Wie verändern wir uns, wenn wir uns in sozialen Netzwerken präsentieren oder tagelang als Jäger durch ›die gnadenlose, unberührte Welt‹ von World of Warcraft streifen? Ich meinerseits war Bundesligatrainer, Städteplaner und Peitschen schwingender Archäologe. Sicherlich ist nichts davon wahr. Aber wäre es nicht ebenso falsch zu bestreiten, dass wir in digitalen Medien tatsächlich handeln? Eine solche Behauptung ist zweifellos umstritten. Sie gibt hier vorerst nur derjenigen Intuition Ausdruck, die mein Aufsatz zum Anlass nimmt, über den Zusammenhang von virtuellen Handlungen und Subjektivität nachzudenken. Meine Hypothese ist, dass digitale Medien uns vor einen kategorialen Umbruch stellen. Während wir vorher mit Medien gehandelt haben, vermögen wir nun in Medien zu handeln. Was das bedeutet, ist das Rätsel des Virtuellen.
Um dieses Rätsel besser zu fassen, können wir mit einer bildhaften Parallele beginnen: Wer ein Gemälde von einem Regenschirm über den Kopf hält, wenn es regnet, hat die Differenz des Gegenstands Bild mit dem Gegenstand Regenschirm womöglich nicht verstanden. Zwar kann man ein Bild über den Kopf halten, um sich vor Regen zu schützen. Das Bild selbst ist aber kein Regenschirm, es verweist auf ihn. Ein Medium, so will ich hier ganz allgemein festhalten, ist nichts anderes als ein Zusammenhang von materialen Gegenständen, der auf der Basis seiner symbolischen Strukturierung auf andere Gegenstände verweist, wenn wir ihn entsprechend zu verstehen vermögen. Medien sind so zwar selbst materiale Gegenstände unserer Praktiken, aber sie sind es auf einer anderen Ebene als die Gegenstände, auf die sie verweisen und mit denen wir handeln. Ihre Funktion, etwas zu artikulieren, beruht konstitutiv auf der Differenz zur Praxis, die sie artikulieren. Man kann diese Einsicht als den logischen Ort medialer Differenz bezeichnen. Was ein Medium darum an Handlungen zeigt, muss stets entweder noch geschehen, ist schon passiert, soll nicht oder kann unmöglich stattfinden; in allen Fällen verbürgt die Darstellung der Handlung offensichtlich nicht, dass die Handlung auch geschehen ist. Mit einer landläufigen Redewendung würde man vielleicht sagen: Man kann viel reden, wenn der Tag lang ist. Aus der Tatsache, dass jemand sagt, was er tun wird, folgt eben nicht, dass er auch tut, was er sagt. Inwiefern ist das in digitalen Medien aber anders? Wer in einem Game eine Bank überfällt, hat deswegen keine Bank überfallen. Aber hat eine Spielerin das Game ebenso falsch benutzt, wenn sie sagt, sie hätte eine Bank überfallen, wie jemand das Bild des Regenschirms falsch benutzt, wenn er es als Regenschirm bezeichnet und über den Kopf hält? Gewiss nicht. Im Rahmen des Spiels bedeutet die Darstellung der Handlung nichts anderes als den Vollzug der dargestellten Handlung. Man könnte es auch so sagen: Der Rahmen des Bildes schließt den Betrachter von seiner Darstellung aus, der Rahmen des Spiels schließt ihn ein. Es wird im Medium gehandelt. Nichts anderes wollte ich bis hierhin sagen. Die Frage, die das Rätsel des Virtuellen stellt, lässt sich darum auch so formulieren: Was ist eine Handlung, die zugleich in einer medialen Differenz zur alltäglichen Praxis steht, oder knapper: Was ist medialisiertes Handeln? In welchem Zusammenhang steht es mit uns als Subjekten, die normalerweise nicht in Medien handeln?
Ich möchte in diesem Aufsatz eine Antwort auf diese Frage geben, von der ich denke, dass sie unser Nachdenken über Handlungen in digitalen Medien bestimmen sollte. Diese Antwort ist trivial, aber ihre Konsequenzen scheinen mir bemerkenswert. Sie lautet: Wenn wir virtuell handeln, handeln wir als Figuren. Die Figurierung von Handlungen ist nach meiner Auffassung das ästhetische Grundprinzip der Theatralität. Wenn ich eingangs also gesagt habe, dass digitale Medien uns vor einen kategorialen Umbruch stellen, so muss ich dies nun präzisieren: Handlungen in digitalen Medien basieren maßgeblich auf einer Kategorie, die zu den ältesten der Menschheitsgeschichte gehört. Digitale Medien realisieren Theatralität. Sie tun dies allerdings, so behaupte ich, in einer bisher nie dagewesenen Weise; das ist der Umbruch, der sich mit ihnen vollzieht. Mein Text stellt sich somit die Aufgabe, eine Bestimmung virtuellen Handelns zu leisten, die er zugleich als Weiterbestimmung von Theatralität begreift. Es ist die Virtualität digitalen Handelns, von der ich denke, dass sie uns auch etwas über die ästhetische Kategorie der Theatralität sagen kann. In nuce wird meine These am Ende so lauten: Digitale Medien versetzen uns in die Lage zu handeln und dieses Handeln gleichzeitig als ein ästhetisches Zeichen zu distanzieren. Damit wird unser Handeln in digitalen Medien, um nun den Bogen zum Anfang zu spannen, einem Bild eines Regenschirms ähnlicher als der alltäglichen Handlung, die wir vermeintlich vollziehen. Das ist das Bemerkenswerte; denn Handlungen, die zugleich Zeichen sind, müssen auch als Zeichen verstanden werden. Werden sie es nicht, drohen ernsthafte Konsequenzen. Wie sie zu vermeiden sein könnten, dazu möchte ich im Folgenden einen Vorschlag machen.
Ich werde meinen Gedankengang in vier Schritten entwickeln: Zuerst möchte ich eine heute gängige und, wie mir scheint, problematische Position der Subjekttheorie vorstellen, anhand derer sich das Rätsel des Virtuellen besonders plastisch aufzeigen lässt (1). Die amphibische Realität virtuellen Handelns, die die vorgestellte Subjekttheorie zu Problemen führt, entfalte ich in einem kurzen, narrativen Zwischenteil (2). Daraufhin analysiere ich das Rätsel des Virtuellen noch einmal genauer, indem ich es von einigen irreführenden Versuchen abgrenze, den Handlungscharakter des Virtuellen zu bestreiten (3). In einem letzten Schritt führe ich den Begriff der Theatralität als Lösungsvorschlag ein, um ihn im Austausch mit digitalen Medien zugleich weiter zu konturieren (4). Ich ende mit einigen zusammenfassenden Bemerkungen und Konsequenzen, die sich meines Erachtens aus den vorgestellten Überlegungen ergeben (5).
