Literaturwissenschaft und Praxis
Joachim
Harst
Köln

Fallgeschichten der Psychoanalyse

Bekanntlich ist die Entstehung der Psychoanalyse eng mit der Fallgeschichte verbunden: Sigmund Freud entwickelt seine therapeutische Methode in Auseinandersetzung mit konkreten Fällen, die in Studien über Hysterie (1895) versammelt sind.1 Das spätere Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905) mit der berühmten Geschichte von Dora erscheint geradezu als »Urszene der Psychoanalyse«.2 Und nicht nur an der Gründung, auch an der Weiterentwicklung der Psychoanalyse sind Fallstudien maßgeblich beteiligt: Freud’sche Fälle werden in der Ausbildung als Lehrbeispiele eingesetzt und wichtige theoretische Neuerungen als ihre Relektüren eingeführt. So ließe sich die Geschichte der Freud’schen Psychoanalyse beispielsweise problemlos an der Rezeption des Falls Dora aufzeigen.3 Das psychoanalytische Wissen entsteht also größtenteils fallbezogen, es begründet sich nicht unter Verweis auf ein abstraktes System, sondern auf eine Sammlung von Einzelfällen.

Hinter dem Titel »Fallgeschichten der Psychoanalyse« könnte sich demnach eine Überblicksdarstellung verschiedener Fallgeschichten verbergen. Mein eigener Zugang zu diesem Thema ist dagegen in dem Plural von »Fallgeschichten« enthalten. Zwar scheint Freud seine Fälle generell einer eindeutigen Lösung zuzuführen, doch ist es auffällig, dass sie spätestens in der Rezeption eine Vielfalt von weiteren Deutungsmöglichkeiten entwickeln. Eine solche Vielfalt ist bereits in dem Begriff »Fall« selbst angelegt, der notorisch mehrdeutig ist und damit verschiedene Zugänge zu »Fallgeschichten« öffnet.4 Ich nenne drei Aspekte, die zugleich als Gliederungspunkte für das Folgende dienen werden: Versteht man den Fall als »casus«, so nähert man sich der Fallgeschichte als epistemischer Form und könnte nach deren konstitutiver Rolle für das Denken der Psychoanalyse fragen. Rhetorisch nähert Freud seine Fälle jedoch gerne der Detektivgeschichte an, sodass der »casus« als Rätsel- oder Kriminalfall erscheint und die literarische Konstruktion von Wissen betont wird. Und schließlich weist der Fall bei Freud auch Aspekte des »lapsus« auf und erscheint so als Sündenfall in eine Welt des Scheins, in der Verdacht und Schuld allgegenwärtig sind, positives Wissen jedoch unmöglich ist.

Aus dieser Vielfalt des Falls lässt sich schon vor jeder näheren Auseinandersetzung eine erste These gewinnen: Was genau der »Fall« ist, lässt sich nicht feststellen, denn der Fall – fällt. Diese Ungreifbarkeit des Falls korrespondiert mit dem Gegenstand der frühen Fallgeschichten, in denen Freud mit an Hysterie leidenden Patient:innen arbeitet. Die Hysterie gilt um 1900 als eine Krankheit, die sich nicht an einem organischen Leiden festmachen lässt.5 Ihre diverse Symptomatik lässt sich vielmehr als komplexes Imitations- und Übertragungsgeschehen zwischen Arzt und Patientin verstehen: Hysterische Symptome sind oftmals Reproduktionen somatischer Krankheiten und zugleich Antworten auf ärztliche Erwartungen, sie lassen sich als körperliche Mitteilung und dramatisierte Rede verstehen. Als derart ortlose Krankheit ist die Hysterie ähnlich schwer greifbar wie der Fall. Zu ihrer Fixierung wurden verschiedene mediale Strategien eingesetzt: Freuds Lehrer Jean Martin Charcot setzte auf die Fotografie, um die Krankheit bildlich zu fixieren, und sah zugleich in den Posen der Hysterikerinnen Parallelen zur Heiligendarstellung in der europäischen Malerei.6 Freud dagegen bevorzugt die Sprache, weil er die hysterischen Symptome als körperlich ausagierte Mitteilungen versteht und sie es ihm erlaubt, mangels präziser Begriffe eine gleichnishafte Beschreibung einzusetzen.7 So bekümmert er sich selbst darum, dass seine Fälle wie literarische Novellen zu lesen seien.8 Gleichwohl ist Freud um Vereindeutigung bemüht. Im Bruchstück einer Hysterie-Analyse wird diese, wie ich zeigen werde, durch den Einsatz von dialogischen Elementen erreicht, die aber auch die theatrale Dimension von Krankheit und Analyse selbst enthüllen. Damit ist auch gleich die notorische Nähe der Hysterie zum Theatralischen angesprochen, die sowohl im medizinischen Diskurs als auch in seiner künstlerischen Rezeption von Bedeutung ist. Freuds Fallgeschichten sind also auch deshalb so vielfältig, weil sie verschiedene Strategien zur Fixierung des Falls aufrufen.

Im Folgenden möchte ich die innere Vielfalt der psychoanalytischen Fallgeschichte weiter entwickeln, indem ich die drei genannten Bedeutungen des Falls – casus, Rätsel und lapsus – als Zugänge zum Bruchstück vorstelle. Da es mir dabei um Darstellungstechniken und nicht um ein close reading der Fallgeschichte geht, wird Freuds eigentliche »Lösung« gegenüber der sprachlichen Formung des Falls in den Hintergrund treten, die ich zugleich mit weiteren medialen Fassungen der Hysterie vergleichen werde. 

Die Fallgeschichte als epistemische Form

Ein erster Aspekt der Fallgeschichte ist ihre epistemische Form. Als textuelles Genre dient die Fallgeschichte der Generierung von Wissen und Erkenntnissen.9 Am neuerlichen Aufkommen der Fallgeschichte in der Renaissance und im 18. Jahrhundert lässt sich ein epistemologischer Wandel festmachen, der Praxiswissen (knowing how) gegenüber Bücherwissen (knowing that) in den Vordergrund stellt. So wird etwa medizinisches Wissen nach Gianna Pomata in der Renaissance nicht mehr durch die Kommentierung überlieferter Schriften, sondern durch empirische Untersuchungen und ihre Bündelung in Fallsammlungen erzeugt. Daneben betont Pomata die gemeinschaftsstiftende Rolle des Austauschs von Fallgeschichten – gerade junge Wissenschaften könnten so vor ihrer Institutionalisierung auf Fallsammlungen zurückgreifen, um Erfahrungswissen zirkulieren zu lassen und eine Forschungs- oder Wissensgemeinschaft zu bilden. Dieser soziale Aspekt wird von anderen Wissenschaftler:innen auch für die sciences humaines des 18. Jahrhunderts in Anspruch genommen. Gleiches gilt für die klinischen Datensammlungen des 18. Jahrhunderts, aus denen Michel Foucault das disziplinäre Regime und näherhin auch die sciences humaines hervorgehen sieht.10

