Nursan
Celik
Berlin

Was darf Fiktion?

Zu den Lizenzen der Fiktion aus literaturtheoretischer Perspektive

Gerichtliche Auseinandersetzungen mit literarischen Werken stellen für die Rechtspraxis keine Besonderheit dar. Wird eine literarische Veröffentlichung von einer Privatperson als persönlichkeitsrechtsverletzend wahrgenommen und zum Auslöser eines Rechtsfalls, dann kann trotz faktisch bestehender Kunstfreiheit Literatur zum unfreiwilligen Gegenstand des Rechts avancieren. Mithin bleibt es nicht bloß bei einer rechtlichen Vergegenständlichung einzelner Werke der Literatur: Manche Fälle münden gar in einem Veröffentlichungs- respektive Distributionsverbot des jeweiligen literarischen Gegenstandes. 

Lenkt man den Blick konkret auf den bundesdeutschen Rechtsraum, so lassen sich Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) und allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1 GG bzw. Art. 1 Abs. 1 GG in direkter Anwendung) als gleichermaßen grundrechtliche Rechtsgüter feststellen. Intrikat wird es, wenn zwischen diesen beiden Rechtsgütern eine Kollisionssituation entsteht, die rechtlich aufgelöst werden muss. Das ist etwa immer dann der Fall, wenn gegen die Veröffentlichung beziehungsweise die weitere Verbreitung eines literarischen Werkes geklagt wird, weil der Vorwurf der Persönlichkeitsrechtsverletzung Dritter im Raum steht. In prominenter Form ereignete sich dies in der Causa Esra: 2003 zog die Ex-Partnerin des Autors Maxim Biller gegen diesen und den Verlag Kiepenheuer & Witsch vor Gericht, da sie sich in dem im selben Jahr erschienenen Roman Esra porträtiert, in ihrer Intimsphäre verletzt und in ihrem Persönlichkeitsrecht insgesamt in einem starken Ausmaß angegriffen sah. Es folgte ein Romanverbot, das sich zum Auslöser eines langjährigen Rechtsstreits entwickelte, der erst 2007 höchstrichterlich mit der Verbotsbestätigung durch das Bundesverfassungsgericht beendet werden konnte. 

Ist der Fall Esra mit der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung einerseits juristisch abgeschlossen, hallen andererseits die Kontroversen um diesen Präzedenzfall in literaturtheoretischer Hinsicht noch stark nach. Das ist weniger darauf zurückzuführen, dass das Esra-Verbot als Exempel dafür dient, dass auch die Kunstfreiheit nicht schrankenlos gilt und im Falle einer Konfliktlage durchaus auch hinter ein anderes Grundrecht zurückzutreten hat. Die eigentliche Brisanz liegt woanders: Bei Esra handelt es sich nicht nur um ein literarisches Kunstwerk, sondern – und das ist der entscheidende Knackpunkt – dezidiert um einen fiktionalen Text. Die für diesen Zusammenhang nicht nur literaturtheoretisch interessante Frage, die die New-York-Times-Journalistin Laura Cappelle 2020 in Bezug auf einen ähnlich gearteten Fall, namentlich den Roman Yoga von Emmanuel Carrère, stellte, lautet daher: »If It’s Fiction, Can It Be an Invasion of Privacy?«1 Einer weit verbreiteten Annahme zufolge ist der Diskursbereich der Fiktion nämlich als ein gänzlich anderer als der realweltliche zu begreifen. Infolgedessen heißt es oft, dass Fiktionen nicht justiziabel seien und Literatur beziehungsweise Kunst im Allgemeinen aufgrund ihres Fiktionsstatus über besondere Lizenzen verfüge.

Am Münsteraner Sonderforschungsbereich 1385 Recht und Literatur wurde der Frage nach den Lizenzen der Fiktion im Rahmen des Teilprojekts A01 »Deutungshoheit über Texte – Recht und Literatur im Streit um gerichtliche Zensur« unter der Leitung von Prof. Dr. Eric Achermann (Germanistik), Prof. Dr. Fabian Wittreck (Rechtswissenschaft) und Prof. Dr. Thomas Gutmann (Rechtsphilosophie) von Januar 2020 bis Juni 2023 nachgegangen.2 Die literaturwissenschaftliche Dissertation, die aus diesem Projekt hervorging, trägt den Titel »Das Recht der Fiktion. Zu den Lizenzen und juristischen Implikationen fiktionalen Schreibens« und erscheint demnächst in der Reihe »Theorema. Literaturtheorie, Methodologie, Ästhetik« beim Verlag J. B. Metzler. 

