aus der Gesellschaft erfolgt nicht allein aufgrund ihres Geschlechtes, sondern auch aufgrund ihres Alters.
Obwohl Agathe »im Grunde ›alles richtig macht‹ und die Anforderungen der zeitgenössischen Mädchenerziehung überfüllt«47, bleibt sie hinter ihren Altersgenossinnen zurück, wie an den alternativen Lebensmodellen von Agathes Lebensgefährtinnen deutlich wird: Eugenie, verheiratet, hat drei Kinder und weiß ihre erotischen Abenteuer geschickt auszuleben und zu tarnen; Agathes Cousine Mimi Bär ist Diakonissin; Fräulein Henning stellt ihre eigenen Bilder in einem Salon in Paris aus; Agathes Pensionsgefährtin Klotide führt eine Ehe mit dem Maler Lutz, wenn auch unglücklich. Agathes tragisches Schicksal ist, wie Victor Klemperer resümiert, nicht ihr Verschulden:
Der Gegenspieler, an dem die arme Agathe Heidling langsam zugrunde geht, ist kein einzelner Mensch, sie hat keine Feinde. Ihr Vater, ein strebsamer Regierungsrat, ist ein gebildeter gutmütiger Mann, ihre Mutter eine demütige, pflichtgetreue Christin, voller Liebe zum Gatten und zu den Kindern, ihr Bruder ein braver Junge, nicht besser, doch auch nicht schlechter als zehntausend andere Brüder, ihre Freundin und spätere Schwägerin Eugenie hat zwar wenig Herz und viel Lebensschlauheit und Skrupellosigkeit, aber durchaus keinen Haß wider Agathe. Deren Feindin ist ein unfaßbares Ganzes, ein tyrannischer Begriff: die Gesellschaft, die ›gute Familie‹.48
Kategorisch wird im letzten Kapitel immer wieder auf das junge Alter abgehoben: »[f]ast alle waren sie jung, auf der Sommerhöhe ihres Lebens«, »anständiges Mädchen«, »der zarte Mädchenkörper [musste] gebändigt und gefesselt werden«, »[e]in junges Mädchen hatte den Verstand verloren«, »von Weitem kann man sie [Agathe] immer noch für ein junges Mädchen halten« (AgF, S. 259–268) – ein Alter, das bedingt durch die Kategorie des Geschlechts schlecht gealtert ist. Die Lebensphase des Mädchens ist scheinbar durch die ausbleibende Heirat nie überwunden, ohne die Agathe im übertragenen Sinne nie hat altern dürfen. Die Dissonanz zwischen Alter und Rolle legt die soziale Konstruktivität derselben offen.
Alterswandel
Auf den vorangegangenen Seiten wurden die Aspekte von Aus guter Familie hervorgehoben, die sowohl die generalisierenden und zu Teilen symbolischen Thematisierungen von Agathes Alter als auch die präzise, numerische Aufzeichnung ihres Alters betreffen und in ihrer Gesamtheit Agathes Lebenslauf von der Konfirmation bis zur Lebensmitte konstituieren. Das erzählte Ich wird in seiner sozialen Regelhaftigkeit und zeitlichen Emergenz thematisch, dessen Status und Identität sich allerdings trotz fortschreitendes Alterungsprozesses kaum verändert und damit die Erstarrung des Alterungsprozesses im Status problematisiert. Mit der vorliegenden Studie kann nur ein erster Anfang gemacht werden, die Konsequenzen einer derart perspektivierten literaturwissenschaftlichen Altersforschung zu beleuchten. Weitere Reflexionen über das Alter als Strukturkategorie müssen sich anschließen.