Die epistemische Form der Fallgeschichte ist unter anderem deshalb bemerkenswert, weil sie die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem einzelnen, beobachteten Fall und der allgemeineren Erkenntnis aufwirft. Wie zu erwarten, wird sie unterschiedlich beantwortet: Am Beispiel der Steigerung ärztlicher Visiten und ihrer Dokumentation im Krankenhaus des 18. Jahrhunderts argumentiert Foucault, dass die damit entstehenden Datensammlungen vorrangig im Dienste der Disziplinarmacht erhoben würden. Zwar rücke nun das Individuum in den Fokus der Wissenschaft, dessen Untersuchung vorrangig seiner »Normalisierung« diene. Die »sciences humaines« seien daher eine neuartige Erscheinung einer Macht, die dem Einzelnen seine Individualität zuweise und ihn an die Züge binde, die ihn charakterisierten und aus ihm einen »Fall« machten.11 Der Begriff der wissenschaftlichen »Disziplin« ist daher bei Foucault immer doppeldeutig, insofern sie aus einer Disziplinierung entsteht. Diese Dialektik lässt sich auch an Freuds Fallgeschichten ablesen: Zwar wird bei Freud den individuellen Zügen der Patient:innen eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit gewidmet, gleichwohl wird der Einzelfall häufig auf eine allgemeine Formel – Hysterie, Zwangsneurose – gebracht. Die grundlegenden Strukturen des Unbewussten scheinen hierbei gleichbleibend zu sein.12

Positiver als Foucault schätzt John Forrester die epistemische Bedeutung von Fallgeschichten ein. In kritischer Auseinandersetzung mit Foucault spannt Forrester einen Bogen von der hippokratischen Medizin zur Freud’schen Psychoanalyse. Dabei betont er ihre epistemologische Ähnlichkeit, die er als analogisches »Denken in Fällen« fasst, das im Sammeln von Fällen ein implizites und stets instabiles System bildet.13 Die Hierarchie zwischen Fall und Regel ist hier nicht endgültig festgelegt. Zwar werden Fälle innerhalb einer impliziten Systematik behandelt, doch kann jeder Fall auch eine neue Regel begründen und das System somit verändern und erweitern. Das Denken in Fällen habe somit einen provisorischen, fragenden Charakter, und könne gerade deshalb dem Singulären gerecht werden.14 Anders als Foucault sieht Forrester in der psychoanalytischen Fallgeschichte daher geradezu das Versprechen, die ganze Wahrheit des Individuums in wissenschaftlicher Form auszusprechen.15

Ein Seitenblick auf die Studien über Hysterie von 1895 kann Forrester zumindest in einer Hinsicht bestärken: Hier kann man nachlesen, wie Freud seine therapeutische Technik in Interaktion mit seinen Patientinnen ausbildete, variierte und revidierte, während er aus den Heilungserfolgen Rückschlüsse auf das Krankheitsbild der Hysterie zu ziehen versuchte. Besondere Bedeutung kommt dabei der Fallgeschichte der Anna O. zu, die Freud später gar als Ursprungsgeschichte der Psychoanalyse tout court inszeniert.16 

Im Folgenden möchte ich das Verhältnis zwischen Einzelfall und Regel, Therapie und Theorie an formalen Charakteristika von Freuds Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905) weiter veranschaulichen. Der Titel unterstreicht den fragmentarischen Charakter der Analyse, die von der Patientin vorzeitig abgebrochen wurde. Auf einer anderen Ebene erreicht Freud aber durchaus eine ganzheitliche Darstellung. Statt eines fortlaufenden Therapieberichts legt Freud nämlich eine kompakte Zusammenfassung vor. Dabei erzählt er in einem ersten Teil die Liebes- und Leidensgeschichte seiner Patientin chronologisch rückwärts und rekonstruiert so einen linearen Kausalzusammenhang. Den Höhe- und Endpunkt der Analyse gestaltet er dagegen als dialogisches Sitzungsprotokoll, das um zwei Träume kreist. Sogar den Abbruch der Analyse versteht Freud noch zu einem abschließenden Beweisstück umzudeuten. Freuds Analyse zielte nämlich darauf, die hysterischen Symptome seiner Patientin Dora auf ihre verdrängte Liebe zu Herrn K. zurückzuführen, dessen Heiratsantrag sie mit einer Ohrfeige beantwortet hatte. Indem er den Begriff der Übertragung einführt, kann Freud den Abbruch als unbewusste Wiederholung dieser Szene deuten: Dora habe ihn mit Herrn K. identifiziert und ihm mit dem Abbruch der Analyse eine symbolische Ohrfeige erteilt. So wird das Scheitern der Therapie zu einem Beweisstück der Theorie.17

Zentral für die ganzheitliche Wirkung des Bruchstücks ist sein Umgang mit dem Verhältnis von Einzelfall und Regel, Therapie und Theorie. Anders als die Daten- und Fallsammlungen, die Foucault und Forrester zitieren, und anders als die in Paris und Wien üblichen klinischen Berichte verwebt Freud in seiner Darstellung den Einzelfall mit ausführlichen theoretischen Erörterungen. Diese wechselseitige Verwiesenheit von Einzelbeobachtung und übergreifender Erklärung lässt das abduktive Vorgehen Freuds besonders gut erkennen. Anstatt deduktiv oder induktiv vorzugehen, entwirft Freud im Versuch, den Einzelfall zu verstehen, zugleich eine neue Falltypik, deren hypothetische Gesetzmäßigkeit überhaupt erst beschreibbar macht, was der Fall ist. Die Abduktion ist ein kreativer Schluss, der – im Gegensatz zu Deduktion und Induktion – neue Ideen in die Welt bringen kann, aber zugleich nicht dieselbe logische Stringenz aufweist wie rein analytische Schlussverfahren.18 Bemerkenswert an Freuds Vorgehen ist nun, dass er diese spekulative Seite seines Vorgehens teilweise offenlegt, teilweise unter dem Eindruck lückenloser Schlüssigkeit zu verbergen sucht. So stellt er zu Beginn seine Fallgeschichte als praktische Fortsetzung seines theoretischen Grundlagenwerks zur Traumdeutung (1899/1900) dar und räumt ein, dass die Fallgeschichte nur der Leserin der Traumdeutung verständlich sein wird. Umgekehrt findet sich schon in der Traumdeutung der Hinweis, dass die oft kontraintuitive psychoanalytische Theorie nur in ihrer praktischen Anwendung plausibel werde. Konkret bedeutet das, dass die Einzelheiten des Falls nur zum Teil in die Theoriebildung eingehen; oft ist es auch die Theorie, die über das rechte Verständnis der Einzelheit entscheidet. Das kunstvolle Verweben von Therapie und Theorie kaschiert also eine zirkuläre Verweisstruktur, die sich einer streng wissenschaftlichen Begründung entzieht – zumindest wenn man sich, wie Freud selbst, an den Standards der Naturwissenschaften orientiert. Die Verschränkung von Fallbeobachtung und Verallgemeinerung erinnert vielmehr an den hermeneutischen Zirkel, dessen Konzeptualisierung zur Differenzierung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften beigetragen hat. Die so erreichte geschlossene Form kann man durchaus als Neuerung Freuds im Genre ›Fallgeschichte‹ bezeichnen.19

