Johannes F.
Lehmann
Bonn
Kerstin
Stüssel
Bonn

Gegenwart/Literatur

Theoretische Perspektiven auf ›Gegenwartsliteratur‹

Eine der zentralen Aufgaben der Literaturtheorie für die Literaturwissenschaft ist die Aufklärung über ihre eigenen Grund- und Gegenstandsbegriffe und gegebenenfalls deren Revision. ›Gegenwartsliteratur‹ ist – sowohl als Phänomen wie als Konzept – literaturtheoretisch unterbestimmt, auch wenn sich die Erforschung jüngerer und jüngster Literatur in den letzten Jahren aus der akademischen Randstellung immer mehr ins Zentrum bewegt hat. Während die literaturgeschichtliche Frage nach der beweglichen Periodisierung lange fast alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, ist die begriffstheoretische Frage nach Geschichte und Konzeptualisierung der Kopplung von ›Literatur‹ und ›Gegenwart‹ im Begriff der Gegenwartsliteratur nach wie vor weder geklärt noch angemessen theoretisiert. Diese Forschungslücke will das DFG-Graduiertenkolleg »Gegenwart/Literatur. Geschichte, Theorie und Praxis eines Verhältnisses«1 füllen. Es ist ein literaturtheoretisches Unternehmen, indem es die Frage nach der Beziehung zwischen ›Gegenwart‹ und ›Literatur‹ grundsätzlich stellt. Literaturtheoretisch nach Gegenwartsliteratur und nach dem Verhältnis von ›Gegenwart‹ und ›Literatur‹ zu fragen, heißt, auch auf diesem Feld, die Bedingungen der Möglichkeit unserer Sprachspiele zu eruieren, es heißt, die begrifflichen Selbstverständlichkeiten, die uns regieren, in ihrer Genese und ihren Transformationen zu erhellen. Auch die Historisierung selbst wird auf diese Weise theoretisch reflektiert und historisiert.

All dies hat nicht nur Konsequenzen für Theorie, Methodologie und Praxis der Gegenwartsliteraturforschung, sondern auch für die literaturgeschichtliche und die kulturwissenschaftliche Erforschung vergangener und gegenwärtiger Gegenwarten. Die jeweilige Konzeption dieser Gegenwarten bestimmt, welche Funktionen Gegenwartsreferenzen übernehmen und welche Reflexionsdimensionen dies dann jeweils berührt. Erst auf der Grundlage einer Geschichte des Begriffs ›Gegenwart‹, respektive der korrespondierenden europäischen Semantiken, kann die Frage nach den veränderlichen Bezugnahmen von ›Literatur‹ auf die jeweiligen ›Gegenwarten‹ theoretisch fundiert gestellt werden. Mithin geht es um die Eröffnung und theoretische Ermöglichung einer systematischen Erforschung der Geschichte literarischer Gegenwartsbezüge einerseits und der Art und Weise, wie sie selbst an der Hervorbringung von Imaginationen von Gegenwart und Gegenwarten jeweils mitarbeiten andererseits. Umgekehrt kann die Perspektive auf historische ›Gegenwarten‹ Erkenntnisse darüber befördern, was zu welcher Zeit und aus welchen Gründen als ›Literatur‹ betrachtet wurde. 

Das Graduiertenkolleg Gegenwart/Literatur betreibt ›Gegenwart/Literatur‹-Forschung in historisch und systematisch grundsätzlicher Weise. Es sind insbesondere drei Dimensionen, die Implikationen für die Literaturtheorie haben: 1.) die Ambitionen der (historischen) Praxeologie und 2.) die wissenschaftsgeschichtliche Frage nach der Rolle der Gegenwartsliteraturwissenschaft für die Literaturtheorie (Autorschaft, Texttheorie, Hermeneutik und ihre Kritiken) sowie 3.) die Frage nach (gegenwarts-)literarischer Referenz.

