Digitales Journal für Philologie
Fehlendes Wahrheitsbemühen in literaturwissenschaftlichen Interpretationstexten
In der jüngst im Metzler-Verlag erschienenen Monografie Wie hast Du’s mit der Wahrheit? Über fehlendes Wahrheitsbemühen in literaturwissenschaftlichen Interpretationstexten beschäftige ich mich mit einem spezifischen Aspekt der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis. Ich argumentiere darin zentral für drei Thesen, die ich Praxis-, Erklärungs- und Bullshitthese nenne.1 In diesem Artikel stelle ich die Thesen in aller Kürze vor und erkläre, worin ich ihre Signifikanz sehe. Das sind die Thesen:
Praxisthese
Fehlendes Wahrheitsbemühen ist Teil der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis.
Erklärungsthese
Das fehlende Wahrheitsbemühen der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis muss in Teilen beabsichtigt sein.
Bullshitthese
Bei dem fehlenden Wahrheitsbemühen in der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis handelt es sich in Teilen um Bullshit im Sinne Harry G. Frankfurts.2
Zur Praxisthese
Für ein genaueres Verständnis der Praxisthese sind zunächst Erläuterungen zum Begriff des fehlenden Wahrheitsbemühens notwendig sowie zu dem der Interpretationspraxis. Daraufhin erkläre ich, wie für die These argumentiert wurde.
Fehlendes Wahrheitsbemühen mache ich in der Arbeit an inakzeptablen Begründungen fest. Man könnte deshalb ebenso gut vom fehlenden Begründungsbemühen sprechen. Es müssen akzeptable Gründe vorliegen, das Behauptete zu glauben. Fehlen diese Gründe, kann sich das Behauptete keinem Wahrheitsbemühen verdanken. ›Akzeptabilität‹ ist in der Arbeit als eine konsensuale Eigenschaft definiert: Ob eine Begründung für einen Satz akzeptabel ist, bestimmen also die Personen, die sich zur Akzeptabilität der Begründung äußern. Wenn ein Konsens zwischen ihnen besteht, ist die Begründung entweder akzeptabel oder inakzeptabel. Besteht kein Konsens, ist die Begründung hinsichtlich ihrer Akzeptabilität unbestimmt.
Die literaturwissenschaftliche Interpretationspraxis, von der die Praxisthese spricht, ist nicht als die Gesamtheit aller interpretativen Handlungen im Fach zu verstehen. In diesem weiten Sinne wäre die Praxisthese trivial. Denn selbstverständlich fehlt Wahrheitsbemühen dann und wann, wie auch andere Fehler passieren können. ›Praxis‹ ist in der These enger gefasst. Gemeint sind die regel- und konventionsbasierten Handlungen.3 Die These ist, dass fehlendes Wahrheitsbemühen eine Regel oder Konvention bezüglich literaturwissenschaftlicher Interpretationstexte ist.
Zur Begründung der Praxisthese analysiere ich in der Arbeit vier aktuelle literaturwissenschaftliche Interpretationstexte zu E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann. Diese Interpretationstexte sind einem kleinen Korpus aktueller Interpretationstexte zu diesem Werk Hoffmanns entnommen. Für jeden einzelnen Text argumentiere ich, dass das fehlende Wahrheitsbemühen in ihm nicht als Einzelfall erklärt werden kann. Das fehlende Wahrheitsbemühen ist ein Regelfall beziehungsweise eine Regel, weil der Text zu viele oder zu zentrale inakzeptabel begründete Thesen enthält. Auf Grundlage dieses, an einem kleinen Korpus gewonnenen, Befundes gehe ich davon aus, dass fehlendes Wahrheitsbemühen eine Regel der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis ist.