Die theoretischen Einlassungen Freuds dienen ferner dem Zweck, das eigene Verständnis der Hysterie von dem seiner unmittelbaren Vorgänger – also Charcot und Breuer – abzugrenzen. Freud besuchte Charcot in Paris und hörte dort dessen Vorlesungen zur Hysterie. Charcots Forschung ist noch heute für ihren Einsatz von Hypnose und Fotografie bekannt, um hysterische Symptome zu provozieren und zu dokumentieren. Den sprachlichen Äußerungen seiner Patientinnen schenkte Charcot dagegen keine Aufmerksamkeit, sonst hätte er den Zusammenhang zwischen Hysterie und Sexualität wohl nicht rundheraus abgelehnt. Bei ihm standen Forschung und Lehre im Vordergrund, eine Therapie im eigentlichen Sinne gab es nicht.20 Freuds Ansatz stellt sich als Gegensatz dazu dar, wenn er in den zusammen mit Breuer veröffentlichten Studien zur Hysterie Wert auf die Zusammenarbeit mit seinen Patientinnen legt, die zu einer sprachzentrierten Therapie unter Verzicht auf Hypnose geführt habe.21 Und im Bruchstück stellt er seine These der sexuellen Ätiologie der Hysterie ausdrücklich gegen seine früheren Lehrer Charcot und Breuer auf. So instrumentalisiert Freud den Einzelfall als programmatischen Grundstein einer neuen Disziplin.

Für Foucault, der die »Hysterisierung des weiblichen Körpers« als Machtstrategie denunzierte, dürfte das Beweis genug sein.22 Freuds vorläufige Lösung des Falls läuft denn auch darauf hinaus, seiner Patientin die Heirat nahezulegen – Heirat wohlgemerkt mit einem Mann, den sie nur Freud zufolge und auch nur unbewusst liebt. Hier fällt Freud in das seit der Antike überkommene Stereotyp zurück, die Hysterie gehe auf unerfüllte Sexualität zurück.23 Einer derart offenkundigen »Normalisierung« der Patientin steht jedoch Freuds Sensibilität für widersprüchliche Aspekte entgegen. So hebt er in einer späteren Relektüre des Falls die Möglichkeit hervor, dass seine Patientin starke homosexuelle Neigungen verspüre. Beide Deutungen stehen in den späteren Veröffentlichungen nebeneinander, ohne dass der Widerspruch aufgelöst würde. Freuds Lösungen beginnen also, den Fall zu vervielfältigen. Ein weiterer Beleg dafür ist der nun anzusprechende Zusammenhang zwischen Fallgeschichte und Indizienparadigma.

Rätselfall: Detektiv und Indizienparadigma

Was Forrester als »Thinking in Cases« bezeichnet hat, untersucht Carlo Ginzburg unter dem Schlagwort »Indizienparadigma«. Ebenfalls ausgehend von der medizinischen Fallgeschichte und ihrer diagnostischen Semiotik, aber auch unter Bezug auf die neue Bedeutung des Indizienbeweises im Strafverfahren argumentiert Ginzburg, dass sich im 19. Jahrhundert eine Reihe von »Humanwissenschaften« entwickelt hätten, die auf Einzelfällen und Indizienbeweisen gründeten und daher eine narrative Struktur hätten. Diese von Ginzburg so genannten »Indizienwissenschaften« seien »in hohem Grade qualitative Wissenschaften, die das Individuelle an Fällen, Situationen und Dokumenten zum Gegenstand haben«, und deren Ergebnisse daher keine positive Gewissheit, dafür aber tiefere Einsichten in das individuell Menschliche erreichen könnten.24 Von diesem epistemologischen Standpunkt ergebe sich eine Analogie zwischen indiziengeleiteten Disziplinen und der gleichzeitig entstehenden Detektivgeschichte.

Auch Ginzburg bemerkt, dass das »Indizienparadigma« nicht ganz unschuldig ist. Denn mit Foucault kann man den Indizienbeweis an eben jenen epistemologischen Bruch zurückbinden, aus dem die Disziplinargesellschaft hervorgeht: Er ist das gerichtliche Pendant zur klinischen Fallstudie (examen).25 Auch Ginzburg sieht die Nähe zwischen dem Indizienbeweis und neuen Techniken der polizeilichen Identifikation durch Foto- und Fingerabdruckkarteien.26 Im vorliegenden Zusammenhang ist besonders interessant, dass auch Charcots fotografische Untersuchung der Hysterie in enger Zusammenarbeit mit der Pariser Polizei erfolgte, die an einer fotografischen Erfassung von Straftäter:innen und Techniken zu ihrer Wiedererkennung arbeitete. Ähnlich ging es Charcot darum, die Hysterie als Krankheitsbild dingfest zu machen. In beiden Fällen war es wichtig, die Körperhaltung und den Gesichtsausdruck der Fotografierten derart zu standardisieren, dass ein Vergleich zwischen den Fotografien möglich war. So sollten die Bilder nicht zuletzt die Suche nach einem kriminellen bzw. hysterischen »Typus« unterstützen.27

Die epistemologische Analogie zwischen Detektiverzählung und psychoanalytischer Fallgeschichte bezieht sich also auf die Methode des Indizien- und Spurenlesens. Die Konsequenzen dieses Befunds können jedoch höchst unterschiedlich ausfallen. Ginzburg betont den unsicheren Status von Erkenntnissen, die durch detektivische Abduktion – also jenem logisch nicht gesicherten, intuitivem und spekulativem Schlussverfahren, für das Sherlock Holmes bekannt ist,28 – gewonnen werden. Auf der anderen Seite arbeitet er aber auch die ideologiekritische Dimension eines Spurenlesens heraus, das sich mit Oberflächenphänomenen nicht zufrieden gibt und nach einer umfassenden tieferen Wahrheit – in Freuds Fall dem Unbewussten – fragt.29 Andere Autor:innen wie Spence untersuchen Freuds Schriften auf narratologischer oder rhetorischer Ebene und glauben, Freud bediene sich bei der »Sherlock Holmes Tradition«, um den Eindruck einer eindeutigen, zweifelsfreien Lösung zu erwecken.30 Das mag umso wichtiger sein, als Freuds Schlussfolgerungen ja einen grundsätzlich unerkennbaren (und daher nur metaphorisch greifbaren) Gegenstand, das Unbewusste, betreffen. Da Ginzburg seine Aussagen zu Freud jedoch nie ausführlicher belegt hat, ist nun zu zeigen, inwiefern Freuds Bruchstück epistemologisch und rhetorisch dem »Indizienparadigma« angehört.

