Hannah
von Sass
Berlin

Technik, Rahmen, Oberflächen

Zur Metaphorizität des Theatertextes

Grundlegendes Anliegen

Ziel ist es, die epistemische Praxis der Theatertexttheorie nachzuvollziehen, um ihr implizites Set an Denkmustern, Sprachbildern und Zugangsweisen kritisch zu reflektieren. In besonderem Maße finden sich in den oft normativen Beschreibungen von Theatertexten materielle und räumliche Metaphern, die die Wahrnehmung von Theatertexten nachhaltig beeinflussen. So wird der Theatertext infolge eines wirkmächtigen Paragone Mitte des 17. Jahrhunderts als Gemälde1 bezeichnet, hundert Jahre später erhält er eine Wand2, im 19. Jahrhundert wird er schließlich zur Pyramide.3 Im späten 20. Jahrhundert wird er zur Maschine erklärt, die schließlich statt Figuren Textträger produziert.4 Die Verlaufsdimension von Theatertexten wird meist nur implizit mitgeführt. Das mit einer DFG Eigenen Stelle und einem Feodor Lynen-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung geförderte Forschungsprojekt strebt eine systemische Forschung zur poetologischen Metaphorizität in Theatertexttheorien an – ein Unterfangen, das überraschenderweise noch aussteht und zugleich an jüngste literaturwissenschaftliche Untersuchungen anschließen kann.

Fächerspezifische Lokalisierung

Im Umgang mit Theatertexten zeigt sich häufig eine symptomatische Separierung zwischen Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft: Während die Literaturwissenschaft Theatertexte primär als skulpturale Texte ohne Bühne versteht, hat sich die Theaterwissenschaft seit den 1980ern tendenziell auf die Untersuchung der Flüchtigkeit von Inszenierung und Aufführung verlegt. Dies mag eine Ursache dafür sein, warum die Theatertexttheorie seitdem kaum vorangeschritten ist. Das Forschungsvorhaben reagiert auf diese fächerspezifische Lücke, indem es mit einem metamorphologischen Verfahren das poetikgeschichtliche Erbe der Dramen- und Theatertheorie befragt. Der Begriff ›Theatertext‹ wird daher strategisch verwendet, um beiden Wissenschaftskulturen Rechnung zu tragen; mit ihm werden sowohl der literarische Charakter als auch der Einsatz als Bühnentext und seine Produktivität sui generis benannt.

Desiderate

Trotz des linguistic turn fand bisher keine historisch übergreifende Reflexion der impliziten Darstellung und des Verständnisses von Texten als Werken oder Objekten in den Theatertexttheorien statt – genau hier setzt das Vorhaben an. Der vielversprechendste Ansatz zur Offenlegung von sprachlich latent vorausgesetzten Denkmustern ist die diskursgeschichtliche Untersuchung der Metaphorik. Die Konsequenzen der Darstellungen von Theatertexten als Forschungsgegenstand wurden bisher kaum erfasst. Um die Entwicklung und Herausbildung theoretischer Sprache zur Beschreibung des Theatertextes nachvollziehbar werden zu lassen und kontextualisieren zu können, bedarf es einer kategorisierenden Übersicht der Metaphern in den kanonisch gewordenen deutschsprachigen Theatertexttheorien und zumindest tentative Erwägungen zu alternativen (und ebenso metaphorisch aufgeladenen) Qualifizierungen.

Relevanz und Aktualität

Das Projekt fragt, inwiefern der historische und gegenwärtige Begriffsapparat marginalisiert, dass Theatertexte ebenso ein temporal bedingtes Medium sind, das spezifische Zeitlichkeiten, sprachliche Rhythmen und dramaturgische Verlaufsformen aufweist. Aktuelle Termini wie Kunstwerk, Textrahmen, Einheit, Textoberfläche, Struktur oder Textur sind Ausdruck eines meist impliziten, doch gleichwohl paradigmatischen Raum- und Materialdenkens der Theoriesprache. Das Konzept der Vierten Wand etwa und des Tableaus sowie die Vorstellungen von Höhepunkten und offenen bzw. geschlossenen Formen prägen die Beschreibung des Theatertextes nachhaltig.5 Beginnend mit dem Dramendiskurs der doctrine classique lässt sich die Entwicklung vor allem materieller und räumlicher Begriffe eindrücklich nachvollziehen.