1. Virtuelle Selbste
Das Ziel meines Textes ist es, besser zu verstehen, was wir in digitalen Medien tun und in welchem Verhältnis dieses Tun zu uns als Subjekten steht. So gesehen, geht es mir also nur indirekt um die Theorie des Subjekts. Allerdings führt die Debatte um den Zusammenhang von Medien und Subjektivität unweigerlich mitten hinein in die Frage dessen, was ein Subjekt sei. Wer etwas zu der einen Seite sagt, geht damit implizit auch eine Festlegung in Bezug auf die andere Seite ein. Diesen Zusammenhang möchte ich nun kurz ausführen. Der Begriff des Subjekts stellt aus philosophischer Perspektive eine offene Frage: Braucht es ihn, um zu verstehen, was wir selbst sind? Es ist vor dem Hintergrund dieser Frage leicht zu sehen, warum der Begriff großen Konjunkturen ausgesetzt ist: In vielfacher Weise wurde behauptet, dass Selbstheit auf der Basis von anderen Strukturen erläutert werden kann, wie biologischen Prozessen oder dem Wirken kultureller Diskurse. In beiden Fällen wird Subjektivität so nicht als eigenständige Größe verstanden, sondern als ein Produkt von Prozessen, die sich mit anderen Begriffen erläutern lassen. Kulturalistische und naturalistische Theorien teilen dabei, trotz aller Gegensätzlichkeit ihrer Intentionen, eine Grundprämisse: Subjektivität gilt ihnen als Form, die sich in Medien konstituiert, und die entsprechend durch mediale Begriffe ersetzt werden kann. Wer also zum Beispiel Subjektivität als eine historische Gestalt untersucht, die sich etwa von der Aufklärung bis in unsere Zeit maßgeblich entwickelt habe, impliziert möglicherweise schon eine starke These zum sekundären Status des Subjektbegriffs. Die Frage, die sich im Zusammenhang von Medien und Subjektivität stellt, lautet darum letztlich, ob man auf den Begriff des Subjekts im Sinne der eben dargestellten Theorien verzichten kann.
Ich bin nun der Meinung, dass man den Begriff des Subjekts nicht vorschnell über Bord werfen sollte. Wer nämlich Subjektivität so erläutert, dass es mediale Formen sind, die sie konstituieren, handelt sich spätestens im Kontext ästhetischer Medien ein Problem ein. Dieses Problem besteht darin, dass sich Subjekt und mediale Figur entdifferenzieren. Warum das so ist, lässt sich leicht einsehen: Mit der Idee, dass Subjektivität als eine diskursive Form verstanden werden kann, will man genau die Idee verabschieden, Subjekte seien von sich aus bestimmende Momente in unserer Lebensform. Vielmehr begreift man das Subjekt als in seiner Freiheit mindestens so eingeschränkt wie eine Figurenrolle, die vom Diskurs und medialen Formen bestimmt ist, die zwar je anders auf- oder ausgeführt werden können, allerdings eben nur »innerhalb der Grenzen bereits gegebener Anweisungen«, wie Judith Butler es einmal ausgedrückt hat.
Die Entdifferenzierung von Subjekt und Figur wird nun zwar von Seiten der ästhetischen Wissenschaften aus guten Gründen begrüßt. So hat sie zum Beispiel in Bezug auf die Frage der Autobiographie geholfen, das Paradigma in Frage zu stellen, demzufolge autobiographische Texte Subjekte repräsentieren würden. Vielmehr sei es gerade umgekehrt so, dass Autobiographien von der Logik des Texts zu begreifen und darin referierte Subjekte entsprechend von der Struktur fiktiver Figurengestaltung zu verstehen seien. Daraus aber abzuleiten, dass die Struktur von Subjektivität insgesamt in Analogie zur Struktur ästhetischer Figurationen zu erläutern sei, ist ein hastiger Schluss. Er wird aber, wie mir scheint, gerade heute immer wieder und oft implizit gezogen. Statt dass er zu weiteren Klärungen Anlass gibt, führt er zu Verwirrung. Insbesondere drohen wir, die Unterscheidung zwischen realen Subjekten und fiktiven Figuren insgesamt zu verlieren. Was aus der Perspektive der Autobiographieforschung produktiv ist, führt so in der Subjekttheorie zu einem gleichermaßen epistemischen wie praktischen Problem: Wie unterscheiden wir zwischen einem Subjekt und seiner Fiktion? Im Falle von digitalen Medien zeigt sich dieses Problem besonders anschaulich. Dies möchte ich nun ausführen. Ich ziehe dazu zwei gegenwärtige Subjekttheorien naturalistischer Prägung hinzu, die ich im Sinne meiner obigen Bemerkungen als paradigmatisch begreife. In ihrem Setting möchte ich zeigen, wie eine Medientheorie der Subjektivität begriffliche Schwierigkeiten im Spannungsfeld von Realität, Virtualität und Fiktion mit sich bringt.
Das Selbst ist fiktiv, so fasst der amerikanische Philosoph Daniel Dennett seine Theorie der Subjektivität zusammen: Als naturalistisch orientierter Denker gelten ihm Natur, Welt und in ihr prozessierende Organismen als primär. Sie sind allesamt Phänomene, die sich als naturwissenschaftliche Fakten objektivieren und in entsprechenden, beobachterneutralen Kategorien erforschen lassen. Subjektivität ist demgegenüber gerade durch keine objektive Tatsache verbürgt, außer dadurch, so könnte man die Pointe Dennetts lakonisch fassen, dass von ihr permanent gesprochen wird. Es gibt kein Faktum, das mit dem Selbst korreliert, keinen Ort im Gehirn, an dem es säße, genauso wie »niemand je einen physikalischen Schwerpunkt gesehen hat oder ihn je sehen wird«. Dennoch können wir von der fiktiven Abstraktion eines Selbst sprechen, ihm Handlungen zuschreiben und seine Geschichte interpretieren. Sein Ursprung ist im Faktum der Sprache, in der Wesen wie wir über uns sprechen, als ob sie ein Selbst hätten. Also, schließt Dennett, muss der Ort der Subjektivität nicht in der Ordnung der Dinge, sondern im Diskurs der Erzählungen zu finden sein. Man kann diese Überlegung als Basisargument einer Narrationstheorie des Selbst betrachten. Ihr Kerngedanke lautet also, dass wir das Subjekt als eine wesentlich durch Medien konstituierte Struktur begreifen, die aus natürlichen Organismen Personen macht. Es gibt kein Selbst, aber es gibt eine Struktur medialer Artikulationen, die unter anderem auf sich selbst referiert und so die Illusion eines handelnden Akteurs erzeugt. In Bezug auf unsere Fragestellung zum Zusammenhang von Medien und Subjekten handelt es sich um eine radikale Theorie. Radikal ist sie, weil sie von der Möglichkeit von Medien, Fiktionen zu gestalten, insgesamt auf die Fiktivität des Selbst schließt. Für Dennett ist Selbstheit so grundlegend virtuell. Mit Blick auf das Subjekt ist alles Fiktion, sodass aus unserer subjektiven Perspektive schlechthin alles als Simulation verstanden werden muss. Zwar geht Dennett davon aus, dass sich die Geschichten, die wir über uns erzählen, in Auseinandersetzung mit unseren Erfahrungen und Handlungen in der Welt konstituieren. In diesem Sinne ist sich Dennett natürlich bewusst, dass es Sherlock Holmes nicht gibt, sehr wohl aber Daniel Dennett. Er beschreibt den Prozess der Gewinnung eines Selbst in Analogie zu einem Roboter, in dem verschiedene Programme ablaufen. Der Roboter hat kein Selbst, aber er hat ein Modul, das fortlaufend über seine Handlungen erzählt und so die Illusion eines beständigen Selbst schafft. Retrospektiv jedoch erweist sich so die Fiktion als real mit Blick auf Handlungen, die kohärent zur Erzählung sind. Eine Fiktion wie Sherlock Holmes, der gar keine solchen Fakten korrespondieren, wäre demgegenüber rein negativ darüber definiert, dass sie schlicht nicht real ist.