Der Fall wird im Bruchstück insistent als »Rätsel« tituliert, das einer Aufklärung bedarf. Analog dazu ist auf den Ebenen von Anamnese und Analyse die Frage nach einem »Schlüssel« virulent, der Schmuckkästchen und Frauenzimmer »aufsperrt«.31 Wie in einem guten Krimi wirft jede gewonnene Erkenntnis aber neue Fragen auf, die tiefer in den Fall hineinführen.32 Freuds Ermittlungen betreffen die Krankengeschichte, aber auch das soziale Umfeld der Patientin, über das sich nur indirekte Auskünfte einholen lassen. Zudem sucht er mittels Indizien nicht nur die bewussten, sondern auch die unbewussten Beweggründe der beteiligten Personen zu erforschen. Freud muss hier weitgehend seiner Patientin folgen, die ihrerseits mit gleichsam detektivischem Scharfsinn den Charakter und das Verhalten ihres Vaters hinterfragt.33 

Die schrittweise Aufklärung führt zu einem Geflecht aus Beziehungen, Hypothesen und spekulativen Schlüssen, das die Leser:innen durchaus verwirren kann. Auch hier spielt, wie Freud in einer späteren Schrift festhält, das Verhältnis von Fragment und Ganzem eine Rolle. Das Vorgehen des Analytikers sei nämlich dem Puzzlespieler ähnlich, der einen »unordentlichen Haufen von Holzplättchen« so zu ordnen hat, »daß die Zeichnung sinnvoll wird, daß nirgends eine Lücke zwischen den Fugen bleibt und daß das Ganze den Rahmen ausfüllt«. Wenn alle diese Bedingungen erfüllt seien, wisse der Analytiker, »daß [er] die Lösung des Puzzle gefunden hat und daß es keine andere gibt«.34 Das von Freud eingesetzte Bild ist anschaulich, täuscht jedoch über eine zentrale Differenz zwischen Puzzle und (analytischer) Spurensuche hinweg: Anders als das Puzzle, das bereits aufgrund seines Formats nur eine mögliche Lösung zulässt, können Spuren zu verschiedenen ›Bildern‹ bzw. Erzählungen verbunden werden. Weil mit Indiz und Abduktion nur hypothetische Ergebnisse erzielt werden können, wird Gewissheit in Detektivgeschichten konventionell durch ein Geständnis der Täter:in verbürgt. Bei Freud ist es nicht anders: Gerade in den frühen Jahren seiner Tätigkeit legte er besonderen Wert darauf, dass die Patient:in seine Deutung am Ende der Therapie bestätigt. Dora hat nun aber die Analyse abgebrochen, was eher auf ihre Ablehnung hinzuweisen scheint. Jedenfalls bleibt eine finale Bejahung aus. Daher muss Freud ihre unbewusste Zustimmung erschließen, was erneut – und hier verwendet Freud selbst den Begriff – per »Indizienbeweis«35 geschieht. Das Material dazu sammelt er in den Traumanalysen, die am Ende der Fallgeschichte eingearbeitet sind und durch ihre dialogische Gestaltung auffallen. Die im Dialog entfaltete antagonistische Dynamik zwischen Arzt und Patientin erinnert an das kriminalistische Verhör: Die Verdächtige wird so lange bearbeitet, bis sie sich ausreichend in Widersprüche verheddert hat. Neben ihrer mündlichen Rede wird dabei auch ihre Körpersprache gegen sie verwendet – für den Indizienbeweis spielt vor allem die sogenannte Symptomhandlung eine zentrale Rolle.

Die Anamnese hat ergeben, dass die hysterischen Symptome der Patientin mit einem »sexuellen Trauma« in ihrer frühen Jugend zusammenhängen. Ein erwachsener Mann umarmt Dora heftig und möchte sie küssen; diese empfindet jedoch statt – wie Freud meint – »gesunder« Lust nur einen Ekel, den der Analytiker als »exquisit hysterisch« qualifiziert.36 In der weiteren Analyse überzeugt sich Freud davon, dass der Ekel letztlich auf kindliche Masturbation zurückzuführen ist. In seiner Logik führt frühzeitige sexuelle Tätigkeit zu einer umso heftigeren späteren Verdrängung, weswegen Dora ihre sexuellen Regungen heute nur noch hysterisch, nämlich eben als Ekel, erleben kann.37

Nun will die Verdächtigte das kindliche »Verbrechen« nicht eingestehen, doch wird ihr eine »Symptomhandlung« zum Verhängnis. Während sie auf der Couch liegt, spielt sie mit ihrem Handtäschchen, »indem sie es öffnete, einen Finger hineinsteckte, es wieder schloß, usw.«.38 Freud nimmt das zum Anlass, ihr und der Leser:in zu erklären, was Symptomhandlungen sind: Aussagen des Unbewussten, die sich an scheinbar unauffälligem Verhalten festmachen und oft in Widerspruch zum bewussten Diskurs stehen. In diesem Fall sieht Freud in der Symptomhandlung seiner Patientin eine »recht ungenierte, aber pantomimische Mitteilung«39, nämlich eben das Eingeständnis der Masturbation. Bewiesen wäre damit zugleich die noch weiter gehende Hypothese Freuds, dass der Ekel vor der gewaltsamen Umarmung in Wahrheit Ausdruck von Erregung gewesen sei, die auf eine unbewusste Zuneigung schließen lasse.

Diese (von der Patientin nicht bestätigte) Deutung führt Freud zu dem triumphierenden Ausruf, »daß die Sterblichen kein Geheimnis« vor ihm »verbergen können«. Freud weiter: »Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen; aus allen Poren dringt ihm der Verrat. Und darum ist die Aufgabe, das verborgenste Seelische bewußt zu machen, sehr wohl lösbar«.40 Die erstaunliche Überheblichkeit dieser Passage wurde vielfach bemerkt. Aus einem einzelnen, höchst spekulativen Indizienbeweis leitet Freud die Behauptung ab, dass seinem detektivischen Scharfsinn kein Geheimnis verborgen bleibe. Und zugleich behauptet er, dass alle, die Augen und Ohren haben, zu demselben Ergebnis kommen müssten. Sehenden ist das Unbewusste ein offenes Buch. Es scheint, wie Gisela Steinlechner schreibt, dass sich »das Unbewußte der ›Sterblichen‹ unweigerlich selbst zu Fall« bringe. »Es fügt sich – vor den wachsamen Augen und Ohren des Detektivs – zum einsehbaren Kasus.«41

Sündenfall und lapsus

Darüber hinaus fällt auf, dass Freud in dem Zitat eine biblische Wortfügung – »wer Ohren hat zu hören, der höre!«42 – aufgreift. Auch ich wechsele nun in ein biblisches Register, indem ich den detektivischen Fall mit dem Begriff des »lapsus« verbinde. Dieser ist selbst mehrdeutig, weil er einerseits die unwillkürliche Fehlleistung oder Symptomhandlung bezeichnet, mit der sich das Unbewusste verrät, und andererseits auf den biblischen Sündenfall verweist. Das Ineinandergreifen von »casus« und »lapsus« haben Inka Müller-Bach und Michael Ott untersucht.43 Ihnen zufolge bewirken die frühen Fallsammlungen der sciences humaines auch eine Revision der biblischen »Fallgeschichte« in aufklärerisch-wissenschaftlichem Sinn. Umgekehrt handelt aber der biblische Fall selbst von Erkenntnis und Wissen. Weil Adam und Eva wissen wollten, wurden sie aus dem Paradies vertrieben. Seither leben die Menschen in einer gefallenen Welt, in der nichts mehr mit intuitiver Sicherheit gewusst wird, sondern höchstens durch das Lesen von Spuren erschlossen werden kann. Daher hängt jede detektivische Fallgeschichte mit dem Sündenfall zusammen. So auch die Erbschuld, von der der einzelne womöglich nichts weiß, die sich aber in seiner menschlichen Verfassung zeigt. Mit dem Sündenfall beginnt die Geschichte des gespaltenen Bewusstseins, die Freud psychoanalytisch fortführt.

