Digitales Journal für Philologie
Das digitalisierte Subjekt. Grenzbereiche zwischen Fiktion und Alltagswirklichkeit
Wie wirken sich digitale Technologien auf Subjektformen und ihre täglichen Praktiken aus? Der Sammelband nähert sich dieser Frage vor allem aus philologischer Perspektive sowohl mit Einzelstudien als auch mit theoretischen Überlegungen.
Welche Ansätze und welche Perspektiven finden sich in der gegenwärtigen Forschung zum Subjekt und den daran gekoppelten Praktiken, Formen, Kulturen und Ordnungen? Welche Aspekte des Digitalen gilt es in dieser Hinsicht präzise zu bestimmen und wie genau passen die Kategorien des Subjekts und des Digitalen zusammen? Die Einleitung wirft einen Blick auf wesentliche Positionen der gegenwärtigen Subjektforschung, fragt nach dem Beitrag, den die Literaturwissenschaft dabei erbringen kann und stellt knapp die Aufsätze dieses Sammelbandes vor.
Die Geschichte des neuzeitlichen Subjekts ist eine wechselvolle Geschichte. Galt es einst als autonome Gestalt, wurde es zwischenzeitlich für tot erklärt. Die Theorie des Subjekts pendelt zwischen Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie. Der Beitrag fragt nach dem Zusammenspiel von Subjekt und Umwelt: Kann das Subjekt seine Umwelt gestalten oder wird es selbst durch diese gestaltet?
Welche Rolle spielen virtuelle Handlungen für die Subjektkonstitution? Was bedeutet es, dass wir in Computerspielen auf jemanden schießen, in Chaträumen andere (Geschlechts-)Identitäten leben oder im Flugsimulator trainieren? In Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Positionen der Subjekttheorie und Ästhetik versucht der Beitrag eine philosophische Klärung des Begriffs digitalisierter Subjektivität. Seine These lautet: Virtuelle Handlungen müssen vom Paradigma ästhetischer Theatralität her verstanden werden. Sie sind mediale Zeichen, die als Handlungen erlebt werden. Als solche bieten sie uns einzigartige Möglichkeiten praktischer Selbstreflexion, stellen uns aber zugleich vor die Gefahr identifikatorischer Misslektüren, die bis zu prekären Selbstverlusten führen können.
Apps und Fitness-Tracker haben die Anwendungskultur der Bio-Surveillance verändert. Ihre Feedbacktechnologien erleichtern nicht nur Praktiken der gesunden Lebensführung, sondern multiplizieren auch soziale Kontrolle. An der Schnittstelle von digitalen Mediensystemen und bioinformatischen Wissensmedien tragen sie im Trend der Selbstvermessung dazu bei, den Körper als Medienobjekt geregelter Gestaltung und numerischer Ausdrucksformen zu betrachten. Der Beitrag beschäftigt sich mit der Programmlogik dieses digitalen Fitness- und Gesundheitsmonitoring und untersucht ihren Stellenwert im Kontext von Praktiken der Selbstführung in prozessorientierten Aushandlungsprozessen.
Kerstin Wilhelms untersucht den Chronotopos des Lebenswegs in autobiographischen Texten und macht aufmerksam auf strukturelle Analogien zwischen Fontane und Facebook: Der Salon des 19. Jahrhunderts und die ›Sozialen Netzwerke‹ des 21. Jahrhunderts bringen vernetzte Identitäten hervor, die sich in einem interdependenten sozialen Gefüge positionieren.
Mediensatire kehrt, wie literarische Satire, Bekanntes um. Sie wird dadurch verständlich, dass einschlägige mediale Praktiken bekannt sind und einen globalen Verstehenshorizont bilden. Mediensatirische Seiten und Autoren hinterfragen diese Habitualisierungen, indem sie einschlägige Dispositive und Praxen mittels parasitärer Indienstnahme verzerren und entstellen. Im vorliegenden Beitrag werden Formen dieser neuen Mediensatire am Beispiel des französischen Nachrichtenportals Le Gorafi erläutert und die Frage erörtert, inwiefern der Mediensatiriker für alternative, wenn nicht konterdiskursive Selbstpraktiken steht.