Die Dennett’sche Theorie wirft eine Menge Fragen auf, die an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden sollen. Das für uns wesentliche Zwischenfazit lautet: Eine radikale Medientheorie der Subjektivität kennt das Virtuelle nur in einer negativen Definition: Es ist das, was mit keiner Realität korrespondiert. Dagegen ist das reale Selbst diejenige Struktur, in der Erzählungen sich im Fortlauf von Handlungen zunehmend konkretisieren. Da das Selbst und die Deutung seiner Handlungen aber letztlich der Ordnung fiktionaler Erzählung gehorchen, ist eine permanente Umschreibung und Umdeutung seiner selbst möglich. Es gibt keine eindeutige Beziehung zwischen den Handlungen des Roboters und seinem Selbstbild, sondern alles hängt letztlich von den fiktionalen Gestaltungen ab. So stellt Dennett uns am Ende nur einen ebenso umfassenden wie wirren Begriff der Virtualität zur Verfügung: die Fiktion der Realität von handelnden Selbsten, die es tatsächlich nicht gibt. Dennetts Theorie birgt einen seltsamen Gedanken: Erzählungen konstituieren das Selbst direkt. Wie immer das Selbst erzählt wird, so ist es auch. Explizit schließt Dennett denn auch die Möglichkeit nicht aus, dass sich in einer Person mehrere parallel existierende Selbste entwickeln. Er verweist auf pathologische Fälle wie diejenigen der multiplen Persönlichkeitsstörung, die nur in extremis zeigen würden, was alltäglich der Fall ist: Wir erzählen uns selbst, um der Vielzahl von parallel in uns ablaufenden Prozessen, Emotionen und damit verbundenen Aktivitäten den Sinn einer kohärenten Geschichte zu geben, die im Falle von traumatischen Erlebnissen eben auch in mehrere Geschichten auseinanderbrechen könne.
Die Behauptung, dass es zwischen der Erfindung von Figuren in fiktiven Texten und Subjekten letztlich gar keine Differenz gibt, klingt nun äußerst kontraintuitiv, findet auch David Velleman, der sich direkt auf Dennetts Überlegungen bezieht. Vielmehr würden gerade die von Dennett aufgegriffenen Beispiele etwas anderes nahelegen: Eine Person, die an einer multiplen Persönlichkeitsstörung erkrankt ist, reduziere sich gerade nicht auf ihre Erzählung von anderen Selbsten. Vielmehr würde jeder Wechsel innerhalb der parallel existierenden Selbste auch dazu führen, dass die Person anders handelt, einen anderen Habitus an den Tag legt und sich anders ausdrückt. Offensichtlich, argumentiert Velleman, hat die Erzählung auch einen direkten Einfluss auf Handlungen; sie bezieht sich nicht nur im Nachhinein und offen auf sie, wie Dennett es suggeriert, sondern je schon im Voraus und bindend. Wenn Dennetts Roboter nämlich von sich sagt, dass er in die Bibliothek gehen werde, dann müsse er, um der Kohärenz seiner Erzählung willen, auch in die Bibliothek gehen. Vellemans Punkt ist folgereich: Während Dennett behauptet, dass das Selbst letztlich keine Objektivität in der naturalen Welt hat, sondern nur indirekt in den Fiktionen von Medien besteht, geht Velleman davon aus, dass der Selbstbezug innerhalb narrativer Formen eine eigene Objektivität zweiter Stufe konstituiert: Die Objektivität von subjektiven Handlungen. Velleman kann so seiner Meinung nach zwei Perspektiven versöhnen: Die Idee, dass Subjekte wesentlich von natürlichen Prozessen her bestimmt sind, mit der Idee, dass sie innerhalb dieser Bestimmung eine bestimmte Eigenständigkeit und Kontrolle über ihr Handeln gewinnen können. Im Gegensatz zu Dennett kann man mit ihm so in einer moderaten Weise von einem autonomen Selbst sprechen. Wiederum braucht uns an der Stelle nicht weiter zu interessieren, ob eine solche Konzeption von subjektiver Autonomie uns letztlich überzeugt. Stattdessen will ich von neuem fragen, was Vellemans Argumente für das Spannungsfeld von Realität, Fiktion und Virtualität bedeuten.
Tatsächlich haben wir nun eine weitere Bestimmung gewonnen, die vorhin nur negativ zu ermitteln war. Es gilt nun nämlich, dass das Selbst zwar insofern eine fiktive Entität ist, als ihm kein objektives natürliches Faktum entspricht. Gleichzeitig vermag sich das Selbst aber auch zu prägen, indem es sich auf zukünftige Handlungen bezieht, die es innerhalb verschiedener möglicher Prozesse auswählt. Handlungsfähigkeit ist so mehr als eine Fiktion, weil die Forderung nach interner Kohärenz der Erzählung und der Vollzug einer dazu passenden Handlung subjektive Realität herstellt. Velleman nennt das Selbst entsprechend sowohl fiktiv wie auch faktual. Dabei greift er auf eine weitere Analogie zurück: Die Konstitution des Selbst sei vergleichbar mit der Leistung eines Improvisationsschauspielers, der allerdings keinen fiktiven Charakter, sondern sich selbst spiele. In der Improvisation ginge es darum, seine Motive und Handlungen stets in einer Weise miteinander abzustimmen und zu präsentieren, dass sich für andere und ihn selbst ein kohärentes Bild einer handelnden Person ergebe. Die Konstruktion, die Velleman vor Augen hat, ist nun das, was man als eine gemäßigte Medientheorie der Subjektivität bezeichnen kann. Es sind mediale Formen, die uns zur Verfügung stehen, innerhalb derer wir uns als Handelnde konstituieren und vor anderen präsentieren. Unser Selbst entsteht, weil wir durch mediale Formen auf uns selbst als Handelnde Bezug nehmen – und entsprechend handeln. Eine Medientheorie der Subjektivität geht also in ein performatives Konzept der Subjektivität über, weil nur die Bedingung einer performativen Realisierung von medialen Formangeboten eine sinnvolle Differenz zwischen fiktionalen Erzählungen und realen Subjekten zu ziehen erlaubt.
Wie Velleman festhält, erlaubt erst diese Konzeption, darüber nachzudenken, wie wir auch Dinge erzählen, die wir nicht handelnd verwirklichen. Ein Phänomen wie Willensschwäche beruhe genau auf der Diskrepanz zwischen einer angekündigten Handlung und der Tatsache, dass sie nicht erfolgt. Genau dieser Bezug war bei Dennett nicht greifbar, da Selbsterzählung und Handlung letztlich voneinander isoliert und unabhängig erläutert wurden. Vellemans Konzeption ermöglicht uns nun vor allem, Virtualität in einer positiven Weise zu bestimmen: Sie ist die Fiktion von Handlungen, die nicht mit realen Performanzen übereinstimmen. Das heißt positiv: Es gibt die Möglichkeit, dass wir uns Handlungen vorstellen oder erzählen, die wir nicht vollziehen. Damit eröffnet sich im Gegensatz zu Dennetts pauschalem Bild einer gesamten Fiktion der Subjektivität die Idee von Virtualität als Imaginärem: Sie ist der Raum, in dem wir die Fähigkeit des Erzählens nutzen, um uns andere Möglichkeiten von Handlungen und Situationen vorzustellen.