 

Abb. 1: Désiré Magoire Bourneville u. Paul Regnard: Iconographie photographique de la Salpêtrière. Bd. 2. Paris 1878, Planche XXIX: Hystéro-Épilepsie, Contracture.

Die Hysterie ist ein besonders anschauliches Beispiel für diese Problematik des Wissens. Wie einleitend bereits erwähnt, ist die Hysterie der Moderne eine schwer greifbare, wandelbare Krankheit, die entsprechend häufig als »Proteus« oder »Chamäleon« bezeichnet wurde.44 Freuds Vorgänger Charcot suchte Licht ins Dunkel zu bringen, indem er die Phasen des hysterischen Anfalls fotografisch fixieren ließ, um sie anschließend zu systematisieren. Freud vergleicht Charcots ordnende Arbeit ausgerechnet mit Adam, dem »Gott die Lebewesen des Paradieses zur Sondierung und Benennung vorführte«.45 Doch der Glaube, dass mittels der Fotografie eine Objektivierung der Krankheit erreicht werden könne, ist offenkundig irrig. Die bekannten Fotografien von »Augustine«, einer Patientin Charcots, exponieren weniger die schmerzhafte hysterische Kontraktur als den erotischen Blick, mit dem die Ärzte ihre Patientinnen untersuchten.46 Von ihr heißt es zudem, sie sei eine besonders begabte Hysterikerin gewesen, weil sie ihre Symptome auf Zuruf reproduzieren konnte. So kann man in Charcots Klinik nie sagen, ob der Arzt ein »natürliches« Symptom klassifiziert oder die Patientin ein Lehrbuch-Symptom imitiert.47 »Despite the semblance of positivist science, these endless procedures were circular and self-reinforcing«,48 schreibt Marc S. Micale dazu kurz und bündig. Die Imitationsfähigkeit der Hysterie war zudem auch im zeitgenössischen medizinischen Diskurs bekannt. In diesem Sinne wird die Hysterikerin als unbewusste Simulantin bezeichnet, als eine »Fotoplatte, die Eindrücke aufgezeichnet hat und sie so wiedergibt, wie sie sie empfangen hat«.49 Nicht nur die Hysterie, auch ihre Erforschung führt also in eine scheinhafte Welt der Theatralität. Das wird unter anderem an der zeitgenössischen Kritik deutlich, dass Charcot seine Patientinnen nicht heile, sondern zu Schauspielerinnen erziehe. Da erscheint es nur stimmig, wenn Charcots Fotos ihrerseits die verformten Körper der modernistischen Malerei und die theatralischen Gesten des Schauspiels prägten.50

Hysterie und Theatralität sind noch auf einer weiteren Ebene miteinander verbunden. Charcot deutet den hysterischen Anfall als Reinszenierung eines vorgängigen Traumas. Für Freud ist jedes Symptom eine »pantomimische Mitteilung«, also eine körperlich ausagierte Botschaft. Die Aufgabe des Analytikers ist es, diese Mitteilungen zu versprachlichen, denn damit lösen sich die Symptome in der Regel auf. Entscheidend dafür ist allerdings, dass die Patientin die Deutung nachvollziehen und ihr zustimmen kann. Wenn sie wie Dora Widerstand zeigt, müssen gleichsam kriminalistische Strategien zur Überführung angewendet werden. Hier wird die Analyse selbst zur Szene, auf der körperliche Mitteilungen ausagiert werden können, die der bewussten Rede der Patientin widersprechen. Zugleich muss aber auch bedacht werden, dass die Therapie als Ganzes zum Theater werden kann. So schreibt Freud im Rückblick von seiner Patientin Emmy von N., sie habe mit zahlreichen Ärzten nach ihm »dasselbe Stück aufgeführt wie mit mir. […] Es war der richtige Wiederholungszwang«.51 In einem solchen Fall wird die Therapie zum Symptom, zum Teil der Krankheit.

Die Nähe der Hysterie-Analyse zum Theater wird an einer Stelle des Bruchstücks mit einem lapsus verbunden, den Freud zum krönenden Indizienbeweis macht. Wie bereits erwähnt, zielt Freuds Analyse darauf, Dora ihre unbewusste Liebe zu Herrn K. nachzuweisen. Freud vermutet, dass Dora ihre abschlägige Reaktion auf den Heiratsantrag, die Ohrfeige, bedauert und sich einen anderen Ausgang gewünscht hätte. Beweis für die Richtigkeit dieser Deutung ist ihm ein weiteres Puzzlestück. In der Analyse kommt heraus, dass Dora neun Monate nach dem Heiratsantrag unter Fieber und Unterleibsschmerzen litt. Freud vermutet aufgrund der neun Monate, dass es sich um ein hysterisches Symptom, nämlich die Inszenierung einer Schwangerschaft handelte.52 Dora hätte somit die Folgen einer glücklichen Hochzeitsnacht inszeniert. Diese Deutung sieht Freud durch ein weiteres Indiz bewiesen: Als Reaktion auf die hysterische Schwangerschaft begann Dora zu hinken, als hätte sie sich den Fuß verstaucht – laut Freud ein symbolisches Eingeständnis des mit der Schwangerschaft fantasierten »Fehltritts«53 – oder eben lapsus. Freud endet die Beweisführung daher mit der an Dora gerichteten Rede: »Sie sehen also, daß Ihre Liebe zu Herrn K. mit jener Szene nicht beendet war, daß sie sich, wie ich behauptet habe, bis auf den heutigen Tag – allerdings Ihnen unbewusst – fortsetzt«. Und notiert befriedigt: »Sie widersprach dem auch nicht mehr«.54

Es ist bemerkenswert, dass die Beweisführung von Freuds Fallgeschichte in der Analyse eines zwar körperlich inszenierten, aber eben nur fantasierten »Fehltritts« kulminiert. Das Hinken kommentiert ja einen »Fall«, nämlich einen Verlust der Unschuld, der gar nicht stattgefunden hat. Für Freud gewinnt dieser lapsus jedoch Beweiskraft – er ist das letzte Puzzlestück, das ihn zu seinem recht apodiktischen Urteil führt. Dass Dora dieses Urteil nicht akzeptiert, sondern die Analyse abbricht, deutet Freud im Sinne der Übertragung als symbolische Ohrfeige – hier hätte Dora mit Freud also ›dasselbe Stück aufgeführt wie mit Herrn K.‹ In seinem Nachwort zur Fallgeschichte wirft sich Freud daher vor, dass er die Übertragung nicht frühzeitig erkannt habe, aufgrund derer er für Dora als Repräsentant des Herrn K. fungierte. Das Scheitern der Analyse liegt also genau darin, dass die Therapie zum Schauspiel geworden ist, in dem das vergangene »Trauma« reinszeniert wurde, anstatt es zu reflektieren.55 Diese Erklärung des Scheiterns gründet aber auf der Annahme, dass Dora Herrn K. tatsächlich unbewusst liebt. Das Scheitern der Analyse lässt sich also nur verstehen, wenn man an ihrer Richtigkeit festhält.