Die Erforschung des Alters in Aus guter Familie bezieht sich signifikant nicht nur auf das hohe Alter als prädominanter Altersbegriff der literaturwissenschaftlichen Altersforschung, sondern bemüht sich um ein umfassendes Altersverständnis. An den exemplarischen Belegstellen sollte deutlich geworden sein, dass das Alter in Reuters Roman als diskursiv hervorgebrachte und performative Kategorie und Identitätsmarker konzeptualisiert wird und in der symbolischen Zeichenwelt des Erzählens neben spezifischen Funktionen über einen reichen Bedeutungsvorrat verfügt. Das Alter und Altern als einen lebenslangen, multidimensionalen und multidirektionalen Prozess in der germanistischen Literaturwissenschaft zu entwerfen, verspricht folglich ein immenses Beschreibungs- und Erkenntnispotenzial, das es künftighin zu bergen gilt. Die Konstruktion des Alters in literarischen Texten kann nur in einem Referenzrahmen aller Altersstufen hinreichend erfasst werden, da die Lebensalter und Lebensphasen sich in einem komplexen Wechselverhältnis konstituieren. Die Relationalität des Alters ergibt sich einerseits im Hinblick auf die Konstitution der Identität eines Individuums im Kontext des Werkes. Andererseits erscheinen die Lebensalter, in der Folge auch Altersbilder und Altersnormen, nicht isoliert für sich, sondern im Verweis auf das jeweils andere. Agathes Lebensgeschichte respektive Leidensgeschichte konstituiert sich als ein Alterungsprozess entlang sequenzieller, relationaler Alterspositionen, die allerdings keine progressive Entwicklung nachzeichnen, sondern eine andauernde liminale Phase49 erzeugen, die ihrerseits unter Einbeziehung der Kategorie des Geschlechts plotgenerierend und - strukturierend ist. Wesentliche Konfliktfelder gehen aus den Altersrelationen hervor. Sowohl die sozialen Beziehungen als auch Selbstverhältnisse sind im Roman durch die Kategorien Geschlecht und Klasse strukturiert, sie sind jedoch auch maßgeblich durch das Alter determiniert. Das Alter der Figuren ist ein zentraler Bestandteil der zeitlichen und ethischen Organisation des Werkes. Das Alter und die Altersangaben werden in Aus guter Familie als Analysekategorien genutzt, um Agathes Lebensgeschichte als Anti-Entwicklungsroman aufzuschlüsseln. Damit werden die Potenziale einer literaturwissenschaftlichen Perspektive auf das Alter als lebenslanger Prozess deutlich, der ex negativo zeigt, wie mit der Erstarrung des sozialen Alters der Alterungsprozess als Entwicklung und Entfaltung scheitert.
Die Ausweitung des Fokus auf das Alter als soziale Kategorie trägt nicht nur dazu bei, das Alter allgemeinhin als elementare Diversitätsdimension systematisch in den Fokus der literaturwissenschaftlichen Analyse zu setzen und damit erwartbar neue Einsichten zu gewinnen, weitere Theoretisierungsbemühungen anzuregen und zu methodologischen
Überlegungen einzuladen. Sondern dieser erweiterte Ansatz fördert auch eine intensivere Kooperation verschiedener Fachbereiche und Disziplinen. Erst die Einbeziehung von Theorien und Denkmustern aus anderen Fachdisziplinen ermöglicht eine differenzierte Betrachtungsweise des Alters in der Literatur.
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- 1. Mit Ausnahmen einiger weniger literaturwissenschaftlicher Studien, die auf den immanent prozessualen Charakter des Alters bzw. Alterns hinweisen und sich für einen weiten Begriff des Alternsaussprechen: »Wenn Heranwachsende sich von ihrem Kinderspielzeug trennen mit dem Verweis, ›man sei dafür zu alt‹, so verdeutlicht dies, dass Altern bereits früh im Leben erfahren wird – auch wenn die in Hinsicht auf kollektive Vorstellungen und Deutungen vom Altern mächtige Biologie darauf aufmerksam machen würde, dass sich der Körper in dieser Lebensphase in einem Stadium der Entwicklung befinde und das Altern definierende Verschleißprozesse noch in weiter Ferne seien.« Max Bolze u. a.: »Einleitung«. In: Ders. u. a. (Hg.): Prozesse des Alterns. Konzepte – Narrative – Praktiken. Bielefeld 2015, S. 15–26, hier S. 15; weiterführend siehe auch Dorothee Elm u. a. (Hg.): Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie. Berlin/New York 2009 und Thorsten Fitzon u. a. (Hg.): Alterszäsuren. Zeit und Lebensalter in Literatur, Theologie und Geschichte. Berlin/Boston 2012.
- 2. Gabriele Reuter: »Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens«. Studienausgabe mit Dokumenten Hg. v. Katja Mellmann. Bd. 1. Marburg 2006. Im Folgenden mit AgF zitiert.