Wir sind damit an einem entscheidenden Punkt angekommen, der in den Debatten um Subjektivität, wie sie in der Gegenwart geführt werden, von weitreichender Konsequenz ist. Eine Medientheorie der Subjektivität, auch wenn sie in Bezug auf manche Aspekte plausible Einsichten darin ermöglicht hat, wie Subjekte stets von Medien geprägt sind, gerät in eine Aporie, wenn es um Neue Medien geht. Auch in Neuen Medien wird nämlich die Bedingung erfüllt, dass eine mediale Selbstkonzeption performativ realisiert wird. Virtuelle Medien sind so zwar imaginär, insofern sie sich von den Bedingungen realer Performanz lösen. Im Unterschied zu klassischen Medien des Imaginären bieten sie aber zugleich Handlungsmöglichkeiten. Virtualität konstituiert so das Paradox eines imaginären Handlungsraums und damit eine Form von Quasi-Realität. Sofern es also überhaupt triftig ist, von virtuellen Handlungen zu sprechen, so folgt aus der Perspektive dieser Theorien, dass wir im Aufkommen digitaler Medien eine neue zusätzliche Dimension gewinnen, in der wir uns als Selbst konstituieren. Genau das ist die These, die David Velleman denn auch explizit vertritt. Er geht davon aus, dass digitale Medien uns in die Lage versetzen, neben unserem in der realen Praxis verankerten Selbst ein oder mehrere virtuelle Selbste zu entwickeln, die für die Konstitution unserer Identität genauso real und wesentlich sind wie unser bisheriges Selbst.
Dies ist eine verwirrende Konsequenz. Denn sie verspricht uns von neuem jene Möglichkeit, die vorher aus guten Gründen ausgeschlossen wurde: Die Idee nämlich, dass das Selbst sich nur imaginär in Medien konstituiert. Um die Fiktion eines bloß imaginierten Selbst von der Realität eines Subjekts zu unterscheiden, wurde eigens die Bedingung der Performanz eingeführt. Wenn nun aber Performanz in Medien möglich ist, so scheint daraus zu folgen, dass wir unsere Selbstheit in Medien und so potentiell rein fiktiv zu konstituieren vermögen. In virtuellen Handlungen wäre alles erfüllt, was Medientheorien der Subjektivität für wesentlich erachten, damit sich Selbstheit konstituiert; trotzdem vermögen sich virtuelle Handlungen von ihrer Entsprechung mit echten Handlungen zu lösen. Um es noch einmal zu sagen: Wer im Spiel eine Bank überfallen hat, hat deswegen nicht tatsächlich eine Bank überfallen, obwohl er (im Rahmen des Spiels) eine Bank überfallen hat. Velleman scheint diese Differenz vorerst nicht zu stören. Wir haben seiner Auffassung nach neben unserem alten Sein in den digitalen Medien einfach eine neue Form des zwar artifiziell konstituierten, aber genauso realen Selbstseins: »Two distinct creatures, one wholly real and one partly fictional, can be literally animated by one and the same mind, for which they help to constitute different selves.«
2. Wer stirbt?
Stellen wir uns nun einen Gamer vor, der jahrelang immer wieder Fußball Manager spielt. Ist er nun ein Subjekt, zu dessen Biographie das Sein als Fußballmanager wesentlich gehört? Mit gutem Grund würden wir dies verneinen. Aber hat er nicht auch wesentliche Erfahrungen davon gemacht, was es heißt, die Rolle eines Trainers zu erfüllen, seine Spieler zu motivieren, taktische Entscheidungen zu fällen und im Zuge einer Meisterschaft eines Besseren belehrt zu werden? Der gleiche Spieler hat sich vielleicht in der Reihe Grand Theft Auto wider die Anweisung seines Gangleaders in der Stadt herumgetrieben. Im harmloseren Fall hat er eine Reihe von Autos gestohlen, mit denen er bis zu einer atemberaubenden Morgendämmerung durch die Stadt rast. Womöglich hat er dabei versehentlich Verkehrsunfälle verursacht, ist in andere Autos gefahren oder hat unglücklicherweise Passanten verletzt. Vielleicht hat er aber auch absichtlich Fußgänger überfahren, hat dabei mehrfach zurückgesetzt, um zu sehen, wie das Blut über den Asphalt spritzt, oder er hat den Taxifahrer, dem er gerade sein Auto entwendet, brutal verprügelt, obwohl es gar nicht nötig gewesen wäre (sofern es hier ein Maß gibt). Natürlich wurde trotz alledem niemand verletzt. Aber verantwortet der Spieler nicht doch den bösen Exzess eines Gangsters, den er selbst als Thrill erlebt hat?
Denken wir weiter an die Personen, die die amerikanische Psychologin Sherry Turkle immer wieder beschrieben hat, die in digitalen Medien ihre Identität erweitern. Stellen wir uns zum Beispiel einen Mann vor, dessen phänomenale Leiblichkeit in unserer Gesellschaft den codierten Konventionen gemäß als männlich konnotiert wird. Er hält sich in seinem Verhalten darüber hinaus an Konventionen des Kleidens, körperlichen Habitus und Sprechweisen, die wiederum als männlich verstanden werden, und ist darum gewohnt, mit »Guten Tag Herr XY« begrüßt zu werden. Er wäre sehr irritiert, würde jemand ihn im Alltag als Frau ansprechen. Anders aber im Chatraum, in dem er sich unter weiblichem Pseudonym einloggt, stundenlange Gespräche unter der Prätention führt, eine Frau zu sein, und so andere Aspekte seiner Genderidentität lebt. Offensichtlich hat das Leben dieses Mannes eine amphibische Komponente, die in diesem Fall ebenso legal wie moralisch unproblematisch scheint.
Nehmen wir zuletzt folgenden Fall, sei er ein Gedankenexperiment oder wahr, wie es in ähnlicher Form immer wieder in der Presse behauptet wird: Eine Spielerin spielt bei World of Warcraft einen Jäger. Sie verbringt tagelang ihre Zeit online. Als Jäger begibt sie sich auf eine längere Reise, verfolgt ein kühnes Vorhaben und nimmt in diesen arbeitsintensiven Tagen nur wenig Nahrung zu sich. Nach tagelangem Dauerspiel verstirbt sie aufgrund eines in Folge von Unterernährung und Schlafmangels induzierten Herzkreislaufproblems. Hat die Spielerin nicht bis dato ebenso erfolgreich wie vital in den Wäldern von World Of Warcraft gejagt? Versteht sie ihr / sein plötzliches Ende? Wer stirbt?
3. Das Rätsel des Virtuellen
Offenbar ist es die amphibische Dimension virtueller Handlungen, die uns Probleme bereitet: Als medialisierte Handlungen unterscheiden sie sich von realen Handlungen, können sich potentiell vollständig von ihnen lösen und fiktionalisieren, und sind dabei dennoch stets Handlungen, die von Handelnden als Handlung intendiert, vollzogen und erlebt werden. Genau diese Ambivalenz zeichnet seit jeher auch Theatralität als einen ästhetischen Begriff aus, der die Grenzen von sozialer und ästhetischer Praxis überschreitet: Im Rahmen von ästhetischen Ereignissen, die theatral sind, haben wir es zwar oft mit fiktiven Figuren wie Macbeth oder Emilia Galotti zu tun. Wie die Theatertheoretikerin Erika Fischer-Lichte gezeigt hat, ist es aber das Wesen theatraler Praxis, dass in ihr verwendete Zeichen performativ verkörpert werden. Zwar ist Emilia Galotti fiktiv und wird von einer Schauspielerin nur dargestellt. In Bezug auf die Handlungen Galottis gilt aber, dass wir sie uns nicht vorstellen müssen, sondern im Vollzug durch die sie verkörpernde Schauspielerin direkt erleben. Ästhetische Theatralität besteht so maßgeblich darin, dass sie die Wirklichkeit einer Situation konstituiert. Der Wirklichkeitscharakter des Theatralen hat seine Kehrseite im Theatralitätscharakter der Wirklichkeit: Eine Handlung auf der Bühne kann identisch mit der gleichen Handlung außerhalb der Bühne sein. Wenn ein Schauspieler während einer Vorstellung, in der es um ein plötzlich ausbrechendes Feuer in einem Theater geht, während tatsächlich plötzlich ein Feuer im Theater ausbricht, die Zuschauer warnt, so können die Zuschauer seine Warnrufe so lange nicht verstehen, bis ihre eigene Abendgarderobe Feuer fängt. Die Zuschauer gehen einfach davon aus, dass der Schauspieler nur spielt, und bestätigen damit indirekt, dass die Darstellung einer Handlung potentiell identisch mit ihrem alltäglichen Vollzug sein kann. Im Falle von Performancepraktiken, in denen keine Figuren dargestellt, sondern alltägliche Handlungen oft von allen Beteiligten direkt vollzogen werden, kommt so nur zum Vorschein, was Theater im Besonderen auszeichnet: Die potentielle Ununterscheidbarkeit von alltäglicher Realität und medialer Fiktion. Offenbar konstituiert Theatralität selbst jene Form amphibischer Realität, wie sie auch die digitalen Medien zu bestimmen scheint. Versuchen wir also, sie besser zu verstehen.