Wenn Dora die Analyse zum Schauspiel machte, macht Freuds Theorie dem Theater ein Ende. Er durchschaut die hysterischen Szenen und legt das zugrundeliegende unbewusste Begehren frei. Diese Geste wirkte in der frühen postfreudianischen Psychoanalyse überzeugend, für die der Fall Dora als exemplarisch für das Verständnis von Hysterie und Weiblichkeit galt. Erst die feministische Kritik erkannte in der Fallgeschichte das performative Moment, das in der Zuschreibung eines unbewussten Begehrens und einer entsprechend normierten Sexualität durch Freud besteht. Insofern ist es schlüssig, dass sowohl kritische wie kreative Auseinandersetzungen mit der Fallgeschichte das Moment der Theatralität erneut einführen.

Hysterisches Theater

Die französische Schriftstellerin Hélène Cixous hat die Fallgeschichte zu einem Theaterstück gestaltet, das 1976 in Paris uraufgeführt wurde. Sein Titel Portrait de Dora könnte auf Charcots Hysterikerinnen-Fotos anspielen. Das Stück selbst enttäuscht jedoch die Erwartung eines erkennbaren Charakterbilds der Hysterikerin. Stattdessen theatralisiert es die Psychoanalyse: Zum einen, indem Freud und Dora im Gespräch gezeigt werden, wodurch die doppelte Rolle des Analytikers – Gesprächspartner und Interpret – hervorgehoben wird, die Freud sonst gern unter den Tisch fallen lässt. Zum anderen, indem der Inhalt des Gesprächs, Doras Familienbeziehungen und Erinnerungen, simultan dargestellt werden. Schließlich wird zum dritten mit Leinwand und Projektor ein weiterer Schauplatz eröffnet, auf dem unter anderem Traumsequenzen dargestellt werden. Dieser Vervielfachung der Szene entspricht eine Multiplikation des Falls. Einzelne Momente aus Freuds Fallgeschichte werden mehrfach durchgespielt und dabei variiert. So beginnt das Stück bereits mit einer doppelten Referenz auf die Ohrfeige, die Dora Herrn K. und Freud gab. Sie wird hier zuerst als Warnung, dann aber als zärtliche Aufforderung ausgesprochen: »Si vous osez m’embrasser, je vous donnerai une gifle!«.56

Gegen die überkommene Verbindung von Hysterie, Simulation und Weiblichkeit setzt Cixous in ihrer Bearbeitung der Fallgeschichte eine Theatralität, die sich von einer anschaulichen Handlung abwendet. Der Fall Dora zersplittert in Bruchstücke, die sich nicht mehr wie ein Puzzle zusammensetzen lassen.57 Das kann man an der zitierten Passage an der Dopplung der Figur Dora erkennen. So führt Cixous einerseits Freuds detektivische Logik ad absurdum, die ja auf Ganzheit zielte, und hält andererseits daran fest, dass am Grunde des Verhältnisses von Psychoanalyse und Hysterie etwas Unanschauliches, Ungreifbares liegt, das gleichwohl zur Darstellung drängt.

Abb. 2: Francis Bacon: Three Portraits. Posthumous Portrait of George Dyer, Self-Portrait, Portrait of Lucian Freud, 1973, Privatsammlung, Ausschnitt © The Estate of Francis Bacon. All rights reserved. DACS 2018.

Das hat Cixous’ Stück mit der Portraitmalerei Francis Bacons gemein. Der hier abgebildete Ausschnitt des Triptychons Three Portraits (1973) steht repräsentativ für Bacons zahlreiche Verarbeitungen sitzender Figuren, deren deformierte Körper an Charcots Fotoserien oder auch an die fotografischen Experimente Eadweard Muybridges erinnern, in denen ebenfalls menschliche und tierische Körper in ungewöhnlichen Verrenkungen erscheinen.58 Auch Bacon arbeitete regelmäßig in Serie, indem er Sujets und Kombinationen variierte. Seine charakteristische Arbeitsweise schloss dabei die Auseinandersetzung mit Fotografien ein, die ihm als Vorlagen dienten – ein Umstand, an den auch ein außerhalb des Ausschnitts dargestelltes Foto erinnert. Doch während das Foto ein erkennbares Gesicht zeigt, ist Gesicht und Körper der sitzenden Figur bis zur Unkenntlichkeit entstellt – als würde sich eine innerliche, körperliche Kraft gegen Form und Gestalt zur Wehr setzen. So beschreibt jedenfalls Gilles Deleuze die unverkennbare Dynamik der Gemälde Bacons und identifiziert sie als »hysterisch«: Bacon befreie den Körper vom Regime der Repräsentation und lege das schiere Fleisch frei.59

Deleuzes Verwendung des Begriffs ist dabei als bewusste Verschiebung gegenüber Freuds Terminologie zu verstehen, die an seine frühe affirmative Verwendung durch die Surrealisten erinnert60: »Hysterie« ist hier nicht als pathologischer Begriff zu verstehen, sondern als unwillkürlicher Widerstand gegen eine repräsentative Ordnung und die mit ihr verbundenen Vorstellungen von Individualität und Identität. »Hysterisch« ist demzufolge nicht das von Bacon portraitierte – in der Regel männliche – Subjekt, obwohl dessen Körperhaltung an diejenige Augustines erinnert; »hysterisch« ist vielmehr die von Deleuze vermutete Kraft, die im Akt des Malens freigesetzt wird und gegen die geschlossene Gestalt des Körpers vorgeht. Deleuze eignet sich somit den Begriff an, um mit ihm seine Kritik der Freud’schen Psychoanalyse im Medium der Malerei weiterzuführen.

Diese beiden Beispiele deuten an, dass sich die Vielfalt der Fallgeschichte auch über die psychoanalytische Rahmung hinaus wirksam ist. In meinem Beitrag habe ich mich jedoch auf den Versuch einer theoretischen Fixierung durch Freud konzentriert, um zu zeigen, dass der Fall Dora in mindestens drei Aspekte zerfällt, die sich wechselseitig durchdringen. Die epistemische Form des casus dient der Feststellung eines fallbezogenen und insofern praxisorientierten Wissens. Rhetorisch gestaltet Freud den Fall dagegen als Rätsel, das detektivisch aufgeklärt werden muss. Dessen Lösung gründet jedoch auf der Deutung eines »lapsus« als theatralischer Symptomhandlung. Freuds abschließendes Urteil kann das Problem der Theatralität nicht ausräumen, auch wenn er Doras Abbruch der Analyse mit dem Begriff der Übertragung auffängt. Vielmehr wird so das Theater in die Theorie, der lapsus in den casus eingetragen. Die daraus folgende Ambivalenz des Falls charakterisiert das Wissen der Psychoanalyse und macht die Faszination ihrer Fallgeschichten aus.

Literaturverzeichnis

APPIGNANESI, Lisa u. John Forrester: Freud’s Women. London 1992.

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Désiré Magoire Bourneville u. Paul Regnard: Iconographie photographique de la Salpêtrière. Bd. 2. Paris 1878, Planche XXIX: Hystéro-Épilepsie, Contracture.

