Theorien der Literaturwissenschaft
Robert Matthias
Erdbeer
Münster

Poetik der Modelle

Das Wirkliche ist nur in Verbindung mit der Unermeßlichkeit des Möglichen erklärbar, d.h. des unter bestimmten Bedingungen Notwendigen.

Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung

Dementsprechend wird der Prozeß der künstlerischen Schöpfung, in dem unveränderlichen Rahmen einer Gegenüberstellung von Struktur und Zufall, darin bestehen, den Dialog entweder mit dem Modell, mit dem Material oder mit dem Benutzer zu suchen […].

Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken

1. Der dynamische Text

In einem Klassiker der Independent Games, der Stanley Parable des Publishers Galactic Cafe, tritt Stanley, Angestellter eines näher nicht genannten Unternehmens, gegen den Erzähler seiner eigenen Geschichte an. Der Einstieg ins Geschehen könnte kaum auktorialer sein:

This is the story of a man named Stanley. Stanley worked for a company in a big building where he was employee number 427. Employee Number 427’s job was simple: he sat at his desk in room 427, and he pushed buttons on a keyboard. Orders came to him through a monitor on his desk, telling him what buttons to push, how long to push them, and in what order. […] And Stanley was happy.1

Beschrieben wird hier nicht zuletzt die Gaming Situation, besser: eine Gaming Situation, die als Determination der linearen Eingaben erfolgt: als Text. Beschrieben wird hier also eigentlich nichts anderes als Lesen: eine regelhafte, höchst repetitive Tätigkeit, die ein vorausgegangenes Programm gehorsam nachvollzieht und eben dadurch auf den Lesenden entlastend wirken kann: »Stanley relished every moment that the orders came in, as though he had been made exactly for this job.« Doch dabei bleibt es nicht:

[O]ne day, something very peculiar happened. Something that would forever change Stanley. Something he would never quite forget. He had been at his desk for nearly an hour when he realized that not one single order had arrived on the monitor for him to follow. […] Never in all his years at the company had this happened – this complete isolation. Something was very clearly wrong. Shocked, frozen solid, Stanley found himself unable to move for the longest time. But as he came to his wits and regained his senses, he got up from his desk and stepped out of his office.2

Die Begebenheit ist unerhört: Der Held wird hier zum Zeugen eines Medien- und Codierungswechsels, der sich idealtypisch an ihm vollzieht. In Stanley endet das Prinzip der Linearität in einer Schockstarre, die man als Null- und Endpunkt linearer Progression bezeichnen kann. Zum Stillstand kommt hier auch die Prozessierung, besser: Prozession der Zeichen, ihre Produktion von Sinn. Am Ende der Signifikantenkette steht die »complete isolation«, ›totale Isolation‹. In Stanley, könnte man vereinfacht sagen, endet ein Modell. Danach kommt etwas Neues. Aber was?

Abb. 1: A Model Game – The Stanley Parable (2013)

Dem Lesen folgt das Spiel. Indem er sein Büro verlässt, begibt sich Stanley in den Dschungel der Entscheidungsbäume, der in spieltypischer Weise ludische Strukturen mit Erzählstrukturen verknüpft. Spieluntypisch ist allerdings der Umstand, dass der Kampf des Spielers mit den Spielstrukturen hier als Auseinandersetzung der Figur – des Avatars – und eines Ich-Erzählers – des Programmdesigns – erscheint. Der Auftakt hierzu ist so simpel wie symbolisch und vor allem folgenreich: »When Stanley came to a set of two open doors, he entered the door on his left.«3