Das Problem, das die amphibische Komponente virtuellen Handelns aufwirft, besteht darin, dass wir unter Umständen sehr wohl bereit wären, bestimmte virtuelle Handlungen wie ein Posting in Facebook oder womöglich sogar einen Chat unter einer anderen Identität als Ausdruck und Teil unseres Selbst und unserer sozialen Praxis zu verstehen. Die gleiche Bereitschaft hätten wir sicher weniger bei dem Spiel, ein Trainer eines Bundesligavereins zu sein, und noch viel weniger bei Spielen, in denen wir schwere Gewalttaten begehen. Genau diese Differenz verschleiert David Velleman in seinen Überlegungen. Zwar bezieht er sich primär auf die Idee von Second Life, einer Simulation einer digitalen, aber sonst stark unserer Realität nachempfundenen Welt. So scheint er auf den ersten Blick eine Differenz zwischen einer virtuellen Welt als einer Art Kontinuum unserer normalen sozialen Praktiken und virtuellen Welten als bloßen Fiktionen zu machen. Allerdings betont er, dass die Avatare Personen verkörpern, die die Spielerinnen zumeist gerade nicht sind. Insofern ist Second Life trotz aller Bemühungen um Realitätsbezug ein Paradebeispiel für die Möglichkeit eines fiktiven Spiels und steht dem Fußball Manager in nichts nach. Das Rätsel des Virtuellen stellt uns darum letztlich vor die Frage, ob wir medialisierte und deswegen potentiell fiktive Handlungen als Teil unserer Subjektivität begreifen sollten, wie Velleman das tut. Wer diese Konsequenz für problematisch erachtet, hat zwei Auswege: Entweder er bestreitet, dass medialisierte Handlungen in einem vollständigen Sinne Handlungen sind. Oder er stellt in Frage, ob ein fiktives Selbst sinnvoll zu denken ist. Ich gehe in diesem Aufsatz den zweiten Weg. Die Fiktionalisierung von Selbstheit, also die potentielle Entkopplung von realer und bloß imaginierter Praxis, ist ein defizienter Modus des Subjektseins, der sich ergibt, wenn Subjektivität theoretisch nur als medialisierte Form rekonstruiert oder praktisch nur medialisiert vollzogen wird. Allerdings ist letzteres, wie ich oben angedeutet habe, zugleich ein produktiver Modus unseres Subjektseins: unser eigenes Handeln als ästhetisches Zeichen zu gestalten und zu verstehen. Virtualität ist der Modus, in dem die Medialisierung von Handlungen möglich wird, und der insofern das entscheidende Moment meiner Analyse darstellt.
Trotzdem will ich zuerst auf den nachvollziehbaren Einwand eingehen, dass virtuelle Handlungen gar keine Handlungen seien. Naheliegend wäre es nämlich zu sagen, dass wir im Falle von digitalen Medien einfach nicht von Handlungen sprechen sollten. Es sind ja keine realen, sondern eben nur medialisierte Handlungen. Allerdings gilt aus der Perspektive der Medientheorien der Subjektivität, dass alle Handlungen mediale Formen realisieren. Eine Handlung hat nach Auffassung der meisten Handlungstheoretikerinnen ohnehin nie eine eindeutige empirische Gestalt, sondern ist stets eine Frage ihrer Interpretation unter einer medialen Formzuschreibung. Auf Basis von bloßen Tatsachen lässt sich niemals erkennen, was jemand tut; man muss Tatsachen miteinander in Verbindung setzen und sie als Handlung unter einer bestimmten Absicht interpretieren, im Zweifel sogar nachfragen. Ein notorisches Beispiel dafür ist jemand, der das Licht anschaltet und dabei unwissentlich einen Einbrecher verjagt. Seine Absicht war es, Licht zu machen, nicht aber, den Einbrecher zu verjagen. Das bloße Fingerspiel der Betätigung des Schalters vermag darüber keinen Aufschluss zu geben. Insofern schlägt der Versuch fehl, Handlungen danach zu unterscheiden, ob sie einem konkreten Faktum in der Welt entsprechen oder nicht. Etwas ist auch keine echtere Handlung, nur weil es eindeutiger mit dem harten Grund verbunden ist, auf dem unsere Füße stehen. Auch immateriellere Akte wie imaginäre Schäfchen zählen oder etwas Böses denken sind eine Handlung. Damit verbunden ist die Abwehr eines zweiten Versuchs: Als Naturalist könnte man geltend machen, dass sich eine fiktive Handlung von einer tatsächlichen darin unterscheidet, dass ersterer kein biologischer Ablauf entspricht. Der Dennett’sche Roboter, der spielt, er wäre ein Hund, hat eben keine zu einem Hund passenden Prozesse in sich. Diese Abwehr verfehlt aber die Pointe. Velleman und Dennett machen ja gerade geltend, dass das Selbst auf einer kategorial anderen Ebene als biologische Prozesse zu verorten ist. Das Selbst erlebt sich unabhängig von diesen Prozessen als etwas, was es biologisch nicht ist. Genauso kann es also auch fiktive Handlungen als real erleben, obwohl sie biologisch mit nichts korrelieren. Der Roboter Gilbert – so funktioniert ja das Argument der Naturalisten schließlich – spielt ja auch nur, er sei ein Mensch. In Wahrheit ist er ein Roboter. Die bloße Feststellung der medialen Form der Handlung hat so noch keine Konsequenz.