- 3. Vgl. Julia Benner u. Annika Ullmann: »Doing Age. Von der Relevanz der Age Studies für die Kinderliteraturforschung«. In: Jahrbuch der GKJF (2019), S. 145–159; vgl. Vanessa Joosen: »Connecting Childhood Studies, Age Studies, and Children’s Literature Studies. John Wall’s Concept of Childism and Anne Fine’s The Granny Project«. In: Barnboken 45 (2022), S. 1–21, hier S. 3; vgl. Jenny Hockey u. Allison James: »Back to Our Futures: Imaging Second Childhood«. In: Mike Featherstone u. Andrew Wernick (Hg.): Images of Aging: Cultural Representations of Later Life. New York 1995, S. 135–148.
- 4. Vgl. Benner u. Ullmann: »Doing Age. Von der Relevanz der Age Studies für die Kinderliteraturforschung«; vgl. Vanessa Joosen: Adulthood in Children’s Literature. London/New York 2018.
- 5. Als ein Beispiel sei hier der folgende Sammelband genannt: vgl. Eva Blome u. a. (Hg.): Autosoziobiographie. Poetik und Politik. Stuttgart 2022.
- 6. Der demographische Wandel, d. h. insbesondere der Rückgang der Mortalität und Anstieg der Lebenserwartung, beginnt bereits im 19. Jahrhundert. Vgl. Arthur Imhof: »Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit. Ein folgenschwerer Wandel im Verlaufe der Neuzeit«. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 71.2 (1984), S. 175–198, hier S. 188.
- 7. Franz Schulz-Nieswandt: »Was ist Altern und wie erforscht man es wozu?« In: Karsten Hank u. a. (Hg.): Alternsforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium. 2., aktual. u. erw. Aufl. Baden-Baden 2023, S. 19–28, hier S. 20, Hervorhebung im Original.
- 8. Vgl. Josef Ehmer: »Das Alter in Geschichte und Geschichtswissenschaft«. In: Ursula M. Staudinger u. Heinz Häfner (Hg.): Was ist Alter(n)? Neue Antworten auf eine scheinbar einfache Frage. Berlin/Heidelberg 2008, S. 149–172.
- 9. Vgl. u. a. Irmhild Saake: Theorien über das Alter. Perspektiven einer konstruktivistischen Alternsforschung. Opladen 1998; vgl. Wienfried Schmitz: »Einleitung«. In: Ders. u. Andreas Gutsfeld (Hg.): Am schlimmen Rand des Lebens. Altersbilder in der Antike. Köln 2003, S. 9–30.
- 10. Vgl. u. a. Christian Kiening: Erfahrung der Zeit. 1350-1600. Göttingen 2022, S. 109–145; vgl. Norbert Elias: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie. Hg. v. Michael Schröter. Frankfurt a. M. 1984.
- 11. Vgl. Henriette Herwig: »Literarische Ästhetisierungen des Alter(n)s«. In: Franz Kolland u. a. (Hg.): Kulturgerontologie. Konstellationen, Relationen und Distinktionen. Wiesbaden 2021, S. 433–453, S. 441.
- 12. Vgl. Gerd Göckenjan: Das Alter würdigen: Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters. Frankfurt a. M. 2000.
- 13. Vgl. Sigrid Weigel: »Generation, Genealogie, Geschlecht. Zur Geschichte des Generationskonzepts und seiner wissenschaftlichen Konzeptualisierung seit Ende des 18. Jahrhunderts«. In: Lutz Musner u. Gotthart Wunberg (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen. Wien 2002, S. 161–190.
- 14. Dafür nur wenige Beispiele vgl. Richard Meier: Gesellschaftliche Modernisierung in Goethes Alterswerken Wilhelm Meisters Wanderjahre und Faust II. Freiburg i. Br. 2002; vgl. Jost Schillemeit: Theodor Fontane: Geist und Kunst seines Alterswerks. Schlieren 1961; vgl. Gerhard Neumann u. Günter Oesterle (Hg.): Altersstile im 19. Jahrhundert. Würzburg 2014.
- 15. Jüngst ist eine Zusammenschau zur Thematisierung der Jugend in literarischen Texten erschienen. Vgl. Rainer Kolk: Die Jugend der Literatur. Literarische Entwürfe von Jugend 1830–1950. Göttingen 2023.
- 16. Ulrike Vedder u. Stefan Willer: »Alter und Literatur. Einleitung«. In: Zeitschrift für Germanistik 22.2 (2012), S. 255–258, hier S. 256.