Abb. 2: The Stanley Parable – Verräumlichte Entscheidung: The Two Doors

Dem Spieler ist es freilich unbenommen, der Erzählung nicht zu folgen, die sich dann vom Modus der Beschreibung, sprich: der Setzung einer faktischen Figurenhandlung, zur Option verwandelt – hier: zur Direktive, der man Folge leistet oder nicht. Wählt man die rechte Tür, stellt man den Modus des Erzählers von ›omniscient‹ auf ›unreliable‹ um. Autorität, Auktorialität und Deutungshoheit des Erzählers werden durch die Spielerhandlung torpediert. Die Reaktion bleibt nicht aus: »This was not the right way to the meeting room, and Stanley knew it perfectly well. Perhaps he wanted to stop at the employee lounge first to admire it.«4 Da es in der Lounge nichts zu bewundern gibt, erscheint der Kommentar hier als ironische Distanznahme vom eigenen Erzählobjekt. Statt der Figur vorauszudenken, wird ihr hier gewissermaßen ›hinterhererzählt‹. Dies führt zu subversiven Paradoxen immer dort, wo eine Spielerhandlung den Erzählerkommentar düpiert und den Erzähler zu Versuchen nötigt, mittels Drohungen, Verbrüderungsversuchen, autoritativen Gesten oder Zugeständnissen die Observanz des Spielers zu erzwingen. Dem Erzähler steht hier anders als dem Avatar das ganze Arsenal der engines zur Verfügung, etwa wenn er vor den renitenten Stanley eine Mauer mit den Worten hinstellt: »Sorry, but you’re in my story now.«5 Das »now« verdeutlich einmal mehr die Aporie um Spielen und Erzählen, die hier ausgefochten wird: geteilte Agency. Der Höhe- oder Tiefpunkt dieses Kampfs um die Erzählhoheit ist zweifellos die Auflösung des Plots, versinnbildlicht im Steuerungsverlust der Storyline: »Aha, I knew we missed something: the story! […] All right, I’ve got a solution: This time, to make sure we don’t get lost, I’ve employed the help of the ›Stanley Parable Adventure Line‹. Just follow the line. How simple is that? You see, the line knows where the story is […].«6

Abb. 3: The Stanley Parable – Die ›Storyline‹: Versprechen und Verirrung

Beim Nachspüren der Storyline kommt der Erzähler ins teleologische Grübeln, bis die Linearität der Story aufgegeben werden muss – zugunsten einer Rekursion, des Neustarts:

Though, here’s a thought: wouldn’t wherever we end up be our destination, even if there’s no story there? Or, to put it another way, is the story of no destination still a story? Simply by the act of moving forward are we implying a journey such that a destination is inevitably conjured into being via the very manifestion of the nature of life itself? Woah, woah, woah, woah, woah. […] Line, how could you have done this to us, and after we trusted you! […] To hell with it. Restart.7

Am Ende übernimmt die Kommentierung eine zweite, weibliche Erzählerstimme, die den Kampf der Narrations- und Spielagenten aus einer Beobachtung der dritten Ordnung beschreibt: »Oh, look at these two. How they wish to destroy one another. How they wish to control one another. How they both wish to be free. Can you see, can you see how much they need one another? No, perhaps not. Sometimes, these things cannot be seen.«8 Die Inszenierung dieser Aporien (die ja echte Aporien ludischen Erzählens sind), erhält hier einen programmatischen re-entry, der jedoch zu keiner ›Einsicht‹ führt: »these things cannot be seen« (noch kann man sie erzählen).

Die Stanley Parable ist aber nicht nur eine Parodie traditioneller oder ludischer Erzählverfahren, sondern auch, so meine These, eine Parodie der Erzähltheorie. Ersichtlich wird dies etwa dort, wo – mit Genette gesprochen – eine ›Nullfokalisierung‹, also ein nur dem Erzähler zugängliches Wissen in Figurenwissen umgewandelt werden soll. Der Avatar wird hier im Sinne der ›Vorauserzählung‹ erst ›intern fokalisiert‹, gefolgt von einer Nullfokalisierung des Erzählers, mittels derer er sein Wissen an den Spieler weitergibt, um sich alsdann ›extern fokalisiert‹ darüber zu verwundern, wie der Avatar zu seinem Wissen kommt. Die Szene spielt im Chefbüro:

Shocked, unraveled, Stanley wondered in disbelief who orchestrated this. What dark secret was being held from him? What he could not have known was that the keypad behind the boss’s desk guarded the terrible truth that his boss had been keeping from him. And so the boss had assigned it an extra secret PIN #2845 [Hinweis an den Spieler, genau diesen Code ins Display einzugeben]. But of course, Stanley couldn’t possibly have known this. Yet incredibly, by simply pushing random buttons on the keypad, Stanley happened to input the correct code by sheer luck. Amazing.9

An der Grenze von Erzählerkommentar und Spiel bricht somit die Bezugslogik von narrativer Kohärenz und ludischer Pragmatik pointiert zusammen. In der Gaming Situation werden Aporien sichtbar und bespielbar, die vom theoretischen Diskurs verdeckt worden sind. Auf diese Weise legt die Stanley Parable zugleich den metaphorischen Charakter jener Argumente offen, die die Theorie seit jeher für den klassischen Erzähltext reklamiert. Die Vorstellung vom offenen und interaktionistischen Charakter der Texturen, von der Agency des impliziten Lesers und vom Spiel der Zeichen wird in dem Moment als indirekte Rede sichtbar, wenn sie auf tatsächlich offene, von den Entscheidungen des Spielers abhängige, von mobilen Zeichen dominierte Narrative trifft. Gerade dort, wo auch die Agency des Spielens selbst, die Kooperation von ludischem und narrativem Game-Design, von Game-Programm und Avatar in Frage stehen, wird der Unterschied zum nicht-mobilen Narrativ eklatant.

Wird damit aber nicht auch der ›normale‹ Text im Rückblick als ein modellierter sichtbar, der vielleicht nur einen Sonderfall des neuen Paradigmas der dynamischen Texturen, nämlich ihren statischen Nullpunkt markiert? Und positiv gewendet: Lässt sich nicht das Game als die generische Erfüllung jener Theorieversprechen deuten, die von Lotman bis zu Iser mit geradezu prophetischer Exaktheit am ›bewegungslosen‹ Text entwickelt worden sind? Als Theorieparabeln einer künftigen, dynamischen Textur? Wenn dem so ist, bedarf es hier auch einer Revision der Weise, wie das Medium und Genre ›Text‹ bislang verstanden worden ist (und in Ermangelung des neuen Paradigmas auch nur so verstanden werden konnte), einer Revision, durch die sich die spezifische Dynamik dieser herkömmlichen Texte im Vergleich zu ludischen Erzählverfahren anders als nur metaphorisch denken lässt (zum Beispiel als Dynamik ihrer Potentialität).

Der vorliegende Beitrag kann auf diese Fragen keine abschließende (und wohl auch keine erste) Antwort geben; er verdankt sich vielmehr dem generischen Verdacht, mit dem Erscheinen der mobilen Narrative könnten auch vertraute Gattungen nicht mehr dieselben sein. Er überlässt sich der gewagten These, dass man nach dem ludic turn der Narrative auch das klassische Erzählen nicht mehr unverändert ›lesen‹ kann. Das klassische Erzählen war vielleicht, so die Vermutung, immer schon viel ›ludischer‹ und im direkten Sinne programmatischer, als dies die Rede von dynamischen, dekonstruktiven oder leser-generierten Texten nahelegt. In diesem Sinn kartiert mein Beitrag allererst ein Fragefeld, indem er Texte – herkömmliche wie mobile – als literarische Modelle versteht. Der technische und anwendungsbezogene Modellcharakter, der bei digitalen Spielen naheliegt, ist freilich für tradierte literarische Erscheinungsformen erst noch zu ermitteln. Der im Folgenden erprobte Ansatz, der vielleicht als Auftakt einer Archäologie der literarischen Modelle gelten kann, setzt daher bei der Frage an:

2. Was ist ein literarisches Modell?

Die Ausgangsthese dieser Überlegungen ist eine Annahme, die weder sonderlich skandalträchtig noch unwahrscheinlich klingt; die These nämlich, dass Texte modellbildend sind. Zwar ahnt man schon die Aporien, die entstehen könnten, wenn man nach der Art der textuellen Modellierung fragt: Sind Texte Repräsentationen von Modellen, sind sie Material für eine außertextuelle Modellierung, oder modellieren sie am Ende selbst? Verschärft wird diese Ausgangslage durch die Frage nach der Ebene des literarischen Geschehens, das sich als ›Modellpoetik‹ vollzieht. Dies könnte sein: die Ebene der Einzeltexte, der Bereich der Kontexte, sofern man sie sich als Archiv aus Intertexten denkt, die theoretische Debatte über sie, sowie das literatursoziologische Feld.

»The model«, heißt es pointiert in einer Abhandlung zur Rolle physikalischer Modelle, »gives a universe of discourse; it so sets the limit to what can be said«.10 In dieser Wittgensteinschen Volte wird ›Modell‹ geradezu als apriorisches Konzept beschrieben, das den Raum des Sagbaren ermöglicht und vom Unsagbaren trennt. In einem Beitrag zur Modellbildung der Baukunst schreibt der Kunsthistoriker Andreas Lepik, der Begriff ›Modell‹ sei die Bezeichnung für »ein Medium«, das »an der Schwelle zwischen Imagination und Realität« operiere und für »Projektionen« zwischen beiden zuständig sei.11 Wenn also nicht-poetische Modelle schon an der Gestaltung der Kontaktzone von Faktum und Fiktion beteiligt sind, modale Grenzen kreuzen, Handlungsweisen regulieren, Sinnstiftungen kontrollieren und Diskurse definieren, dann wird allerdings die Frage drängend, was die Tätigkeit des Modellierens innerhalb der literarischen Fiktion bewirkt. Was ändert sich, wenn die Modelle auf der Ebene der literarischen Fiktion gebildet werden und was könnte dann ›poetische Modellbildung‹ im Kontext einer transdisziplinären Auseinandersetzung um Modelle heißen, wie sie jüngst nicht nur von wissenschaftshistorischer und informationswissenschaftlicher Seite,12 sondern auch in kunstgeschichtlichen und literaturwissenschaftlichen Forschungskontexten gefordert wird?13 Der vorliegende Beitrag unternimmt hier einen ersten, provisorischen Versuch, die Rolle und Funktion poetischer Modelle als Problem der literarischen Modellbildung zu fokussieren. Er verfolgt das Ziel, durch diese Näherung an zukünftige Forschungsfragen eine disziplinenübergreifende Debatte anzuregen. Dabei hofft er mit dem Optimismus technischer Modellkonzepte, dass der schlichte Ausgangszustand von komplexeren re-entries überwunden werden kann. – Was also ist ein literarisches Modell?

Aus immanenter Perspektive bieten sich zunächst vier Gegenstandsbereiche an: 1. die Sprache selbst als Modellierungstechnik aus Strukturen und Verfahren; 2. die in ihr verdichteten Mytheme oder Topoi; 3. ihr emplotment als Zusammenhang von fabula (Ereignisfolge) und Sujet (Gestaltung), 4. der Bereich der Gattungen. Dem Akt des Modellierens als Gestaltungsweise steht nun das Modell als Träger des mimetischen Begehrens gegenüber: Nachahmung erscheint als modellierendes Verfahren mit Bezug auf ein modellhaftes Objekt. Die gleichsam freie Tätigkeit des Kombinierens trifft hier auf ein selbstgewähltes oder vorgegebenes Regulativ. Zugleich ereignen sich im Akt des Modellierens aber auch Effekte, die der Intention der modellierenden Instanz und der Normierungskraft der Vorbilder entzogen sind. Modellbildung als modellierendes Entwurfsgeschehen produziert stets Überschüsse, die zum einen auf die modellierten Materialien, aber auch auf die im Spannungsfeld von Modellierungsquelle, Modellierungsziel und Modellierungskontext prozessierte Emergenz zurückzuführen sind.