Ob die Praxisthese wahr ist, entscheidet erst die Diskussion der Arbeit. Die Leser*innen der Arbeit sind nicht allein aufgefordert, über die Thesen zu urteilen, ihre Urteile sind Teil der Wahrheitsbedingungen der Thesen. Das ist eine Konsequenz des konsensualen Verständnisses von Akzeptabilität. Erst wenn die in der Arbeit geäußerten Urteile zur fehlenden Akzeptabilität der Begründungen in den literaturwissenschaftlichen Interpretationstexten einen Konsens finden, kann die These wahr sein. Ohne die Urteile der Leser*innen sind die Thesen hinsichtlich ihres Wahrheitswertes unbestimmt.
Zur Erklärungsthese
Wenn die Praxisthese wahr ist, stellt sich die Frage, warum das so ist. Schließlich handelt es sich bei der Literaturwissenschaft um eine Wissenschaft, die, wie jede Wissenschaft, ein Bemühen um Wahrheit verlangt. Die Erklärungsthese gibt eine erste Antwort auf diese Frage. Allerdings ist diese Antwort eine abstrakte, die keine konkreten Gründe nennt.4 Die Erklärungsthese trifft eine Aussage darüber, was für eine Art von Erklärung die Frage verlangt: Das fehlende Wahrheitsbemühen muss zumindest in Teilen beabsichtigt oder motiviert sein. Das fehlende Wahrheitsbemühen ist zumindest in einigen Fällen eine Handlung, die eine rationale Erklärung verlangt. In der Arbeit argumentiere ich, dass das fehlende Wahrheitsbemühen in der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis beispielsweise nicht allein Unachtsamkeit geschuldet sein kann.
Zur Bullshitthese
Die dritte These greift auf Harry G. Frankfurts Bullshitbegriff zurück. ›Bullshit‹ ist ein Satz, der ohne Wahrheits- und Falschheitsbemühen hervorgebracht wird und dessen Sprecher die Absicht hat, das fehlende Wahrheitsbemühen zu verheimlichen. In der Arbeit argumentiere ich, dass ein Teil des fehlenden Wahrheitsbemühens in der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis auf diese Weise zu charakterisieren ist. Hierbei treffe ich keine Aussage über einzelne Sätze oder einzelne Interpretationstexte. Vielmehr ist die Behauptung, dass alle vier analysierten Interpretationstexte beziehungsweise die Interpretationspraxis insgesamt nicht frei von ›Bullshit‹ sind.
Zur Signifikanz
Wenn die Thesen wahr sind, kann die Frage Wie hast Du’s mit der Wahrheit? mit gutem Recht als Gretchenfrage der Literaturwissenschaft gelten. Sie zielt auf den Kern, das wissenschaftliche Selbstverständnis des Fachs. Hinterfragt wird die weitgehend unhinterfragte Annahme, dass sich literaturwissenschaftliche Interpret*innen stets um Wahrheit bemühen.
Man kann sich fragen, warum es nicht ausreicht festzustellen, ob und auf welche Weise die Sätze einer Interpretation begründet sind, wie es bisher in einer deskriptiv ausgerichteten literaturwissenschaftlichen Argumentationsforschung geschehen ist.5 Beziehungsweise: Genügt es nicht festzustellen, dass die Sätze inakzeptabel begründet sind, wie es eine stärker normativ ausgerichtete Forschung feststellte?6 Warum bedarf es zusätzlich der Frage nach dem Bemühen der handelnden Person? Reicht es nicht, das Produkt in den Blick zu nehmen? Warum müssen die Produzent*innen in den Blick? Die Frage nach dem Bemühen ist wichtig, weil wir mit ihr feststellen, ob wir mit unserem Gegenüber ›im selben Boot‹ sitzen. Rudern wir zusammen in ein und dieselbe Richtung oder in die entgegengesetzte Richtung und drehen uns im Kreis? Der Punkt ist: Wir haben unser Gegenüber fundamental missverstanden, wenn wir ihm den Willen unterstellen, sich um Wahrheit zu bemühen, dem aber nicht so ist. In ähnlicher Weise missverstehen wir jemanden, wenn wir Ironie überhören oder fiktionale Texte als Sachtexte auslegen. Wenn wir lediglich nach Gründen oder nach der Akzeptabilität von Gründen fragen, kommen wir dem Missverständnis nicht auf die Spur. Wie hast Du’s mit der Wahrheit? Über fehlendes Wahrheitsbemühen in literaturwissenschaftlichen Interpretationstexten ist der Versuch, dieses Missverständnis bezüglich literaturwissenschaftlicher Interpretationstexte aufzudecken.