Abb. 2: Francis Bacon: Three Portraits. Posthumous Portrait of George Dyer, Self-Portrait, Portrait of Lucian Freud, 1973, Privatsammlung, Ausschnitt. © The Estate of Francis Bacon. All rights reserved. DACS 2018.

  • 1. Die im Folgenden herangezogenen Schriften Freuds werden nach der Werkausgabe zitiert: Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Hg. v. Anna Freud u. a. Frankfurt a. M. 1999. Die »Studien über Hysterie« sind in Bd. 1, S. 75–312, das »Bruchstück einer Hysterie-Analyse« in Bd. 5, S. 161–290 abgedruckt.
  • 2. Vera King: Die Urszene der Psychoanalyse: Adoleszenz und Geschlechterspannung im Fall Dora. Stuttgart 1995.
  • 3. Vgl. z. B. die Relektüren in Charles Bernheimer u. Claire Kahane (Hg.): In Dora’s Case. Freud – Hysteria – Feminism. New York 1990. Einen interessanten Überblick bieten auch Lisa Appignanesi u. John Forrester: Freud’s Women. London 1992.
  • 4. Vgl. dazu allgemein Nicolas Pethes u. Susanne Düwell (Hg.): Fall – Fallgeschichte – Fallstudie: Theorien und Geschichten einer Wissensform. Frankfurt a. M. u. a. 2014; Inka Mülder-Bach u. Michael Ott (Hg.): Was der Fall ist. Casus und Lapsus. München 2014; Sheila Dickson, Stefan Goldmann u. Christof Wingertszahn (Hg.): »Fakta, und kein moralisches Geschwätz«: Zu den Fallgeschichten im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783-1793). Göttingen 2011.
  • 5. Zur Geschichte der Hysterie und den hier zusammengefassten Charakteristika der Krankheit vgl. u. a. Mark S. Micale: Approaching Hysteria: Disease and its Interpretations. Princeton 1995; Sabine Arnaud: On Hysteria: The Invention of a Medical Category between 1670 and 1820. Chicago 2015; Sander L. Gilman (Hg.): Hysteria beyond Freud. Berkeley 1993.
  • 6. Vgl. Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot. München 1997; Jean-Martin Charcot u. Paul Richer: Die Besessenen in der Kunst. Hg. v. Manfred Schneider. Göttingen 1988.
  • 7. Vgl. Charles Bernheimer u. Claire Kahane: »Introduction«. In: Dies. (Hg.): In Dora’s Case. Freud – Hysteria – Feminism. New York 1990, S. 1–32, hier S. 11.
  • 8. Vgl. Freud: »Studien«, S. 227. Dazu Stefan Goldmann: »Sigmund Freud und Hermann Sudermann oder die wiedergefundene, wie eine Krankengeschichte zu lesende Novelle«. In: Eva Lezzi u. Helmut Peitsch (Hg.): Literatur, Mythos und Freud. Potsdam 2009, S. 51–70.
  • 9. Vgl. Gianna Pomata: »The Medical Case Narrative: Distant Reading of an Epistemic Genre«. In: Literature and Medicine 32.1 (2014), S. 1–23. DOI: 10.1353/lm.2014.0010.
  • 10. Vgl. Michel Foucault: Surveiller et punir. Naissance de la prison. Paris 1975.
  • 11. Vgl. ebd., S. 194; vgl. dazu auch Nicolas Pethes: Literarische Fallgeschichten. Zur Poetik einer epistemischen Schreibweise. Konstanz 2016, S. 23–26; Susanne Lüdemann: »As the Case May Be. Über Fallgeschichten in Literatur und Psychoanalyse«. In: Inka Mülder-Bach u. Michael Ott (Hg.): Was der Fall ist. Casus und Lapsus. München 2014, S. 115–127.
  • 12. So lautete bereits die fundamentale Kritik von Deleuze und Guattari an Freuds Fallanalysen, die sie am Beispiel des Wolfsmanns explizieren: Gilles Deleuze u. Felix Guattari: Mille plateaux. Capitalisme et schizophrénie. Bd. 2. Paris 1980, S. 38–52. Vgl. dazu auch Davide Giuriato: »Geschichten vom kleinen Hans (Freud – Kafka)«. In: Inka Mülder-Bach u. Michael Ott (Hg.): Was der Fall ist. Casus und Lapsus. München 2014, S. 129–144; und Joachim Harst: »Freuds Fälle. Das ›Reale‹ zwischen Anekdote und Fallgeschichte«. In: Christian Moser u. Reinhard M. Möller (Hg.): Anekdotisches Erzählen: Zur Geschichte und Poetik einer kleinen Form. Berlin u. a. 2022, S. 301–324.
  • 13. Vgl. John Forrester: »If p, then what? Thinking in Cases«. In: History of the Human Sciences 9.3 (1996), S. 1–25. DOI: 10.1177/095269519600900301.
  • 14. Vgl. dazu auch Rolf Haubl u. Werner Mertens: Der Psychoanalytiker als Detektiv. Eine Einführung in die psychoanalytische Erkenntnistheorie. Stuttgart 1996.
  • 15. Vgl. ebd., S. 10.
  • 16. Vgl. Appignanesi u. Forrester: Freud’s Women, S. 63–86 und King: Urzene, S. 183–185. Sowohl Appignanesi u. Forrester als auch King unterstreichen demgegenüber die Mitwirkung der Patientinnen an der Entwicklung der psychoanalytischen Theorie.
  • 17. Auch sonst spielt das Verhältnis von Fragment und Ganzheit im Text eine wichtige Rolle. Weitere Gründe, warum Freud nicht die ganze Geschichte erzählen kann, liegen in der angewandten Methode der freien Assoziation, die kein systematisches Vorgehen erlaubt, sowie in dessen Überzeugung, dass analytische Gespräche nicht protokolliert werden dürften. Jede Fallgeschichte ist also eine nachträgliche Rekonstruktion. Die ersten Notizen zum Bruchstück hat Freud nach dem Abbruch der Analyse niedergeschrieben, die erste Veröffentlichung ist jedoch erst fünf Jahre später erfolgt. Es ist wahrscheinlich die Konstruktion aus der Rückschau, die dem Bruchstück seine Wirkung als durch und durch komponiertes Ganzes verleiht.
  • 18. Zur Abduktion vgl. Umberto Eco: »Horns, Hooves, Insteps: Some Hypotheses on Three Types of Abduction«. In: Ders. u. Thomas A. Sebeok (Hg.): The Sign of Three: Dupin, Holmes, Peirce. Bloomington 1983, S. 198–220.
  • 19. Vgl. Horst Thomé: »Freud als Erzähler. Zu literarischen Elementen im Bruchstück einer Hysterie-Analyse«. In: Lutz Danneberg u. Jörg Niederhauser (Hg.): Darstellungsformen der Wissenschaft im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie. Tübingen 1998, S. 471–492; Adolf Grünbaum: The Foundations of Psychoanalysis: A Philosophical Critique. Berkeley 1984.
  • 20. Vgl. Daphne de Marneffe: »Looking and Listening: The Construction of Clinical Knowledge in Charcot and Freud«. In: Signs: Journal of Women in Culture and Society 17.1 (1991), S. 71–111.