Den Ausgangspunkt des Dissertationsprojekts stellt das intrikate Verhältnis zwischen allgemeinem Persönlichkeitsrecht und Kunstfreiheit dar, genauer: die oben aufgeworfene Frage nach der Möglichkeit einer Persönlichkeitsrechtsverletzung durch fiktionale literarische Texte. Denn die Rechtsprechung zeigte beim Romanverbot von Billers Esra eine beachtliche Unsicherheit und nicht selten eine argumentative Widersprüchlichkeit im Umgang mit dem Konzept ›Fiktion‹ beziehungsweise ›Fiktionalität‹. Bei näherer Betrachtung erweist sich dieses jedoch selbst schon als konturarm, und zwar unabhängig davon, ob die Diskussion in der Rechtspraxis/-wissenschaft oder aber in der Literaturwissenschaft stattfindet. Aus diesem Grund untersucht die Dissertationsschrift die Leistungsfähigkeit fiktionstheoretischer Überlegungen und ihrer referenztheoretischen Implikationen, um die Frage zu beantworten, ob und inwiefern fiktionale Texte tatsächlich Persönlichkeitsrechte verletzen können. Dies setzt die Erörterung einiger zentraler Fragen voraus: Welche Fiktionalitätskonzepte kursieren im gegenwärtigen Forschungsdiskurs? Aus welchen Gründen kann ein bestimmtes Fiktionsverständnis Geltung beanspruchen? Welche juristischen Folgen sind je nach konkretem Fiktions- und Fiktionalitätsansatz abzusehen?

Um diesen und benachbarten Fragen nachgehen zu können, werden im ersten Schritt unterschiedliche Fiktionstheorien, die in der Literaturtheorie kursieren, auf ihre Plausibilität hin überprüft. Hierbei werden im Wesentlichen vier mögliche Zugriffsweisen festgestellt, namentlich eine produktions-, eine produkt-, eine rezeptionsorientierte sowie schließlich eine institutionell ausgerichtete.3 Die produktionsorientierte Fiktionstheorie4 geht von der Grundannahme aus, dass die Deutungshoheit hinsichtlich der Frage nach Fiktionalität, oder eben Nicht-Fiktionalität, maßgeblich bei der jeweiligen Autorin oder dem jeweiligen Autor liegt. Diesem Ansatz zufolge ist vornehmlich die Autorintention, einen fiktionalen Text zu produzieren, konstitutiv für den Fiktionsstatus. Zu diesem Zweig der Fiktionsforschung gehören allen voran die einflussreichen sprechakttheoretischen Fiktionsansätze (u. a. John R. Searle), die ausgehend von der besonderen Kommunikationssituation und vom Standpunkt der Autorinstanz gesehen fiktionale Texte als nicht-behauptende Texte (nicht-assertorische Sprechakte) verstehen. 

Eine andere Herangehensweise bieten produktorientierte5 Theorien, die Fiktionalität als eine ausschließlich auf der Textebene stattfindende Eigenschaft verorten und in diesem Zusammenhang beispielsweise auf die Nichtreferenzialisierbarkeit respektive Fiktivität der jeweils dargestellten Inhalte und Figuren verweisen. Hierunter zählen primär narratologische Fiktionstheorien, die unter anderem die Introspektion Dritter, psychonarrative Erzählverfahren, das historische Präsens und so weiter sowie auch paratextuelle Hinweise als fiktionskonstitutiv auffassen. 

Eine weitere Möglichkeit, den Fiktionsstatus eines Textes zu bestimmen, findet sich bei rezeptionsorientierten Fiktionstheorien (u. a. Kendall Walton), die die Rezipientenrolle zentral setzen und entsprechend die Frage, ob ein Text als Fiktion zu beurteilen ist oder nicht, von der Einstellung und Entscheidung der Leserschaft abhängig machen. 

Die institutionellen Ansätze schließlich, die zugleich die jüngsten darstellen und wesentlich auf Peter Lamarque und Stein Haugom Olsen zurückgehen,6 bestimmen Fiktion als eine regelgeleitete soziale Praxis, derzufolge ein Text (beziehungsweise Medium) immer dann ein fiktionaler sei, wenn dieser von der Autorin oder dem Autor als solcher intendiert und gemäß den Regeln der Fiktionspraxis rezipiert werde. 