Arbeit und Struktur ist sowohl ein Blog, das der Autor Wolfgang Herrndorf seit der Diagnose eines Hirntumors geschrieben hat, als auch ein Buch, welches wenige Monate nach seinem Tod erschienen ist. Der Aufsatz beginnt mit der Beobachtung, dass mit den beiden Aggregatszuständen offenbar unterschiedliche Perspektiven auf den weitgehend unveränderten Text einhergehen: Erscheint das Blog Arbeit und Struktur als Gebrauchstext, wird er als abgeschlossene Erzählung in Buchform Teil von Herrndorfs literarischem Werk. Heteronome und poetische Signale werden von der Darreichungsform des Textes und ihrer jeweiligen medialen Spezifik unterschiedlich privilegiert und inszeniert.
Eine grundlegende künstlerische Strategie von Regisseur und Künstler Christoph Schlingensief war die (vermeintliche) mediale Offenlegung des Subjekts. Der Beitrag untersucht Formen der Subjektivation in zwei verschiedenen Medien, im Tagebuch einer Krebserkrankung und Schlingensiefs Schlingenblog. Es scheint, als finde die Aushandlung des Subjekts zum einen im Modus der Offenheit und Autofiktion, zum anderen über den Modus der Sichtbarkeit und Öffentlichkeit statt.
Éric Chevillard konzipiert sein Blog L’autofictif als Anti-Autofiktion. Der Autor greift das Diskursmodell der Autofiktion auf, unterwandert es jedoch im selben Moment, indem er mit den Erwartungen an das Diskursmodell bricht. Chevillard schafft sich mit L’autofictif einen Ort der spielerischen Autoreflexion, der durch seinen Status als öffentliches »Journal« gleichzeitig auf Außenwirkung abzielt. Ziel dieses Artikels ist es, unter Berücksichtigung der außergewöhnlichen Konzeption des Blogs, die Konturen der in diesem Spannungsfeld geformten »posture« Chevillards nachzuzeichnen.
Der Beitrag untersucht, wie die Subjektkonstitution der tunesischen Cyberaktivisten in ihren Blogs und E-Books diskursiv vonstattengeht. Der politische Blog als Möglichkeit der direkten Berichterstattung aus einem Krisengebiet wird hier zum Ausdrucksmedium eines Subjekts, das zusätzlich ergänzend auf weitere Medienformate (E-Books, Facebook, gedruckte Publikationen) zurückgreift, um sich zu konstituieren. Dem Blog kommt als Medienpraxis über den Ausdruck und die Ausarbeitung einer subjektiven Selbstdarstellung im Sinne einer technique de soi im politischen Kontext die Funktionen der Dokumentation, Aufarbeitung und Veröffentlichung des Erlebten zu.
Roberto Saviano, italienischer Journalist und Autor, sprengt mit seinem Erstlingsroman Gomorra, der als non-ficton novel gehandelt wird, die Genregrenzen und ruft Diskussionen hervor. Neben recherchierten Fakten steht ein auffällig starkes ›Ich‹, das sich als Zeuge verbürgt. Mit seinem Werk wird Saviano zum Bestsellerautor, zum Helden, aber auch zum Flüchtling. Er, der Mythen entlarven wollte, wird selbst zum Mythos, dessen Plattform vor allem die neuen Medien sind. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die Fragen, wie sich literarisches Schaffen und Selbstdarstellung im Netz verschränken.
Der Beitrag beschäftigt sich mit Metaphern für (digitalisierte) Subjekte in Bildender Kunst und Literatur. Die Audio Walks der Künstlerin Janet Cardiff bieten – ebenso wie Prosatexte des Schriftstellers Paul Nizon – ein Sprechen über Wanderer und Marschierer an. Subjekte ohne sicht- oder greifbares Gegenüber werden wahrnehmbar werden durch den Einsatz von Körper und Technik bzw. durch eine autofiktionale Erzählstrategie. Sie lassen sich nicht als autonom, stabil oder handlungsfähig beschreiben, sie konfigurieren sich zeitlich begrenzt und bleiben beweglich.
Stephan Trinkhaus liefert einen Kommentar zu Anne Schülkes Beitrag Metaphern für (digitalisierte) Subjekte: Wanderer und Marschierer bei Janet Cardiff und Paul Nizon und widmet sich weiter den Formen der Digitalisierung des Subjekts.