- 17. Vgl. Miriam Haller: »Ageing trouble. Literarische Stereotype des Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neueinschreibung«. In: InitiativForum Generationenvertrag (Hg.): Altern ist anders. Münster 2004, S. 170–188; vgl. Benner u. Ullmann: »Doing Age. Von der Relevanz der Age Studies für die Kinderliteraturforschung«. Inspiriert ist diese Perspektive von den Queer Studies, die angewandt auf die Altersforschung dazu beigetragen haben, dass Menschen bestimmte Altersrollen ausfüllen und aktiv herstellen und nicht ein gewisses Alter haben. Vgl. u. a. Stephen Fineman: Organizing Age. Cambridge 2011. Zum Wechsel der Altersrollen siehe beispielsweise Thorsten Fitzon: »Schwellenjahre - Zeitreflexion im Alternsnarrativ. Arthur Schnitzlers Erzählung Frau Beate und ihr Sohn«. In: Ders. u. a. (Hg.): Alterszäsuren. Zeit und Lebensalter in Literatur, Theologie und Geschichte. Berlin/ Boston 2012, S. 405–432.
- 18. Vgl. Irmhild Saake: »Alternsforschung: Entwicklungen und Tendenzen«. In: Michael Fuchs (Hg.): Handbuch Alter und Altern. Anthropologie – Kultur – Ethik. Berlin 2021, S. 17–23, hier S. 19.
- 19. Elizabeth D. Hutchison: »Life Course Theory«. In: Roger J.R. Levesque (Hg.): Encyclopedia of Adolescence. Bd. 3. Cham 2018, S. 2141–2150, hier S. 2149.
- 20. Vgl. Glen H. Elder u. a.: »The Emergence and Development of Life Course Theory«. In: Jeylan T. Mortimer u. a. (Hg.): Handbook of the life course. New York 2014, S. 3–19; vgl. Richard A. Settersten: »Age Structuring and the Rhythm of the Life Course«. In: Jeylan T. Mortimer u. a. (Hg.): Handbook of the life course. New York 2014, S. 81–98; vgl. Duane F. Alwin: »Integrating Varieties of Life Course Concept«. In: The Journals of Gerontology 67.2 (2012), S. 206–220.
- 21. Vgl. Peter Hollindale: Signs of Childness in Children’s Books. Stroud 1997, S. 8f.
- 22. Der Dialog wurde auch deshalb hergestellt, weil sich in jeweils beiden Fachbereichen mit Formen der Marginalisierung und eingeschränkter Handlungskompetenz alter bzw. junger Menschen beschäftigt wurde. Die Teilgebiete also von ähnlichen Prämissen bestimmt werden. Siehe zur Vertiefung u. a. vgl. Paul B. Baltes u. a.: »Life-span theory in developmental psychology«. In: Richard M. Lerner u. William Damon (Hg.): Handbook of child psychology: Theoretical models of human development. New York 1998, S. 1029–1143; vgl. Glen H. Elder u. Monica K. Johnson: »The life course and aging: Challenges, lessons, and new directions«. In: Richard A. Settersten (Hg.): Invitation to the life course: Toward new understandings of late life. Amityville 2003, S. 49–81.
- 23. Richard A. Settersten: »Linking the Two Ends of Life: What Gerontology Can Learn From Childhood Studies«. In: The Journals of Gerontology 60.4 (2005), S. 173–180, hier S. 173.
- 24. Vgl. Joosen: Adulthood in Children’s Literature, S. 9.
- 25. Benner u. Ullmann: »Doing Age. Von der Relevanz der Age Studies für die Kinderliteraturforschung«, S. 149, Hervorhebung im Original.
- 26. Vgl. Manfred Liebel u. Philip Meade: Adultismus. Die Macht der Erwachsenen über die Kinder. Eine kritische Einführung. Berlin 2023.
- 27. Vgl. Leopold Rosenmayr: »Einleitung«. In: Ders. (Hg.): Die menschlichen Lebensalter. Kontinuitäten und Krisen. München/Zürich 1978, S. 11–20, hier S. 11.
- 28. AgF, S. 180
- 29. Katja Mellmann (Hg.): Gabriele Reuter: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Studienausgabe mit Dokumenten. Dokumente. Bd. 2. Marburg 2006, S. 316.