Mit der Differenz von tatsächlichen und bloß vermeintlichen Handlungen spielt man darum eher auf etwas anderes an. Alltägliche Handlungen stehen zwar unter medialen Formen. Aber sie sind selbst nicht medialisiert in dem Sinne, dass wir sie als artifizielle Form von nicht-artifiziellen Formen unterscheiden. Virtuelle Handlungen hingegen weisen sich immer offensichtlich als Handlungen im Modus einer Zeichendifferenz aus. Sie bedürfen schließlich des Avatars als eines deutlich künstlichen Gebildes. Sie stehen so unter einer deutlichen medialen Differenz, die sich meist schon darin manifestiert, dass die Spielerin parallel ein anderes Gerät bedient, das nichts mit dem Schwert ihrer Spielfigur zu tun hat. Zwar sind virtuelle Handlungen insofern sicherlich zeichenhafter als andere Aspekte unseres Alltags, aber das gleiche gilt auch für die Teilnahme am höfischen Zeremoniell, dem ersten Tag in der Rekrutenschule oder unserem Jubel beim Volleyballsieg. Auch hier führen wir offensichtlich Handlungen aus und verwenden Gegenstände in einer Weise, die im Vergleich zu alltäglichen Verrichtungen höchst zeichenhaft und artifiziell ausfallen. Daraus würde aber kaum jemand schließen, dass diese Praktiken in einer defizienteren Weise zur Realität gehören als weniger zeichenhafte Praktiken. Virtuelle Praktiken wären, so verstanden, tatsächlich eine Erweiterung unseres sozialen Seins um einen erweiterten Raum von spezifischen Zeichenhandlungen. Statt sich zu verkleiden, verwandelt man sich in eine Chatfigur. Vielleicht würden wir hier zustimmen, dass wir soziale Medien wie Facebook oder kurzweilige Chats so verstehen wollen, allerdings sicher weniger ein fiktionales Spiel wie Fußball Manager. Es gibt schließlich eindeutig nur eine Person, auf die zutrifft, dass sie gegenwärtig Trainer von Borussia Mönchengladbach ist. Aber es gibt gleichzeitig eine große Menge von Personen, auf die zutrifft, dass sie spielen, sie seien Trainer derselben Mannschaft. Beide Gruppen sind nicht deckungsgleich. Was für reale Konsequenzen die beiden Performanzen haben, unterscheidet sich erheblich. Beide Gruppen können zwar entlassen werden, aber der gegenwärtige Trainer kann das Spiel nicht einfach neu starten und von vorne beginnen. Aber auch jenseits faktischer Differenzen, die sich auch nur aus faktischen Begrenzungen der Technologie ergeben mögen, würden wir insbesondere dann einen Unterschied in der Antwort auf die Frage machen wollen, ob jemand etwas nur spielt oder nicht. Wir haben die starke Intuition, dass es für das Verständnis von uns selbst weiterhin sehr wesentlich sein könnte, den Bankräuber vom Bankräubergamer zu unterscheiden, auch wenn der Fußballtrainer vom Fußballtrainergame zu profitieren vermag. Hilft uns nun die Idee weiter, dass virtuelle Handlungen fiktive Handlungen sind?
Sicher ist es richtig, dass wir in virtuellen Medien in einem deutlich zu Tage tretenden Sinne fiktive Handlungen ausführen. Wer im Spiel einen Baum heraufklettert, klettert eben nicht de facto einen Baum hinauf. Meist sitzt er dabei in seinem Schreibtischstuhl. Wir handeln eben nur fiktiv. Allerdings ist genau dies buchstäblich der Fall, so macht Velleman geltend: Wir vollziehen in digitalen Medien fiktive Handlungen tatsächlich. Spieler in einer virtuellen Welt verstehen sich selbst gerade nicht so, dass sie mit Hilfe ihrer Einbildungskraft imaginieren, sie würden etwas tun. Sie verstehen sich so, dass sie es tun. Das ist der zentrale Unterschied zwischen virtuellen Medien und klassischen imaginativen Medien: »They experience themselves as the characters, behaving in character, under the impetus of their own thoughts and feelings.«
Anders gesagt: Spieler erleben sich selbst als Handelnde in ihren Figuren. Das ist der große Umbruch, den das Digitale vollzieht: Es schöpft endlos neue Handlungsräume und Figuren, in denen wir zu handeln vermögen. Mit Vellemans Ausführungen scheint mir so erst der entscheidende Punkt der Artikulation des virtuellen Rätsels erreicht: Zwar ist es völlig richtig zu betonen, dass eine wahrnehmbare Differenz zwischen Medium und Welt, Avatar und Subjekt besteht. Diese bezieht sich aber darauf, dass das Subjekt einen physischen Körper hat, während der Avatar ein artifizieller, nur im Medium konstituierter Zeichenkörper ist. Die Art und Weise, wie das Subjekt sich mit dem Avatar identifiziert, ist selbst aber nicht fiktiv. Es spielt so theoretisch und, wie Untersuchungen gezeigt haben, auch empirisch keine Rolle, ob der Zeichenzusammenhang sehr realistisch ist oder hoch artifiziell. Auch eine Datenbank kann einen virtuellen Handlungsraum eröffnen, innerhalb dessen Subjekte sich als Handelnde verstehen, die die gemeinsame Sorge um ein Projekt verbindet. Das Subjekt hat so Überzeugungen und Einstellungen, die sich nur auf den Körper des Avatars in der virtuellen Situation beziehen, nicht auf den Körper im Schreibtischsessel. Noch einmal konkret veranschaulicht: Wer Tennis spielt, hat die Intention, mit seinem Schläger möglichst effizient den Ball zu treffen. Wer Tennis in einem Game spielt, hat nicht die Intention, möglichst effizient den Joystick zu bedienen; wie langweilig wäre das. Er möchte nichts anderes, als mit seinem Schläger möglichst effizient den Ball treffen. Virtuelle Handlungen sind in dieser Hinsicht real. Aber sie sind auch imaginär; dies wird spätestens dann sehr deutlich, wenn ich mit meiner Joystickbewegung gerade den finalen Satz von Wimbledon gegen Novak Djokovic gewinne. Trotzdem erleben wir virtuelle Handlungen als Handlungen mit zahlreichen realen Konsequenzen: Avatare sind die künstlichen Gebilde, mit deren Perspektive wir unsere eigenen Empfindungen und Gedanken verschmelzen lassen. In virtuellen Medien haben wir so Überzeugungen, Gefühle, körperliche Reaktionen, sind betrübt, enttäuscht, feiern Siege, sind erregt, wütend oder frustriert. Und dennoch, so würde man zu Recht einwenden, bleiben diese Erlebnisse unserer Welt merkwürdig äußerlich, so sehr sie auch als reale Erfahrungen wirken mögen.
4. Die ästhetische Differenz der Theatralität
An digitalen Medien kann man nun trotz allem besser ablesen, worin die Differenz zwischen realem und fiktivem Subjekt, zwischen Spiel und Realität bei aller Ununterscheidbarkeit liegt: Digitale Medien zeigen nämlich von sich aus, bedingt durch ihre klar markierte mediale Differenz, dass in ihnen Handlungen im Medium stattfinden. Sie zeigen also das, was durch die scheinbare Konvergenz von sozialer und ästhetischer Theatralität manchmal unsichtbar bleibt. Als Medien kann man, wie ich in der Einleitung dieses Texts geschrieben habe, Gegenstände verstehen, die auf Basis von Differenzen auf Gegenstände verweisen, die sie nicht sind. Im Falle von medialisierten Handlungen heißt dies zweierlei: Es sind Handlungen, die sich in einer gegenständlichen Weise darbieten, insofern sie eine feste Form annehmen. Sie sind durch das Medium strukturiert und objektiviert. Ein Avatar ist so kein Handelnder, sondern die konkrete, leere Form eines Handelnden. Insofern gleicht ein Avatar immer mehr einem Bild von einem Regenschirm, als er einem Menschen gleicht, auch wenn er noch so anthropomorph gebildet ist. Er ist eine mediale Form. Allerdings verweist der Avatar nicht auf eine Handlung, wie ein Bild eines Regenschirms auf einen Regenschirm verweist. Ein Avatar wird gespielt, in ihm vollzieht sich stets auch eine Handlung. Das Handeln des Avatars ist darum zunächst geformte Handlung. In Analogie zu theatralen Begriffen würde man sagen: Eine Form wird vom Spieler verkörpert. Die Verkörperung besteht in der Performanz seines Spielhandelns. Wie das Bild des Regenschirms ist die Avatarhandlung aber offensichtlich selbst nicht das, worauf sie sich bezieht. Selbst wenn mein Avatar wie ich aussehen sollte, bedeutet seine Handlung nicht die analoge Handlung meiner eigenen Person. Vielmehr ist der Avatar in offensichtlicher Weise ein mediales Element innerhalb vieler Elemente, die die Konfiguration des Computerspiels insgesamt definieren. Die geformte Handlung ist so zugleich Teil der Form des Spielzusammenhangs und damit Teil eines Mediums, das von der alltäglichen Praxis so divergiert wie das Bild vom repräsentierten Gegenstand. Diese beiden Aspekte zusammen sind es, die virtuelle Handlungen bestimmen: Zeichenhafte Handlungen im Modus eines gesamten Zeichenzusammenhangs. Erst diese Handlungen begreife ich als medialisierte Handlungen: Sie sind Handlungen im Medium.