(Historische) Praxeologie

Einen genuin theoretischen Rahmen unserer Aktivitäten bildet die (historische) Praxeologie. Sie macht über ihre sozial- und geschichtswissenschaftliche Empirie, die Verfahren der grounded theory und durch die Konzeptualisierung von Kooperationen ohne Konsens und ihren Grenzobjekten ein theoretisch-methodologisches Angebot, die institutionellen und literaturkritischen Verhältnisse in den Blick zu bekommen, welche ›Gegenwartsliteratur‹ kontinuierlich generieren, reflektieren und zu beeinflussen suchen. Gegenwartsliteratur vollzieht sich in Prozessen des making und des doing. Starke Ontologien des Werkes oder des Autors lösen sich nicht erst durch die Digitalisierung in Prozessualitäten und Praktiken auf, beziehungsweise konfigurieren sich in ihnen neu. Mit der im Kolleg jüngst erfolgten Fokussierung auf Referenz/Repräsentativität werden die historischen und aktuellen Praktiken von Referenzierung (Zeigen, Relevanz zu- und abschreiben, Vergleichen, canceln, etc.) und die Ökonomien der Aufmerksamkeit mit ihrer Dialektik von verstärkter Sichtbarkeit und Diskriminierung intensiver als bisher und theoretisch stärker auf soziale Praktiken statt auf semiotische oder gar ontologische Reflexionen zielend in den Fokus gerückt.

Unter den Vorzeichen von »ästhetische[m] Engineering« und »content management« sind vor allem die historisch differenten und veränderlichen Praktiken in der digitalisierten Buchbranche, in Bibliotheken und Archiven relevant.2 In verschiedenen Modi heterogener Kooperation und in sozialen Netzwerken schwacher und starker Bindungen wird in etablierten und neu entstehenden institutionellen Konstellationen Literatur mit Bezugnahmen auf Gegenwart je unterschiedlich generiert und prozessiert. Verlage, Zeitungen, Theater, Stiftungen, Literaturhäuser, Festivals, Jurys, Studiengänge publizieren und prämieren ausgestellte und stets künstlerisch gestaltete Referenzen. Sowohl transnational-kommerzielle wie auch staatliche oder öffentlich-rechtliche Einrichtungen entscheiden in einer bislang kaum verstandenen Mischung aus arkanen und ausgestellten Praktiken unter Rückgriff auf ein implizites Wissen mit deskriptiven wie normativen Komponenten darüber, welche Referenzierungen wie zur Geltung kommen. Wie ästhetische Programme und Präferenzen hier überhaupt noch zum Tragen kommen, wäre ein eigenes Untersuchungsfeld. Die auf Höhenkammgeltung, Exklusivität und Autonomie zielende Literatur arbeitet sich an postulierter bzw. dominanter Gegenwartsreferenz ab, indem sie sich einerseits rekursiv darauf bezieht und andererseits durch bestimmte Transaktualisierungstechniken und -postulate davon distanziert, mit dem Risiko, dass auch dies referentiell-inhaltistisch und vor allem politisch-performativ und damit praktisch gedeutet wird.3

Über ihre Programmgestaltung praktizieren die genannten Institutionen ein komplexes agenda-setting und determinieren, welche Eigenarten des künstlerischen Artefakts für eine variable Frist als gegenwärtig und mit Gegenwartsreferenz ausgezeichnet und kontextualisiert werden oder was vice versa als unzeitgemäß apostrophiert wird. Dies alles muss als historisch generierte, internationale, intermediale und zwischen den Künsten angesiedelte Konstellation betrachtet werden, in der Gegenwartsliteratur in einem starken Sinn ›fabriziert‹ wird.

Zugang zu diesen Phänomenen verspricht die Adaption von Verfahren, die aus den Geschichts- und Sozialwissenschaften stammen: Methoden der oral history wie der ›teilnehmenden Beobachtung‹ kommen als reflection in/on action, wie das Donald Schön bereits in den 80er Jahren gezeigt hat, und als grounded theory zum Tragen. Autobiographische und diaristische Quellen sind ebenso zu befragen wie unveröffentlichtes Archivgut, publizierte Reportagen sowie literaturkritische Texte; Interviews über und mit Akteur*innen,4 die Geno- und Paratexte, die wie etwa Ego-Dokumente (Autobiographien, Interviews und Poetikvorlesungen) der jeweiligen Gegenwartsliteratur beigesellt werden beziehungsweise zusätzlichen content erzeugen, sind theoretisch und praktisch zu erschließende Quellen.5