- 30. Zur Wirkungsgeschichte siehe u. a. Renate von Heydebrand u. Simone Winko: »Geschlechterdifferenz und literarischer Kanon. Historische Beobachtungen und systematische Überlegungen«. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 19.2 (1994), S. 96–172; vgl. Denise Roth: Das literarische Werk erklärt sich selbst. Theodor Fontanes Effi Briest und Gabriele Reuters Aus guter Familie poetologisch entschlüsselt. Berlin 2012; Zur Rekonstruktion des diskursgeschichtlichen Kontextes siehe Katja Mellmann: »Die Mädchenfrage. Zum historischen Bezugsproblem von Gabriele Reuters Aus guter Familie«. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 33.1 (2008), S. 1–25.
- 31. Vgl. generell Jenny Bauer: »Hausarrest: Aus guter Familie (1895)«. In: Dies.: Geschlechterdiskurse um 1900 Literarische Identitätsentwürfe im Kontext deutsch-skandinavischer Raumproduktion. Bielefeld 2016, S. 135–174.
- 32. Vgl. Lisabeth Hock: »Shades of Melancholy in Gabriele Reuter’s Aus guter Familie«. In: The German Quarterly 79.4 (2006), S. 443–464.
- 33. Vgl. Lilo Weber: ‚Fliegen und Zittern‘. Hysterie in Texten von Theodor Fontane, Hedwig Dohm, Gabriele Reuter und Minna Kautsky. Bielefeld 1996.
- 34. Siehe hierzu das von der DFG geförderte Forschungsprojekt von Marcella Fassio: »Narrative weiblicher Erschöpfung um 1900 und 2000«. https://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/friedrichschlegel/ assoziierte_projekte/Narrative-weibliche-Erschoepfung/index.html (zuletzt eingesehen am 20. Juni 2024), vgl. auch Marcella Fassio: »Weibliche Erschöpfung als Praktik der Verweigerung und des Protests. Gabriele Reuter Aus guter Familie (1895) und Antonia Baum Vollkommen leblos, bestenfalls tot (2011)«. In: Denise Dumschat-Rehfeldt u. a. (Hg.): Literatur am Ende. Marburg 2024, S. 179–192.
- 35. Ein Beitrag, der vor dem Hintergrund des traditionellen Adoleszenzromans die Kategorien Geschlecht und Alter aufeinander bezieht, wurde von Cordes vorgelegt. Vgl. Melanie Cordes: »Weibliche Adoleszenz? Die Entwicklungswege von Protagonistinnen in Romanen um 1900. Aus guter Familie von Gabriele Reuter und Ellen Olsetjerne von Franziska Gräfin zu Reventlow«. In: Carsten Gansel u. Pawel Zimniak (Hg.): Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur. Heidelberg 2011, S. 311–326.
- 36. Die Erzählung des mittleren Alters hat in der Literatur Konjunktur siehe u. a. Goethes Der Mann von funfzig Jahren. Fast ein Jahrhundert vor der Veröffentlichung Reuters Roman erscheinen Die Frau von vierzig Jahren (1800) von Therese Hubert und die gleichnamige Erzählung Die Frau von vierzig Jahren (1829) von Charlotte von Ahlefeld, die das mittlere Alter mit Schließung- wie auch Öffnungsdynamiken verbinden und nicht wie Reuter ironisch überspitzt mit Perspektivlosigkeit.
- 37. Susan Sontag: »The double standard of aging«. In: Saturday Review of the Society, September 23 (1972), S. 195–204.
- 38. Vgl. Mellmann »Die Mädchenfrage. Zum historischen Bezugsproblem von Gabriele Reuters Aus guter Familie«, S. 2.
- 39. Dirk Oschmann: »›Andere Zeiten‹. Schillers Jung frau von Orleans«. In: Ders. u. a. (Hg.): Schillers Zeitbegriffe. Hannover 2018, S. 119–144, hier S. 127.
- 40. Vgl. Thorsten Fitzon u. a.: »Einleitung«. In: Dies. (Hg.): Alterszäsuren. Zeit und Lebensalter in Literatur, Theologie und Geschichte. Berlin/Boston 2012, S. VII–XV, hier S. VII.
- 41. Die vier Kapitel vor ihrem 17. Geburtstag sind größtenteils Analepsen, die in starker zeitlicher Raffung Agathes Kindheit, ihre Zeit in der Privatschule, die ambivalente Freundschaft zu Eugenie und ihr erstes zaghaftes Gefühl der Verliebtheit zu Martin Greffinger rekapitulieren.
- 42. Vgl. Gaby Pailer: »Der Staatsdiener, der Staatsfeind und die gute Tochter. Gender und Nation in Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie (1895)«. In: Gudrun Loster-Schneider (Hg.): Geschlecht – Literatur – Geschichte II. Nation und Geschlecht. St. Ingbert 2003, S. 101–119, hier S. 111.