Kontinuierlich wird seitdem explizit von der Anatomie oder Architektur des Dramas gesprochen, wie ein Blick in neuere Literatur belegt – man vergleiche etwa Klotz’ paradigmatischen Titel Geschlossene und offene Form (1960) oder Thompsons The Anatomy of Drama (1942). Scherer führt im Inhaltsverzeichnis seiner Einführung in die Dramen- Analyse (2010) die Bauformen und Bauelemente des Dramas auf. Ebenso verfahren Geiger und Haarmann in Aspekte des Dramas (2013). Pfister spricht kontinuierlich von Strukturen in seinem als kanonisch geltendem Das Drama. Theorie und Analyse (1977), während Poschmann in Der nicht mehr dramatische Theatertext (1997) Theatertexte als Material begreift. Eder und Vogel verstehen Jelineks Texte als Flächen in Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek (2010). Auch die poststrukturalistischen Metaphern der jüngeren Theatertexttheorie und -analyse evozieren die Vorstellung einer festen Materie, auf die oft unhinterfragt zurückgegriffen wird. Seine Zuspitzung und Konkretisierung findet die postulierte Anschaulichkeit des Theatertextes in Morettis Übertragung von Shakespeare-Dramen in übersichtliche Diagramme.6 

Zwar gibt es Ausnahmen, doch kann die vorliegende Skizze dennoch Anspruch auf Repräsentativität für einen prominenten Strang beanspruchen. Dabei zeichnet sich gegenwärtig auch in der Performanztheorie sowie in den Versuchen, eine ›Genealogie des Schreibens‹ zu erstellen, ein Interesse daran ab, Verlaufsprozesse theoretisch zu ergründen. Jedoch wird ›Text‹ in beiden Fällen als diametral entgegengesetzter Begriff zum Transitorischen verstanden, sodass dessen sukzessive Momente erneut negiert werden.7

Anschlussfähigkeit

In der jüngsten Zeit bildet sich in den Literaturwissenschaften ein neues Bewusstsein für temporale Artikulationen aus, doch ist dieses noch explorativ.8 An diese verstärkte Auseinandersetzung mit den transitorischen und sukzessiven Momenten von Texten knüpft das Vorhaben an. Zugleich wird die diagnostizierte Eigenzeitlichkeit von Theatertexten in Beziehung zu den nach wie vor materiellen und räumlichen Terminologien gesetzt. Indem das Projekt die Tendenz zu gegenläufigen Metaphern untersucht, geht es über bisher erfolgte Forschungsbestrebungen hinaus. Durch einen dezidiert sprachkritischen Zugriff werden poetologische und diskursanalytische Überlegungen verbunden.

Das Vorhaben kann dabei auf Erkenntnissen zur Phänomenologie der Metapher und Metaphorizität der Wissenschaftssprache interdisziplinär aufbauen.9 Zudem zeigt sich vor allem die Metaphorizitätsbefragung in der jüngeren Literaturwissenschaft als äußerst fruchtbar. So impliziert etwa die Frage nach dem ›Wissen‹ der Literatur einen kognitiven Wert der Metaphern, die vormals als vorrangig dekorative Tropen verstanden wurden. Das könnte zur Folge haben, dass die Rhetorik an Bedeutung verliert, stattdessen erfährt die Wirksamkeit der Rede neue Aufmerksamkeit.10

Die Untersuchung der materiellen Metaphorik in Theatertexttheorien schließt sich zudem der Diskussion des material turn an. Dieser macht sich auch in einer medienwissenschaftlichen Öffnung der Literaturwissenschaften hin zu einer Praxistheorie bemerkbar.11 Als Reaktion auf diese praxeologischen Untersuchungen lässt sich mit dem Projekt fragen, inwiefern theoretische Annäherungen an Theatertexte ihrerseits durch eine künstlerische bis sinnliche (Denk-)Praxis bestimmt werden.12 Evident ist, dass die ästhetische Praxis der Theorie wiederum in der Kunstpraxis aufgegriffen wird: Das Konzept der Schreibschulen sowie von Studiengängen, in denen szenisches Schreiben als Handwerk und Technik gelernt werden soll, steht in direkter Folge sprachlicher Vorstellungen von Theatertexten als Materialen und Bauformen.

Ziele

Durch den Einsatz überwiegend räumlicher und materieller Metaphern in der Theorie wird die Wahrnehmung der transitorischen Momente von Theatertexten subkutan negiert. Durch eine Erweiterung des gängigen Begriffsspektrums können jedoch Darstellungen des Theatertextes getestet werden, welche die sukzessiven Aspekte stärker betonen. Hieraus ergeben sich vier weiterführende Vorhaben, die das Forschungsprojekt zusammenfassen:

I. Mit einer Sichtung der Metaphern der entscheidenden Diskurse und ihrer Entwicklungen konzentriert sich das Forschungsprojekt darauf, die stilistischen Parallelen und Abhängigkeiten der Theorien untereinander herauszuarbeiten. Ziel ist die systematische Erschließung von langfristigen Begriffsentwicklungen und der spezifischen Metaphernwahl in Theatertexttheorien. So kann deutlich werden, welchen wahrnehmungsformierenden Raum die Wahl der Sprache in der Geschichte der Theatertexttheorie beansprucht.