In Formen meist heterogener und heterarchischer Kooperation (mit und ohne Konsens) wird darüber entschieden, welche Normen und Formen sich in gegenwartsliterarischen Texten manifestieren. Bei Textproduktion und -distribuierung, in Lehr- und Lernsettings, in Beratungsszenarien und Konkurrenzpraktiken und auch für die teils arkanen, teils offensiv und argumentativ publik gemachten Lektüre- und Bewertungspraktiken spielen implizites Wissen und Professionalisierungsmechanismen eine wichtige Rolle. Die Erprobung aufmerksamkeitssteuernder Präsentationen von gegenwärtig erscheinender Literatur kann thematisch, aber auch im Hinblick auf die Formate und die Adressierung ganz unterschiedlichen Vorgaben folgen und ist theoretisch einzuhegen. Gegenwartsautor*innenschaft konturiert sich in diesem Zusammenhang als boundary object zwischen medialem Exzess und offensivem Rückzug aus der Öffentlichkeit, oft einhergehend mit kulturkritischen und gegenwartsdiagnostischen Programmen und Zuschreibungen, deren Einbindung unter anderem in Praktiken der Profilierung beobachtet werden muss. Auf allen Ebenen des ›Literaturbetriebs‹ sind starke und schwache Netzwerkstrukturen am Werk, die eine jeweilige Binnen-Gegenwart erzeugen, welche je unterschiedlich mit anderen Gegenwarten gekoppelt sein kann.

Wissenschaftsgeschichte

Vor allem für die Wissenschaftsgeschichtsforschung ist der practice turn als Paradigma fruchtbar gemacht worden. Dies erfordert aber eine Theoretisierung und Reflexion von
›Gegenwart‹: Praktiken sind latente und explizite Gegenwärtigkeitscluster. In den diversen Handlungsfeldern des literarischen Lebens und der Universität prägen routinisierte Handlungsformen, Kooperationstechniken und -medien, implizites Wissen, kollektive oder individuelle Gestimmtheiten, Körperpraktiken sowie epistemische Objekte die Literatur(en) der jeweiligen Gegenwart aus. Die wissenschaftsgeschichtliche Dimension des Verhältnisses von Gegenwart und Literatur lässt sich ihrerseits als Frage nach Praktiken und Reflexionen von Bezugnahmen sowie ihrer institutionellen und medialen Voraussetzungen stellen. Literaturwissenschaft operiert einerseits innerhalb ihrer eigenen institutionellen Trägheiten (in der traditionellen Distanz zur Beobachtung zeitgenössischer Literatur), steht andererseits aber in struktureller Kopplung sowohl zur Literaturkritik im Rahmen einer nationalen und politischen Öffentlichkeit als auch zur jeweils zeitgenössischen Literatur selbst, an der praktische und theoretische Innovationspotentiale im Umgang mit 
zeitgenössischen Texten bzw. Ästhetiken häufig gewonnen werden.

Der reflexiv kooperierende Blick auf aktuelle Praktiken der Gegenwartsliteratur und der Gegenwartsliteraturforschung erlaubt eine theoretische Neufokussierung der historisierenden
Wissenschaftsforschung. Zwar hat die Wissenschaftsgeschichte der Philologien und der Literaturwissenschaft von praxeologischen Ansätzen massiv profitiert, doch bleiben angesichts der immer noch schwachen Bereitschaft zu wissenschaftsgeschichtlicher Forschung grundsätzliche und gegenstandsnahe Analysen zur Geschichte der Gegenwartsliteraturforschung weiterhin ein Desiderat. Die wissenschaftsgeschichtliche Dimension des Verhältnisses von Gegenwart und Literatur zu beobachten, ermöglicht zugleich, das Problem der Literaturgeschichte, der Literaturgeschichtsschreibung und der damit verbundenen Kanonisierungspraktiken zu denken, deren Routinen und Selbstverständlichkeiten zu beobachten und womöglich zu durchbrechen. Denn gerade die Figuren der Referenz und die Diskursivierung von Referenzobjekten, die auf einer tieferen, generativen Ebene der Kultur im Hinblick auf die Beziehung von Literatur und Gegenwart zu untersuchen sind, werden in den von politisch- gesellschaftlichen Datierungen hergenommenen Epochenbegriffen bereits vorausgesetzt und prozedural-seligierend praktisch durchgesetzt.