- 43. Die Beamtenlaufbahn bedeutete jedoch auch gewisse Einschnitte für die Männer, insofern diese erst dann heiraten konnten, wenn sie das notwendige Vermögen und eine gehobene Stellung besaßen. Zuweilen machte sie dies auch abhängig von einer rentablen Mitgift der Braut. Vgl. Mellmann: »Die Mädchenfrage. Zum historischen Bezugsproblem von Gabriele Reuters Aus guter Familie«, S. 21.
- 44. In zwei Nebensträngen wird der Lebenslauf der Frau zudem um die Kategorie der Klasse erweitert und als äußerst prekär dargestellt. Die Handlungsoptionen der Frauen sind auch hier enorm eingeschränkt, aber sie sind vorhinein existenzieller. Das Dienstmädchen der Heidlings, Wiesing, wurde mit Agathe konfirmiert und wird infolge eines sexuellen Missbrauchs durch Walter von der Hausherrin verstoßen und verelendet mit einem unehelichen Kind im städtischen Proletariat (vgl. AgF, S. 80, S. 196, S. 203–206). Die Köchin Dorte repräsentiert das Kleinbürgertum, für das die voreheliche Erwerbstätigkeit zur Erwirtschaftung der Mitgift selbstverständlich war. Ihre Lebensaussichten erscheinen ausgemacht bis unspektakulär. Die Arbeit geht auch nach der von ihr emsig angestrebten Belohnung für ihre 25-jährige Dienstleistung nahezu ereignislos und fast sinnentleert weiter (AgF, S. 79, S. 195).
- 45. An dieser Stelle sei auf einige kanonische Autorinnen und Autoren verwiesen. Bei Thomas Mann dient das 30. Lebensjahr zur Prüfung der erreichten Lebensleitung wie im Der kleine Herr Friedemann. In Franz Kafkas Der Proceß stellt der dreißigste Geburtstag von Josef K. eine folgenreiche Zäsur dar, für ein nicht näher bezeichnetes Verbrechen wird Josef K. verhaftet. Titelgebend ist die 30 beispielsweise für Honoré de Balzacs Roman Die Frau von dreißig Jahren oder Ingeborg Bachmanns Erzählzyklus Das Dreißigste Jahr. Während bei Balzac das 30. Lebensjahr eine Renaissance im Liebesleben der Protagonistin Julie d’Aiglemont bedeutet, wird bei Bachmann das 30. Jahr zum Ausgangspunkt, über das gelebte und erwartbare Leben nachzudenken.
- 46. Vgl. Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben. Übers. v. Sonja Finck. Berlin 2024.
- 47. Mellmann: »Die Mädchenfrage. Zum historischen Bezugsproblem von Gabriele Reuters Aus guter Familie«, S. 20.
- 48. Victor Klemperer: »Gabriele Reuter«. In: Westermanns Monatsheft 52.1 (1905), S. 866–874, hier S. 870. Für das Verständnis des Romans müsse nach Mellmann zudem der diskursgeschichtliche Kontext, nämlich der Aspekt der sogenannten Mädchenfrage, stärker in die Analyse einbezogen werden. Unter der ›Mädchenfrage‹ wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert ein statistischer Frauenüberschuss und damit einhergehend die verminderten Heiratschancen bürgerlicher Frauen debattiert sowie Kritik an einer einseitigen Erziehung und fehlenden Bildung junger Frauen laut. Sonach bilde weniger die ›Frauenfrage‹, d. h. die Ideale der modernen Frauenbewegung, den diskursiven Rahmen des Romans. Vielmehr müssten die Problemlagen auch von Seiten der ›Mädchenfrage‹ untersucht werden. Mellmann macht in ihrer Studie Die Mädchenfrage indes deutlich, dass sich die semantische Dimension des Romans nicht allein in diesem Problemzusammenhang erschöpfe und die sogenannte Frauen- wie auch Mädchenfrage ähnliche Ziele aus unterschiedlicher Motivation verfolgen. Vgl. Mellmann: »Die Mädchenfrage. Zum historischen Bezugsproblem von Gabriele Reuters Aus guter Familie«.
- 49. Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten. Übers. v. Klaus Schomburg u. Sylvia M. Schomburg- Scherff. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1986.
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