Mit Blick auf die zentrale Fragestellung der Dissertation wird im Wesentlichen für ein sprechakttheoretisches Fiktionsverständnis argumentiert, da ein solches Fiktionalität in intentionalen Kommunikationszusammenhängen verortet. Nachdem im ersten Teil der Studie dargelegt wird, weshalb die Sprechakttheorie auch für Rechtsfälle mit literarisch-fiktionalen Gegenständen weiterführend ist, werden anschließend anhand des Präzedenzfalls Esra zwei konkrete Diskursthemen und Dichotomien ausgemacht, die sowohl in den Prozessen als auch in der außerjuristischen Begleitdebatte mehrfach mit dem Fiktionsbegriff verbunden wurden: So hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Esra-Beschluss zum einen wiederholt die Vorstellung einer fiktionseigenen »ästhetische[n] Realität«7 verlautbart und damit den Topos von der Trennbarkeit von Fiktion und Wirklichkeit reproduziert. Zum anderen findet sich begleitend hierzu immer wieder die Vorstellung einer Gegensätzlichkeit zwischen Fiktion und Wahrheit – eine Annahme, die sich bei genauerer Betrachtung ebenfalls als defizitär erweist. 

Anhand einzelner fiktional-literarischer Beispiele wird mit der Dissertationsschrift nachgewiesen, dass das allzu oft formulierte Eigenständigkeitspostulat fiktiver Wirklichkeiten und damit zusammenhängend die Unmöglichkeit von Wahrheit in der Fiktion nicht zutrifft. Entgegen der gerichtlichen Überzeugung, wonach Realreferenzen den fiktionalen Status eines Textes fragwürdig erscheinen lassen, kann vielmehr ein enges Verhältnis zwischen Fiktionalität und Referenzialität bestimmt werden. Die Dissertation kommt zu dem Ergebnis, dass ›Fiktion‹ nicht einfach als gegensätzlicher Begriff zu ›Wirklichkeit‹ oder ›Wahrheit‹ aufgefasst werden kann, sondern fiktionale Texte in hohem Maße auf Wirklichkeit referieren und unterschiedliche Formen von Wahrheit beinhalten können. Dies gilt es, so das Plädoyer der Untersuchung, bei zukünftigen Literatur-vor-Gericht-Fällen stärker für die Urteilsfindung zu berücksichtigen.

Literaturverzeichnis

Beschreibung des Teilprojekts A01, SFB 1385 Recht und Literatur. https://www.uni-muenster.de/SFB1385/projektbereicha/teilprojekta01/index.html (zuletzt eingesehen am 10. Mai 2023).

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT. Beschluss des ersten Senats vom 13. Juni 2007 - 1 BvR 1783/05. In: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Bd. 119. Tübingen 2008, S. 1–59.

CAPPELLE, Laura: »If It’s Fiction, Can It Be an Invasion of Privacy?« In: New York Times Online vom 13. Dezember 2020 (aktualisierte Version). https://www.nytimes.com/2020/12/05/books/emmanuel-carrere-yoga-helene-devynck-france.html (zuletzt eingesehen am 10. Mai 2023).

HAMBURGER, Käte: Die Logik der Dichtung. 4. Aufl. Stuttgart 1994.

KLAUSNITZER, Ralf: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin 2008.

LAMARQUE, Peter u. Stein Haugom Olsen: Truth, Fiction, and Literature: A Philosophical Perspective. Oxford 1994.

SEARLE, John R.: »The Logical Status of Fictional Discourse«. In: New Literary History 6.2 (1975), S. 319–332.

  • 1. Laura Cappelle: »If It’s Fiction, Can It Be an Invasion of Privacy?«. In: New York Times Online vom 13. Dezember 2020 (aktualisierte Version). https://www.nytimes.com/2020/12/05/books/emmanuel-carrere-yoga-helene-de... (zuletzt eingesehen am 10. Mai 2023).
  • 2. Nähere Informationen zum Teilprojekt finden sich unter https://www.uni-muenster.de/SFB1385/projektbereicha/teilprojekta01/index... (zuletzt eingesehen am 10. Mai 2023).
  • 3. Vgl. zu dieser Einteilung unter anderem Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin 2008, S. 218.
  • 4. Vgl. etwa John R. Searle: »The Logical Status of Fictional Discourse«. In: New Literary History 6.2 (1975), S. 319–332.
  • 5. Hier einordnen lässt sich u. a. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. 4. Aufl. Stuttgart 1994.
  • 6. Vgl. insbesondere Peter Lamarque u. Stein Haugom Olsen: Truth, Fiction, and Literature: A Philosophical Perspective. Oxford 1994.
  • 7. BVerfGE 119, 1.

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