Die Gegenwartsliteraturforschung, selbst verstrickt in Näheverhältnisse zu poetologischen Diskussionen, hat sich daher in bewusster Distanzierung von ihnen wie auch weiterhin im engen, nun aber reflektierten Kontakt mit ihren Gegenständen grundlegend zu transformieren, um neue Referenzverhältnisse zwischen Kunst und Zeit überhaupt greifen und beschreiben zu können.

Referenz

All dies trägt der Tatsache Rechnung, dass sich nicht erst in den letzten Jahren die Debatte um Gegenwartsliteratur, aber auch um Gegenwartskunst und -kultur selbst, stark in eine Richtung verschoben hat, die Fragen der – sprach- und zeichentheoretisch aufgeladenen – Referenz fokussiert. In der aufmerksamkeitsökonomischen und -politischen Reflexion solcher Referenzen transformieren sie sich zu Debatten um die adäquate Repräsentation bzw. Präsenz von Referenzobjekten in der Gegenwart. Bezugnahmen auf ›Gegenwart‹ verweisen auf etwas in einer Gegenwart, das durch die ostentative, affirmative oder kritische Referenzierung allererst in einen Bereich vergrößerter, intensivierter oder verschobener Sichtbarkeit gerückt wird und das als exemplarisch, als prägend für die Gegenwart oder als gegenwartsdiagnostisch relevant plausibel gemacht werden soll.6 Mit jedem ausgestellten oder latenten Bezug auf etwas Gegenwärtiges in einer Gegenwart verändert sich das Bild dieser Gegenwart, verschiebt sich das Gesamtset dessen, was als ›Gegenwart‹ adressiert bzw. imaginiert wird. Gegenwartsreferenzen konstituieren Gegenwart und unsere Konzepte von ihr, seien es ostentative Gesten, seien es Vergleiche oder Wertungen, seien es »Chronoferenzen«,7 mit denen gegenwärtige Vergangenheits- und Zukunftsbezüge realisiert werden, seien es Praktiken der selegierenden Bezugnahme, mit der Gesellschaften identifizieren, worauf sie sich wiederkehrend als Thema öffentlicher Kommunikation beziehen, seien es die Algorithmen der Suchmaschinen, deren Ergebnisse nach Referenzquantität und -qualität sortiert werden und die als Gatekeeper digitaler Öffentlichkeiten mitentscheiden, was und wer zu welchen Anteilen (Stichwort: Diversität) überhaupt erscheint. Gegenwarten entstehen durch Bezugnahmen, durch Reflexionen dieser Bezugnahmen sowie aus iterativen und zirkulierenden Referenzen. Die gegenwartsdiagnostischen Beobachtungen, worauf wie, wo und wie häufig Bezug genommen wird, einerseits, und was wie und zu welchem Anteil in der Gegenwart repräsentiert ist, andererseits, hängen eng zusammen.

Begriff und Metapher der ›Gegenwartsdiagnosen‹ bzw. der ›Zeitdiagnosen‹ wiederum sind ihrerseits historisch und theoretisch voraussetzungsreich. Sie werden in historisch wechselnden Konjunkturen gebraucht, stehen aber in spezifischer Kopplung zur jeweiligen Gegenwartskonzeption. Die Aushandlungsprozesse von dem, was in Gegenwart inkludiert werden soll, berühren neben grundsätzlichen Fragen der räumlichen Reichweite von Gegenwart auch soziale, Gender- und Diversity-Dimensionen. Selbstverständlich wirkt sich das auch auf die Präsenz der Gegenwartsliteratur in der Öffentlichkeit (und daher auch in der Literaturwissenschaft) aus sowie auf die Referenzen der Literatur und ihre literaturkritisch-öffentliche Beobachtung. Die Literatur wird seit geraumer Zeit da, wo über ihr Erscheinen in der Gegenwart entschieden wird, verstärkt an Kriterien gemessen,
die die Gegenwartsreferenz, ihre Authentifizierung (Recherche, biographische Betroffenheit), ihre Ethik und insbesondere ihre potentielle öffentliche Wirkung auf die Gegenwart betreffen. Und zugleich geraten basale Voraussetzungen literarischer und literaturwissenschaftlicher Kommunikation, zum Beispiel die Ontologien von Werk und Text oder auch die etablierte Funktionalität von Autorschaft unter den Vorzeichen digitaler Proliferation von Zeichen an ihre Grenzen.