  • 21. Vgl. auch die knappen Überlegungen Kittlers, der den Zusammenhang zwischen Serienfotografie (wie sie bei Charcot eingesetzt wurde) und Film herstellt, um deren Semiotik von derjenigen der Psychoanalyse abzugrenzen, vgl. Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1996, S. 213–220.
  • 22. Vgl. Michel Foucault: La volonté de savoir. Histoire de la sexualité. Bd. 1. Paris 1976, S. 137.
  • 23. Für eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen Hysterie und Geschlechtlichkeit vgl. Elaine Showalter: »Hysteria, Feminism, and Gender«. In: Sander L. Gilman (Hg.): Hysteria beyond Freud. Berkeley 1993, S. 286–343.
  • 24. Vgl. Carlo Ginzburg: »Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst«. In: Ders.: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. Berlin 1995, S. 7–44, hier S. 19. Ginzburg hat sich Zeit seines Lebens dagegen gewehrt, dass aus dem »Indizienparadigma« eine Einschränkung der Geltung wissenschaftlicher Erkenntnis folge. Zusammenfassend dazu Carlo Ginzburg: »Reflexionen über eine Hypothese, fünfundzwanzig Jahre danach«. In: Herta Wolf u. Michael Kempf (Hg.): Zeigen und/oder Beweisen? Die Fotografie als Kulturtechnik und Medium des Wissens. Berlin 2016, S. 1–12.
  • 25. Michel Foucault: »La vérité et les formes juridiques«. In: Ders.: Dits et écrits. Hg. v. Michel Foucault. Bd. 2. Paris 1994, S. 538–646.
  • 26. Ginzburg: »Spurensicherung«, S. 32–36.
  • 27. Vgl. Didi-Hubermann: Erfindung der Hysterie, S. 59–69. Trotz ihres wissenschaftlichen Anspruchs weisen die von Charcot beauftragten Fotografien – wie auch Abb. 1 zeigt – eine hohe ästhetisierende, ja erotisierende Komponente auf, die vielfach untersucht wurde; vgl. insbes. Susanne Holschbach: »Vom Bild der Leidenschaften zur Aufzeichnung der Symptome. Zu den zwei Visualisierungsparadigmen an Charcots ›photographischer Klinik‹«. In: Tanja Nusser u. Elisabeth Strowick (Hg.): Krankheit und Geschlecht. Diskursive Affären zwischen Literatur und Medizin. Würzburg 2002, S. 123–143.
  • 28. Zur abduktiven Schlussfolgerung bei Holmes vgl. Umberto Eco u. Thomas A. Sebeok (Hg.): The Sign of Three: Dupin, Holmes, Peirce. Bloomington 1983.
  • 29. Vgl. Ginzburg: »Spurensicherung«, S. 36f. Für eine besonders prägnante Beschreibung der Bedeutung des Spurbegriffs für die Psychoanalyse vgl. Sybille Krämer: »Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme«. In: Dies. u. Werner Kogge (Hg.): Spur: Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Frankfurt a. M. 2007, S. 11–33.
  • 30. Donald P. Spence: The Freudian Metaphor: Toward Paradigm Change in Psychoanalysis. New York 1987, S. 113–160.
  • 31. Claudia Liebrand: »Clavis scientiae: Freuds Bruchstück einer Hysterie-Analyse als Schlüsselroman«. In: Peter-André Alt u. Thomas Anz (Hg.): Sigmund Freud und das Wissen der Literatur. Berlin 2008, S. 73–86.
  • 32. Vgl. Thomé: »Freud als Erzähler«.
  • 33. Vgl. Steven Marcus: »Freud and Dora: Story, History, Case History«. In: Psychoanalysis and Contemporary Science 5 (1976), S. 389–442, hier S. 395.
  • 34. Sigmund Freud: »Theorie und Praxis der Traumdeutung«. In: Ders.: GW XIII, S. 301–314, hier S. 308f.; vgl. dazu auch Spence: Freudian Metaphor, S. 117f.
  • 35. Freud: »Bruchstück«, S. 241.
  • 36. Ebd., S. 187.
  • 37. Vgl. ebd., S. 242.
  • 38. Ebd., S. 238.
  • 39. Ebd., S. 239.
  • 40. Ebd., S. 240.
  • 41. Gisela Steinlechner: Fallgeschichten – Krafft-Ebing, Panizza, Freud, Tausk. Wien 1995, S. 144.
  • 42. Vgl. z. B. Mt 11:15 und 13:9.
  • 43. Vgl. Mülder-Bach u. Ott (Hg.): Casus und Lapsus.
  • 44. Vgl. Arnaud: On Hysteria, S. 54–62.
  • 45. Sigmund Freud: »Charcot«, In: Ders.: GW 1, S. 21–35, hier S. 23.
  • 46. Vgl. Holschbach: »Bild der Leidenschaften«, S. 130; Didi-Huberman: »Erfindung der Hysterie«, S. 275.
  • 47. Vgl. dazu ausführlich Sander L. Gilman: »The Image of the Hysteric«. In: Ders. (Hg.): Hysteria beyond Freud. Berkeley 1993, S. 345–452.
  • 48. Micale: Approaching Hysteria, S. 335.
  • 49. Zit. nach Holschbach: »Bild der Leidenschaften«.
  • 50. Vgl. Nathan J. Timpano: Constructing the Viennese Modern Body. Art, Hysteria and the Puppet. New York u. a. 2017.
  • 51. Vgl. Freud: »Studien«, S. 162.
  • 52. Vgl. Freud: »Bruchstück«, S. 265–267.
  • 53. Ebd., S. 266.
  • 54. Ebd., S. 267.
  • 55. Die Übertragung ist auch für eine gelingende Therapie von zentraler Bedeutung. Entscheidend ist, dass die Analytiker:in sie erkennt, so dass sie im Status des »als ob« mitspielen kann, aber zugleich der Patient:in die Struktur der Übertragung vor Augen führen kann. Insofern kennt auch die gelingende Therapie ein Moment des Theatralen.
  • 56. Hélène Cixous: Portrait de Dora. Paris 1976, S. 9: »Wagen Sie es, mich zu küssen, und ich werde Sie ohrfeigen«.
  • 57. Vgl. dazu auch Andrea Lassalle: »Ein Schauplatz der Hysterie. Das hysterische Szenarium Freuds und Cixous’ ›mise en scène‹«. In: Franck Hofmann (Hg.): Raum – Dynamik. Beiträge zu einer Praxis des Raums. Bielefeld 2004, S. 223–237, hier S. 237.
  • 58. Vgl. Donald Kuspit: »Hysterical Painting: Civilization and Francis Bacon’s Exhibition of Its Discontents«. In: Artforum 24.5 (1986), S. 55–60.
  • 59. Vgl. Gilles Deleuze: Francis Bacon. Logique de la sensation. Paris 2002, bes. S. 47–56.
  • 60. Vgl. Louis Aragon u. André Breton: »Le cinquantenaire de l’Hystérie, la plus grande découverte de la fin du XIXe siècle«. In: La révolution surréaliste 11 (1928), S. 20–22, wo Aragon und Breton die Fotos von Augustine als hysterische Kunstwerke kommentieren.

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