II. Zugleich zeichnet das Projekt die zeitgeschichtlichen Zäsuren einer spatialmateriellen Terminologie und ihre Gegenbewegungen schwerpunktartig nach. Auf diese Weise kann die vordergründig systematische Perspektive durch einen historischen Fokus präzisiert werden. Nicht zuletzt können hier epocheneigene Paragone herausgearbeitet und voneinander abgegrenzt werden.

III. Die Untersuchung der Metaphernsprache ermöglicht der Analyse konkreter Theatertexte insofern neue Ergebnisse, als die Produktivität und Defizite der Diskursstile kenntlich gemacht werden. Infolge dieser Auseinandersetzung kann die poetologische Analyse von Theatertexten nicht zuletzt mit einem alternativen Vokabular ergänzt werden.

IV. Zu fragen ist, ob sich die Erkenntnisse der theoriegeschichtlichen Überlegungen zur Terminologie der Theatertexttheorie um weiterführende Überlegungen zu dem transitorischen und sukzessiven Charakter von Theatertexten ergänzen lassen. Auf diese Weise lässt sich das Forschungsfeld zur Literatur als Verlaufskunst am Beispiel von Theatertexten (neu) erschließen.

Literaturverzeichnis

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  • 1. Vgl. François Hédelin, Abbé d’Aubignac: La Pratique du théâtre [1657]. Hg. v. H.-J. Neuschäfer. München 1971, S. 105-107.
  • 2. Vgl. hierzu etwa Christopher Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft. Berlin 1999, S. 139.
  • 3. Vgl. z. B. Gustav Freytags bis heute wirkmächtige Publikation Die Technik des Dramas (1863), durch die die Vorstellung vom pyramidialen Bau des Dramas, auch bekannt als ›Freytagsches Dramendreieck‹, seinen Eingang in die Beschreibungen von Theatertext fand.
  • 4. Zum Begriff des Theatertextes als Maschine sowie Figuren als Textträger oder Funktionsträger vgl. etwa Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse. Tübingen 1997, S. 291, 294-296, 307, 323.
  • 5. Diese Überlegungen wurden ursprünglich von Denis Diderot eingeführt. Vgl. Ders.: »Von der dramatischen Dichtkunst« (1760). In: Ästhetische Schriften, Bd. 1. Übers. v. Friedrich Bassenge u. Theodor Lücke. Berlin u. a. 1967, S. 319.
  • 6. Franco Moretti: Graphs, Maps, Trees. Abstract Models for a Literary Theory. London u. a. 2005.
  • 7. Vgl. Andrea Polaschegg: »Der Gegenstand im Kopf: Zur mentalistischen Erbschaft des Werkkonzepts auf dem Sparbuch literaturwissenschaftlicher Objektivität«. In: Lutz Danneberg u. a. (Hg.): Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs. Berlin 2019, S. 399–418, hier S. 413; Andrzej Wirth: »Vom Dialog zum Diskurs. Versuch einer Synthese der nachbrechtschen Theaterkonzepte« [1980]. In: Peter Langemeyer (Hg.): Dramentheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Stuttgart 2011, S. 528–531.
  • 8. Vgl. Michael Gamper u. Helmut Hühn (Hg.): Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft. Hannover 2014; Michael Gamper u. a. (Hg.): Zeit der Form – Formen der Zeit. Hannover 2016; Michael Gamper u. Peter Schnyder (Hg.): Dramatische Eigenzeiten des Politischen im 18. und 19. Jahrhundert. Hannover 2017.
  • 9. Vgl. z. B. Sabine Maasen u. Peter Weingart: Metaphor and the Dynamics of Knowledge. London u. a. 2000; Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaften. Übers. v. Gustav Roßler. Frankfurt a. M. 1992; Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M. 1997; Mary Hesse: Models and Analogies in Science. Notre Dame 1966.
  • 10. Vgl. Andreas Hetzel: Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie. Bielefeld 2011.
  • 11. Vgl. z. B. Carlos Spoerhase: Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830. Göttingen 2018; Ders.: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne. Göttingen 2016.
  • 12. Vgl. Dieter Mersch u. a. (Hg.): Ästhetische Theorie. Zürich 2019.

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