Diese Reflexion, die der Literatur und ihrer Referenz auf Gegenwart nicht nur ein analytisches, gegenwartsdiagnostisches Potential, sondern vorrangig ein katalytisches Potential zur politischen Intervention und Veränderung der Gegenwart zuspricht, hat eine lange Geschichte. Die Frage, welche literarischen oder künstlerischen Gegenwartsreferenzen erlaubt oder verboten, geboten oder zu verurteilen seien, begleitet die literarischen Debatten seit jeher (Platon, Horaz), intensiviert sich aber seit dem Beginn der Herausbildung von moderner Öffentlichkeit und der Bildung der Reflexivkategorie ›Gegenwart‹ Ende des 18. Jahrhunderts. Die Genese moderner Öffentlichkeit und die des modernen Zeitkonzepts der Gegenwart fundieren sich wechselseitig. So wird selbstverständlich, dass sich öffentlichkeitsrelevantes Wissen jeweils auf den aktuellen Stand bezieht, auf ein spezifisches Hier und Jetzt, das mit einem möglichen Soll-Zustand verglichen werden kann. Zunehmend wird darauf reflektiert, dass die ›Gegenwart‹ selbst, die, seit dem 17. Jahrhundert verstärkte Aufmerksamkeit erfährt und seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als eigenständiger, sozial-ökonomischer, synchron-dynamischer und per definitionem unbeobachtbarer Zusammenhang gedacht wird, jeweils durch das konstituiert wird, was in ihr Gegenwart, also Präsenz, gewinnt. Die Diagnose der Polychronie, der Gleichzeitigkeit heterogener Zeiten und des räumlichen Übereinander von heterogenen Zeitschichten im Sinne Kosellecks, begleitet dabei die Reflexion der Moderne und ihre Ästhetiken seit spätestens um 1800.

Wenn gleichwohl eine explizite historische und konzeptuell-theoretische Reflexion von ›Gegenwart‹ erst seit Beginn des 21. Jahrhundert auf breiter Front eingesetzt hat und heute offenbar besonders dringlich erscheint, dann geschieht dies nicht ausschließlich, aber doch ganz wesentlich vor dem Hintergrund der digitalen Medienrevolution. Sie triggert und prämiert die Praktiken und die Reflexion der Beobachtung von Gegenwartsreferenzen, auf die wiederum re-referiert wird, so dass eine permanent und zunehmend instantan rückkoppelnde, sich selbst steigernde Potenzierung eintritt. In neuer Weise wird sichtbar, dass ›Gegenwart‹ durch Referenz auf Referenzen konstituiert wird, dass Prozesse und Praktiken der Referenzialisierung und ihrer selektiven Beobachtung ›Gegenwart‹ hervorbringen. Wenn seit fast drei Jahrzehnten Gegenwartsdiagnosen eine Veränderung des grundlegenden westlichen Zeitverständnisses feststellen, dann geschieht dies nicht zuletzt auf der Grundlage der Beobachtung eines medial, zeitlich und kulturell immer komplexer werdenden Referenzgefüges, das sich potenziert, verdichtet und verstärkt globale Gleichzeitigkeiten erzeugt.

Das Verhältnis von Gegenwart und Literatur in seinen historischen, theoretischen und praxeologischen Dimensionen als Verhältnisbildung und Verhältnisgeschichte zu verfolgen, das ist der hier darzulegende theoretische Einsatz, ist die notwendige Voraussetzung für das Verständnis des Begriffs der Gegenwartsliteratur. Ein theoretischer Einsatz, der zudem deutlich macht, wie sich im Gebrauch eines Begriffs theoretisch-epistemologische Prämissen, historische Konstellationen und (alltägliche) Praktiken zu einem Bündel verdichten und verknoten, das zum Verständnis unserer Sprachspiele verdient, entwirrt zu werden.