Literaturverzeichnis
FRANKFURT, Harry G.: »On Bullshit«. In: Raritan Quarterly Review 6 (1986), S. 81–100.
GREWENDORF, Günther: Argumentation und Interpretation. Wissenschaftstheoretische Untersuchungen am Beispiel germanistischer Lyrikinterpretationen. Kronberg/Ts. 1975.
KINDT, Walther u. Siegfried J. Schmidt (Hg.): Interpretationsanalysen. Argumentationsstrukturen in literaturwissenschaftlichen Interpretationen. München 1976.
KLENNER, Niels: Wie hast Du’s mit der Wahrheit? Über fehlendes Wahrheitsbemühen in literaturwissenschaftlichen Interpretationstexten. Berlin 2023.
LAMARQUE, Peter: »Wittgenstein, Literature, and the Idea of a Practice«. In: British Journal of Aesthetics 50.4 (2010), S. 375–388. DOI: 10.1093/aesthj/ayq040.
SAVIGNY, Eike von: Argumentation in der Literaturwissenschaft. Wissenschaftstheoretische Untersuchungen zu Lyrikinterpretationen. München 1976.
SCHMIDT, Siegfried J.: Literaturwissenschaft als argumentierende Wissenschaft. München 1975.
WINKO, Simone: »Projektergebnisse«, https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/372804438/ergebnisse (zuletzt eingesehen am 07. Juli 2023).
- 1. Niels Klenner: Wie hast Du’s mit der Wahrheit? Über fehlendes Wahrheitsbemühen in literaturwissenschaftlichen Interpretationstexten. Berlin 2023.
- 2. Harry G. Frankfurt: »On Bullshit«. In: Raritan Quarterly Review 6 (1986), S. 81–100.
- 3. Auf einem solchen Verständnis bauen die Arbeiten von Peter Lamarque auf, vgl. etwa Lamarque: »Wittgenstein, Literature, and the Idea of a Practice«. In: British Journal of Aesthetics 50.4 (2010), S. 375–388. DOI: 10.1093/aesthj/ayq040.
- 4. Die konkreten Gründe spielen in der Arbeit gegenüber der Erklärungsthese eine untergeordnete Rolle. Gleichwohl präsentiere ich zwei wichtige Gründe, die das Handeln der Interpret*innen motivieren können, und veranschauliche diese an Beispielen aus den analysierten Interpretationstexten.
- 5. Vgl. etwa Günther Grewendorf: Argumentation und Interpretation. Wissenschaftstheoretische Untersuchungen am Beispiel germanistischer Lyrikinterpretationen. Kronberg/Ts. 1975 oder Eike von Savigny: Argumentation in der Literaturwissenschaft. Wissenschaftstheoretische Untersuchungen zu Lyrikinterpretationen. München 1976. Eine vergleichbare, unveröffentlichte Studie ist das DFG-Projekt Das Herstellen von Plausibilität in Interpretationstexten. Untersuchungen zur Argumentationspraxis in der Literaturwissenschaft unter der Leitung von Simone Winko (Simone Winko: »Projektergebnisse«, https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/372804438/ergebnisse, zuletzt eingesehen am 07. Juli 2023).
- 6. Vgl. etwa Siegfried J. Schmidt: Literaturwissenschaft als argumentierende Wissenschaft. München 1975 oder Walther Kindt und Siegfried J. Schmidt (Hg.): Interpretationsanalysen. Argumentationsstrukturen in literaturwissenschaftlichen Interpretationen. München 1976.
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