Ein literarisches Modell, so eine erste Antwort auf die Ausgangsfrage, ist, was im Modellbildungsverfahren als modellhaft ausgewiesen wurde oder sich im Rezeptionsprozess als ›vorbildhaft‹ – normierend, steuernd, regelhaft – erwiesen hat. Es ist zugleich der Inhalt eines Urteils (einer modellierenden Instanz), die Folge überraschender Effekte (der Objekte) und der Ausdruck einer nachgelagerten Modellbeurteilung (der Rezeption). Im Rezeptionsprozess vollzieht sich, so die zweite These, ein remodelling der Ausgangsmodellierung – ihr Zusammenspiel entscheidet letztlich über Geltung und Latenz, sprich: über den Modellcharakter des Modells. Modelle, so die dritte These, modellieren aber nicht nur Gegenstände, sondern Wirklichkeitsbezüge, die nicht mit dem Hinweis auf den Modus der Fiktion allein zu klären sind. So hebt bereits das faktuale, nicht-poetische Modellgeschehen im Prozess des Modellierens, Simulierens und Remodellierens die zentrale Differenz von Empirie und Konstruktion nicht einfach auf; es setzt sie für sein Modellierungsziel pragmatisch ein. Modelle sind, wenn man so will, als ontologische Agenten tätig, welche das Reale und das Ideale immer schon im Hinblick auf die faktische Veränderung des Wirklichen betreiben. Was geschieht mit dieser ontologischen Pragmatik, wenn sie in den entpragmatisierten Modus der Fiktion gerät? Auch diese hat den Dualismus des Realen und des Idealen immer schon im Hinblick auf die faktische Veränderung des Wirklichen entworfen – aber im modalen Sinne der Veränderbarkeit dessen, was als wirklich gilt bzw. gelten kann und gelten soll. Poetische und nicht-poetische Modellbildung ergänzen sich insofern, als das literarische Entwurfsgeschehen die Bedingungen des Modellierens selbst zum Thema macht: den Modus seiner Agency.14

›Modellpoetik‹ setzt aus diesem Grunde nicht bei den Modellen selber, sondern bei der Modellierung an. Anstelle einer systematischen Beantwortung der Frage, welchen Elementen eines Textes überhaupt der Status eines literarischen Modells – als Abbild vorgängiger oder Vorbild nachfolgender Elemente – zuzutrauen oder zuzuordnen wäre, geht es um die Analyse des Modellurteils. Wie aber lässt sich ein – zumal historisches – Modellurteil ›remodellieren‹? Was geschieht mit den fiktionsaffinen Strategien der pragmatisch-technischen und epistemischen Modellbildung, sobald sie zu poetischen Fiktionen werden? Eine Antwort hierauf könnte in der Art und Weise liegen, wie ein fiktionaler Text nicht nur die Elemente seiner Ausgangsmatrix, sondern auch sein eigenes Modellsein modelliert. Mit Hilfe einer literarischen Modellpoetik könnte deutlich werden, wie zentral die modusübergreifende Modellbildung (und ihre Theorie) für die Entwicklung, Geltung und Veränderung der Wirklichkeitsverhältnisse in beiden Teilkulturen ist. Der vorliegende Beitrag zielt aus diesem Grunde weniger auf eine ›Theorie der literarischen Modelle‹, als auf die Ermittlung jener theoretischen Beschreibungs- und Verhandlungspotentiale, welche man in den poetischen Modellen und in den Modell-Lektüren, die in sie verwoben sind, vermuten kann.