Literaturverzeichnis

GEITNER, Ursula: »Formulare der Indiskretion. Interview und Literaturwissenschaft«. In: Peter Plener, Niels Werber u. Burkhardt Wolf (Hg.): Das Formular. Berlin 2021, S. 197–214.

LANDWEHR, Achim: »Chronoferenzen«. In: Ders.: Diesseits der Geschichte. Für eine andere Historiographie. Göttingen 2020, S. 237–266.

LEHMANN, Johannes F.: »Gegenwartsliteratur historisieren – oder: Gegenwart versus Literatur (Angelika Meier zum Beispiel)« In: Frieder von Ammon u. Leonhard Herrmann
(Hg.): Gegenwartsliteraturforschung. Positionen – Probleme – Perspektiven. Göttingen 2020, S. 254–266.

LEHMANN, Johannes F.: »Visible/Unvisible Present«. In: Gabriele Genge, Ludger Schwarte u. Angela Stercken (Hg.): Aesthetic Temporalities Today. Present, Presentness, Re-
Presentation
. Bielefeld 2020, S. 39–56.

STÜSSEL, Kerstin: »Autorschaft und Autobiographik im kultur- und mediengeschichtlichen Wandel«. In: Ulrich Breuer u. Beatrice Sandberg (Hg.): Autobiographisches Schreiben
in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
. Bd. 1: Identität und Fiktionalität. München 
2006, S. 19–33.

STÜSSEL, Kerstin: »Gegenwartsliteraturforschung zwischen Praxisfaszination und content management-Analyse«. In: Frieder von Ammon u. Leonhard Herrmann (Hg.):
Gegenwartsliteraturforschung. Positionen – Probleme – Perspektiven. Göttingen 2020, S. 289–299.

  • 1. Informationen zum Forschungsprogramm des hier im Hinblick auf seinen literaturtheoretischen Einsatz zu skizzierenden DFG-Graduiertenkollegs »Gegenwart/Literatur. Geschichte, Theorie und Praxeologie eines Verhältnisses« sind abrufbar unter: »Forschungsprogramm«, Grk-gegenwart.uni-bonn.de, https://www.grk-gegenwart.uni-bonn.de/de/forschungsprogramm (zuletzt eingesehen am 31. Mai 2023).
  • 2. Vgl. Kerstin Stüssel: »Gegenwartsliteraturforschung zwischen Praxisfaszination und content management-Analyse«. In: Frieder von Ammon u. Leonhard Herrmann (Hg.): Gegenwartsliteraturforschung. Positionen – Probleme – Perspektiven. Göttingen 2020, S. 289–299.
  • 3. Vgl. Johannes F. Lehmann: »Gegenwartsliteratur historisieren – oder: Gegenwart versus Literatur (Angelika Meier zum Beispiel)« In: Frieder von Ammon u. Leonhard Herrmann (Hg.): Gegenwartsliteraturforschung. Positionen – Probleme – Perspektiven. Göttingen 2020, S. 254–266.
  • 4. Vgl. Ursula Geitner: »Formulare der Indiskretion. Interview und Literaturwissenschaft«. In: Peter Plener, Niels Werber u. Burkhardt Wolf (Hg.): Das Formular. Berlin 2021, S. 197–214.
  • 5. Vgl. hierzu Kerstin Stüssel: »Autorschaft und Autobiographik im kultur- und mediengeschichtlichen Wandel«. In: Ulrich Breuer u. Beatrice Sandberg (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. 1: Identität und Fiktionalität. München 2006, S. 19–33.
  • 6. Vgl. Johannes F. Lehmann: »Visible/Unvisible Present«. In: Gabriele Genge, Ludger Schwarte u. Angela Stercken (Hg.): Aesthetic Temporalities Today. Present, Presentness, Re-Presentation. Bielefeld 2000, S. 39–56.
  • 7. Achim Landwehr: »Chronoferenzen«. In: Ders.: Diesseits der Geschichte. Für eine andere Historiographie. Göttingen 2020, S. 237–266.

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