In ihnen wird die Differenz zwischen Figur und Subjekt plastisch, weil sich figuratives Handeln als Element innerhalb der Konfiguration eines medialen Zusammenhangs offenbart. Eine Figur ist immer ein bestimmtes, mediales Element, das innerhalb eines Mediums in Relationen zu anderen Elementen bestimmt ist. Dabei sind wir es in digitalen Medien selbst, die virtuell handeln. Virtuelles Handeln ermöglicht uns darum zu handeln, während wir uns gleichzeitig als Figuren in einer konkret bestimmten Situation wahrnehmen. Ich meine, dass dies nichts anderes als die ästhetische Form der Theatralität ist: in eine Situation involviert sein, zu der man zugleich in Distanz steht. Eine theatrale Figur generiert sich konstitutiv aus der Perspektive durch einen Zuschauer, der eine in seiner Anwesenheit geschehende Handlung erlebt, die Situation aber zugleich als ästhetisches Zeichen wahrnimmt. Der Zuschauer ist dabei sowohl stets selbst Teil der Handlungsebene und erlebt Handlungen und ihre Wirkungen direkt. Gleichzeitig distanziert er das Geschehen, dessen Teil er ist, und nimmt es in seiner medialen Differenz als ästhetisches Zeichen wahr, das interpretiert werden muss. Das ist die Spezifik szenischer Künste: Sie eröffnen einen Handlungsraum, der zugleich als zeichenhaft strukturiert erlebt wird. Digitale Medien zeigen so gewissermaßen in umgekehrter Ordnung, was theatrale Praktiken ausmacht: Während in digitalen Medien von einem Zeichenzusammenhang aus Handlungen erlebt werden, werden in szenischen Künsten von einem Handlungszusammenhang aus Zeichen interpretiert. Das gleiche gilt auch für Performances, in denen vermeintlich real gehandelt wird. Auch hier wird die Zuschauerin ihr Handeln zugleich als Teil der gesamten Situation und ihrer szenischen Konfiguration begreifen, genauso wie im klassischen Theater das eigene emotionale Erleben konstitutiv Teil der ästhetischen Konstellation ist, die man interpretiert.
Ästhetische Theatralität transformiert so subjektive Wirklichkeit, sie konstituiert Realität. Aber diese Realität ist stets konstitutiv Teil eines medialen Zeichengeschehens, das sie von der alltäglichen Realität differenziert. Die Differenz einer solcherart zeichenhaft determinierten Realität zum Alltag ist nichts anderes als deren Virtualisierung. Virtualität kann so grundsätzlich als der mediale Raum verstanden werden, in dem Subjekte sich mit Hilfe von zeichenhaften Strukturen in handelnde Figuren verwandeln. Man könnte entsprechend sagen: In allen szenischen Formaten verdoppelt sich der Zuschauer zugleich in seinen Avatar. Er ist anwesend und abwesend zugleich. Auch wenn er in einer Performance selbst handelt. Avatarisierung, wenn man so will, bedeutet, dass das eigene Handeln in die Bestimmung eines medialen Zusammenhangs eingeht. Was sonst im Alltag im Modus einer offenen Performanz geschieht, wird hier zu einem Erlebnis einer geschlossenen, weil ästhetisch überformten Performanz. In theatralen Ereignissen wird eine spezifische Situation anwesender Menschen im Modus der Inszenierung und der stattfindenden Interaktionen erlebt. Theatrale Situationen sind so einerseits transformativ: Sie bringen das Subjekt in eine spezifische Konstellation, in der es wie der Spieler eines Computerspiels Geschehnisse real erlebt. Es mögen zwar fiktive Geschehnisse sein, die verhandelt werden. Diese beziehen das Subjekt aber so ein, dass es sie raumzeitlich konkret erlebt. Im Gegensatz zum Alltag ist das Subjekt in theatralen Ereignissen stets Teil einer gesamten Medialisierung. Damit ist eine konstitutive Grenze gezogen: Die Grenze zwischen einer ästhetisch medialisierten Praxis und der Praxis des Alltags; also nichts anderes als die zu Beginn des Texts schon reklamierte mediale Differenz.
Die Schwierigkeit des Phänomens der Theatralität liegt darin begründet, dass sich Virtualität als ein Modus ästhetischer Betrachtung statt einer festen ontologischen Grenze erweist. Es ist vorstellbar, dass eine beliebige konkrete Handlungssituation des Alltags zu einem theatralen Ereignis wird. Trotzdem transformiert sich der Ausschnitt der Realität und wird insofern virtuell, als dass er erlebt und im Erleben gleichzeitig zum Objekt ästhetischer Betrachtung und damit medial differenziert werden kann. Jedes theatrale Ereignis konstituiert so einen virtuellen Raum, in dem sich Strukturen objektivieren, weil sie entsprechend produziert und vor allem rezipiert werden. Konkret gesprochen: Alles, was in einer theatralen Situation geschieht, wird im Modus der ästhetischen Betrachtung potentiell bedeutsam: Meine Wahrnehmungen und Körperempfindungen, ihre Entwicklung über die Zeit, das Lachen meines Gegenübers, der Rhythmus der Schritte, mit der ein Darsteller sich mir nähert, und die affektive Tonalität, in der ich auf seine Präsenz reagiere. Ästhetische Theatralität besteht in einer individuellen Erfahrung einer konkreten Handlungssituation, die in ihrer Struktur wahrgenommen und darin bedeutsam wird.
Hierin manifestiert sich schließlich der wesentliche Unterschied zwischen Theatralität im Sinne herkömmlicher theatraler Praktiken und der Theatralität digitaler Medien: Wenngleich beide grundsätzlich von ihrer Medialisierung als virtueller Handlungsraum zu begreifen sind, so bestehen theatrale Praktiken darin, dass sie in einer raumzeitlichen Realität zugleich präsenter Körper stattfinden. Theatrale Praktiken bieten in dieser Hinsicht ein Extrem ästhetischer Partikularität: Alles, was die Anwesenden in der raumzeitlichen Episode ihres Zusammenseins betrifft und mit ihnen geschieht, ist potentieller Teil des szenischen Erlebnis. Genau dies gilt für die Virtualität digitaler Medien nicht. Im Gegensatz zu herkömmlicher Theatralität, die in der Korporealität anwesender Körper in einem physischen Raum besteht, ist digitale Theatralität von einer Transformation der Körperlichkeit geprägt. Diese ist zwar gerade nicht gleichbedeutend mit deren Nichtvorhandensein. Dennoch gibt es keine direkte »autopoietische Feedbackschleife« zwischen anwesenden Körpern, obwohl alle Aktionen von allen Beteiligten körperlich erlebt werden. Virtuelle Handlungen im Digitalen bleiben stets davon geprägt, dass sie vom digitalen Medium und seinen Strukturen her determiniert sind. Was digitale Medien so an raumzeitlicher und körperlicher Realität verlieren, gewinnen sie umgekehrt in der Freiheit fiktiver Gestaltung von Räumen und Körpern, die sich von raumzeitlichen Realitäten trennen. Wo im Theater nur schwer zu vermitteln ist, dass alle Anwesenden fliegen, kann das Game das Fliegen zum primären Handlungsmodus machen. Digitale Medien bestehen darum maßgeblich in der Freiheit der Medialisierung von Handlungen in Bezug auf das raumzeitliche Kontinuum. Das ist noch einmal eine Variante, den radikalen Umbruch zu beschreiben, der sich mit ihnen vollzieht. Sie eröffnen uns neue, man könnte sagen: nie dagewesene Handlungsräume.