Zu diesen Thesen gibt es einen Schlüsseltext, der wohl nicht zufällig zur Zeit der ersten kybernetischen Bewegung in den frühen 1950er Jahren publiziert worden ist. Bereits sein Titel – Der Gefesselte – verweist auf ein Zentralproblem des Modellierens: seine ständige Bewegung zwischen dem Notwendigen, Wahrscheinlichen und Möglichen,15 sein Modalitätsmanagement. In Ilse Aichingers Erzählung aus dem Jahre 1951 operiert der namenlose Held in Fesseln mit den Möglichkeiten, die sein Ausgangszustand offenlässt (die Herkunft dieses Zustandes bleibt ungeklärt):

Alle Möglichkeiten lagen in dem Spielraum der Fesselung. Er stützte den Ellbogen auf die Erde und beobachtete das Spielen der Schnur. Sobald sie spannte, gab er nach und versuchte es mit größerer Vorsicht wieder […]. Die Schnur war an den Gelenken festgeknotet, lief aber in einer Art spielerischem Muster von einem zum anderen […], aber sie ließ sich, so locker sie auch schien, doch nicht weiter lockern.16

Der Text setzt also beim Verfahren selber an, er zeichnet einen Handlungsraum, indem er seinen Helden jene Möglichkeiten testen lässt, die man in technischen Verfahren Freiheitsgrade nennt: »Der Freiheitsgrad bezeichnet in der Physik die Anzahl der frei wählbaren, voneinander unabhängigen Parameter eines physikalischen Systems, die dessen Zustand eindeutig kennzeichnen. In der Mechanik drückt der Begriff Freiheitsgrad die Möglichkeit aus, im Raum voneinander unabhängige Bewegungen auszuführen.«17 Ist die Zahl der Freiheitsgrade festgestellt, so ist der Zustand des Systems und des Systemverhaltens vollständig beschrieben (Abbildung 4).

Abb. 4: f = 5-Freiheitsgrade eines Industrieroboters und einer Marionette

In dieser Hinsicht bildet der Gefesselte zusammen mit der Fessel ein Latoursches Mensch-Maschine-Kollektiv, das auf der Basis eines Selbsttests seine Freiheitsgrade bestimmt:

Er versuchte zu gehen und bemerkte, daß die Schnur ihm erlaubte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, wenn er jeden Fuß immer nur um ein bestimmtes Maß vom Boden hob und ihn, bevor die ganze Spannweite ausgemessen war, wieder senkte. In demselben Maß ließ sie auch seine Arme schwingen.18

Dieser Selbsttest ist zugleich ein Modellieren, da der Handlungsraum erst mittels der Aktion geschaffen wird. Er ist insofern ›vollständig‹, als der Gefesselte im Lauf der Zeit den Radius der möglichen Aktionen vollständig beschreibt. An diesem Punkt des Aufrufens und Validierens aller Freiheitsgrade zeigt sich interessanterweise ein Analogon zum mathematischen Modellbegriff im Sinne Tarskis: »A possible realization in which all valid sentences of a theory T are satisfied is called a model of T.«19 Dieser Ansatz ist auch anderweitig narrativ geworden, so in Lems berühmtestem Roman Solaris. In ihm übernimmt der kybernetisch selbsttätige Plasmaozean die Modellierung eines Kindes nach derselben Systematik: dem gezielten Durchspielen der Freiheitsgrade zur Beglaubigung der Theorie. Bereits das Setting der Modellerzählung, vom beobachtenden Aufklärungspiloten im Gerichtsprozess zu Protokoll gegeben, zeigt den Ozean als modellierende Instanz: »Frage: ›Diese Bäume und die anderen Pflanzen, die du gesehen hast, hatten die auch Blätter?‹ Antwort Bertons: ›Nein. Das war nur so die allgemeine Form, so etwas wie ein Modell eines Gartens. Oh, genau! Das Modell! So hat das ausgesehen. Ein Modell, aber wohl in natürlicher Größe.‹«20 Dann modelliert der Ozean das Kind:

»Die Augen haben ihm geblitzt und überhaupt hat es nach einem lebendigen Kind ausgesehen, bloß diese Bewegungen […], wie wenn jemand sie alle durchprobiert […]. Methodisch waren sie. Sie spielten sich der Reihe nach in Gruppen und Serien ab. So, als wollte jemand untersuchen, was dieses Kind mit den Händen zu tun imstande ist, und was mit dem Oberkörper, und was mit dem Mund […]. Bei der Epilepsie sind es Krämpfe und Zuckungen, während es hier vollkommen flüssige und stetige Bewegungen waren, elegante, oder wie soll ich sagen, melodische. […] Außerdem spielten sich alle diese Bewegungen und Mienen mit unerhörter Geschwindigkeit ab.«21

Die Modellierung folgt hier ihren eigenen Gesetzen, deren Effektivität zum einen in der Reduktion der Ausgangseigenschaften der Objekte liegt, zum andern in der Systematisierung der Prozesse, in der ›Eleganz‹ ihrer Simulation. Sie zeugt zugleich von einer unerhörten Agency, durch die der Ozean mit Hilfe seines eigenen Gestaltungsmediums, des Plasmas, die Verhaltensmöglichkeiten (Freiheitsgrade) seiner Gegenstände modelliert.

In Aichingers Modell gewinnt der Modellierer ebenso mit seiner Einübung des richtigen Verhältnisses von ›Spiel‹ und ›Maß‹, des Material- und Eigenanteils am Systemverhalten seiner Fessel, zusehends an Agency: »Er fühlte sich wieder in seiner Macht«.22 Die Pointe dieses Managements der Möglichkeiten liegt darin, die Differenz von eigener und materialer Agency, Option und Restriktion dynamisch aufzulösen. Dabei dient der Satz: ›die Schnur lässt seine Arme schwingen‹ einerseits als Hinweis auf die passive Tendenz des Helden, seine Bindung an ein Medium, zum anderen auf die aktive Ausgestaltung, ja Erweiterung des Handlungsraums. Denn schwingende Systeme schaffen Emergenzen: Durch die Resonanz von Arm und Fessel wird ein neues Vektorfeld eröffnet, das den Möglichkeits- und Aktualisierungsrahmen dehnt. Im Laufe dieser Modellierung en passant – im Gehen, im Progress – wird der Gefesselte zum Virtuosen des Systems. Durch seine Fertigkeit im manipulativen Umgang mit der Fesselung – im Text als »unbegreifliche Anmut« beschrieben –23 avanciert der Held zum Zirkuskünstler, zum ästhetischen Agenten und Objekt:

»Sie sehen den Gefesselten!« Schon seine ersten Bewegungen lösten einen Jubel aus, der dem Tierbändiger am Rand der Arena vor Erregung das Blut in die Wangen trieb. […] Das Staunen der Zuschauer galt einem Vogel, der freiwillig auf der Erde bleibt und sich im Ansatz beschränkt. Wer kam, kam wegen des Gefesselten […]. Sein Ruhm wuchs von Ort zu Ort, aber seine Bewegungen blieben immer die gleichen […].24