5. Schluss
Wenn wir David Velleman folgen, konstituieren sich in solchen Handlungsräumen Erfahrungen, die ebenso real und wirksam sein können wie Erfahrungen im raumzeitlichen Kontinuum. Gleichwohl bleiben sie medialisiert; sie können nicht als einfaches Kontinuum unserer subjektiven Praxis verstanden werden, sondern müssen dazu in Bezug gesetzt werden. Auch wenn es manchmal scheint, als seien sie quasireal, erweist sich diese Realität letztlich nur als eine Abkürzung interpretativer Bezugnahme. Hier gleichen sich das Bild des Regenschirms, der handelnde Gamer und die teilnehmende Zuschauerin wieder an: Ihre Erfahrung ist zeichenhaft, sie muss gemacht und in ihrer spezifischen Gestalt interpretiert werden. Irgendwann sehen wir im Bild einen Regenschirm, obwohl es nur Linien und Farbkleckse sind. Wenn wir uns weiterhin des Bilds bewusst bleiben, so gewinnen wir dazu die Möglichkeit, an der Struktur des Bildes zu sehen, wie wir den Regenschirm sehen. Die Virtualität der Szene ist das zum Bild analoge Moment einer als ästhetisch konfigurierten Handlungssituation. Wir begegnen uns selbst und anderen als handelnde Zeichen, als Avatare, deren konkretes Handeln zugleich zu einer Art drei-dimensionalem, prozessualen Bild objektiviert wird, das in Bezug zu unserer alltäglichen Wirklichkeit gesetzt werden kann und muss, wenn es verstanden werden will.
In virtuellen Handlungen erkennen wir so Relationen, Angemessenheiten, Unbestimmtheiten des Verhaltens, Fühlens, sozialen Seins und körperlichen Reagierens in einer konkreten erlebten Situation des Handelns, die wir auf unser sonstiges Handeln beziehen können. Das ist ein wesentlicher Modus von Reflexion: die Konkretheit einer erfahrenen Situation als regulative Idee eigenen Handelns zu verstehen. Allerdings bergen virtuelle Handlungen in ihrer Konkretheit eine Gefahr, die klassische imaginäre Medien weniger betreffen: Sie werden als real erlebt, obwohl sie künstlich sind. Diese Ambivalenz ist das Wesen ästhetischer Theatralität, die uns immer schon zwischen Selbstdarstellung, Selbstverlust und Selbstreflexion vor die Grenzen von sozialer Realität und deren ästhetischer Umformung gestellt hat. Im Falle digitaler Medien intensiviert sich diese Verunsicherung. Die Immersionskraft und die Intensivierung des Erlebens, die immer schon die theatrale Erfahrung ausgezeichnet haben, werden in digitalen Medien potenziert. In den echtzeitbasierten, offenen Onlinespielen kann man in die Welt eintreten, die in Theateraufführungen ehemals der Zeitdauer einer Aufführung vorbehalten war. Die lebenszeitliche Dimension des Theaters kann so zu einem bedrohlichen Moment werden, wenn Medien ein Second Life versprechen. Digitale Medien lassen uns leicht zwischen Avatar und Subjekt verwechseln. Grenzen verschwimmen. Während das Theater meist eine begrenzte Zeitdauer anhält, gibt es Spiele, die potentiell unendlich weitergehen. Wenn sie dabei andere Spieler integrieren und eine soziale Praxis modulieren, gleichzeitig aber den einzelnen Spieler von seiner lebensweltlichen Praxis isolieren, so kann dies problematisch sein, wenn eine Dissoziation zum personalen Leben droht. Diese Dissoziation beruht aber auf einem Missverständnis: sich mit dem Erleben und der Perspektive einer Figur zu identifizieren, ohne länger deren mediale Differenz wahrzunehmen.
Trotzdem bleibt es gerade diese Identifikation mit einer Figur, der Eintritt in eine situative, andere Handlungswelt, die den Reiz des Virtuellen ausmachen. In vielen Hinsichten geht es den Spielerinnen um nichts anderes als das Erlebnis dieses Spiels, das gerade aufgrund seiner bewussten Differenz zum Alltag eine besondere Erfahrung ermöglichen soll. Mit meinen Ausführungen will ich also nicht bestreiten, dass der wesentliche Modus des Computerspiels darin besteht, es einfach nur zu spielen. Im Gegenteil. Es ist die echte Handlung des Spielens, die uns die Intensität quasirealer Erfahrungen ermöglicht. Wenn wir uns aber fragen, in welchem Verhältnis das Spiel zu unserem Leben steht, so bleibt der Unterschied wesentlich: Es geht in virtuellen Handlungen nicht darum, dass wir eine reale Erfahrung gemacht haben, sondern vor allem darum, wie sie uns in ihren Strukturen etwas über andere Erfahrungen zu sagen vermag. Auch wenn Spiele dazu eingesetzt werden, dass in ihnen bestimmte Handlungen trainiert werden und das Spiel auf eine bleibende Transformation des Subjekts angelegt ist, so scheint mir wesentlich, dass diese Differenz beachtet wird. Den Flugsimulator fliegen, heißt nicht fliegen zu lernen, sondern zu lernen, wie man fliegt. Es geht uns in virtuellen Handlungen wesentlich um die Strukturen des Handelns, die in Bezug zu unserem zukünftigen Handeln gesetzt werden können.
Ich bin also der Überzeugung, dass wir in digitalen Medien besser sehen können, was wir in theatralen Praktiken und ihrer direkten Nähe zum alltäglichen Handeln leicht aus dem Blick verlieren: Die Differenz zwischen Figur und Subjekt. Auch wenn es eine Perspektive gibt, in der Subjekte und ihre medialen Korrelate ununterscheidbar sind, folgt daraus noch lange nicht, dass wir den Unterschied insgesamt fallen lassen können. Das zeigt sich an fiktiven virtuellen Selbsten. Sie verdeutlichen, wie Figuration einen Raum eröffnet, der als Zeichen von unserer sozialen Praxis divergiert. Diese Divergenz ist der Hintergrund, vor dem sich virtuelle Handlungen begreifen lassen. Virtuelle Handlungen sind darum konstitutiv doppeldeutig: Als Handlungen führen sie zu realen Konsequenzen, als Zeichen sind sie der Praxis immer auch enthoben. Virtuelle Handlungsräume können ebenso Ort prekärer Selbstverluste sein wie sie uns in besonders produktiver Weise ermöglichen, uns zu uns selbst zu verhalten. Es ist die Frage, wie wir sie verstehen. Das heißt, man muss sie interpretieren lernen. Jede Interpretation basiert auf einem Verstehen von Zeichen. Dass diese Zeichen im Falle digitaler Handlungen wesentlich von theatralen Modellen aus verstanden werden können, ist der Vorschlag dieses Aufsatzes. Alles dies fußt auf der Differenz zwischen Medium und Welt. Ein Selfie ist eben noch lange kein Selbst, sondern nur ein Bild davon.
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