Die Modellierungskunst des Helden wird hier selbst zum Fixpunkt des ästhetischen Begehrens, das sich an der Autopoiesis, die das dynamische System aus Fessel und Gefesseltem betreibt, erfreut – der Selbsterhaltung durch Selbststeuerung: »Indem er [der Gefesselte] ganz in ihr [der Fessel] blieb, wurde er ihrer auch ledig, und weil sie ihn nicht einschloß, beflügelte sie ihn und gab seinen Sprüngen Richtung.«25 Damit aber ist die Fesselung zugleich Ermöglichungsbedingung wie Kontrollorgan der Steuerung. Die virtuose Anwendung der Fessel wiederum bewirkt die Eindämmung des Sprunghaft-Arbiträren, kurz: sie stiftet Sinn. So reduziert die Redundanz des Fesselungssystems mit seinen immer gleichen Handlungsabläufen Komplexität und Kontingenz, ist aber durchaus auch für Emergenzen offen: Der Gefesselte berichtet hier »von neuen Bewegungen, die er erlernt hatte, von einem Griff, der ihm klar wurde, als er den Tieren die Fliegen von den Augen scheuchte«.26 Dieser Griff als von der Fesselung erlaubter Zufall kann hier also selbst im Sinne des Systems modellhaft werden, da er seinerseits systemkonforme Handlungen erzeugt. Und in der Tat gelingt dem Modellierungsvirtuosen Großes, wenn er nämlich durch die kluge Nutzung seiner Fessel einen Wolf erschlägt. Auch hier siegt einmal mehr das überlegene Modalitätsmanagement: »Seine Freiheit in diesem Kampf war, jede Beugung seiner Glieder der Fessel anzugleichen […]. Er fühlte […], wie seine Griffe fast ohne Anstrengung die äußerste Kraft erreichten, wie die Fessel ihn nirgends hinderte«.27 Nur konsequent ist daher, was aus dem Verlust der Fessel folgt, als diese dem Gefesselten am Ende gegen dessen Willen durchgeschnitten wird: er bringt nicht nur die tänzerische Anmut zum Verschwinden, sondern führt den völligen Zusammenbruch der Agency des Modellierers und des literarischen Erzählsystems herbei.

Wie lässt sich dieses Amalgam aus Fessel und Gefesseltem, aus Individuum, Institution und Publikum in Aichingers Erzählung systematisch fassen? Meine These hierzu lautet, dass in Aichingers Erzählung das Modellsein des Modells verhandelt wird. Wenn das System aus Fessel und Gefesseltem hier als Sujet, Allegorie und Ausweis einer Poetologie fungieren kann, so deshalb, weil dies klassische Verfahren fiktionaler Modellierung sind.28 Doch diese Ansicht impliziert noch nicht, dass jeder Gegenstand der strukturalen, allegorischen und metafiktionalen Modellierung selbst schon als Modell entworfen, also im Entwurfszusammenhang des Textes mit Modellfunktion versehen worden ist. Was für Modelle schon im Allgemeinen gilt, muss nämlich auch für literarische Modelle gelten: Alles kann Modell werden, aber nicht alles ist ein Modell.29

Es geht hier also keineswegs darum, dem literarischen Objekt mit Hilfe des Modellgedankens eine neue strukturale oder hermeneutische Methodik anzutragen. Die hier vorgelegte These trägt vielmehr dem Umstand Rechnung, dass poetische Produkte selbst Modellbildungen, nämlich Narrationen, Inszenierungen und Performanzen modellierender Prozesse sind. Wenn dem so ist, dann ist es freilich alles andere als kontingent, sie mit den Mitteln einer Forschung aufzuschließen, die gerade diesen modellierenden Prozess ins Zentrum ihrer Analysen stellt. Da diese Forschung einem außerliterarischen Bereich entstammt, der aber mit dem literarischen koextensiv zu denken ist, kann hier von einem Beispiel echter Transdisziplinarität gesprochen werden. Folglich wird die Aufgabe der literarischen Modellpoetik weniger darin bestehen, ab origine zu definieren, was als literarisches Modell bewertet werden kann (so wie man etwa Vers, Metapher oder diegetische Funktionen definiert); es gilt hier eher zu ermitteln, was im Zuge einer literarischen Modellbildung von dieser selbst und den remodellings der textbezogenen Lektüren (ihrer ›Anwendung‹) als Quellsystem, Objekt und Modellierungsziel beurteilt, zum Modell erhoben und vertextet worden ist. In diesem Sinne ist Modellpoetik einerseits ein produktionsästhetisches Verfahren, da sie nach den Urteilen, Modellakten und Direktiven fragt, die das Modellgeschehen steuern und bewerten. Sie ist andererseits ein rezeptionsästhetisches Verfahren, da sie nach der Weise fragt, wie eine Produktionsgemeinschaft 1. an der Modellierung literarischer Objekte tätig ist und 2. literarische Objekte als Modell für Anschlussproduktionen wählt. Hier liegt die These nahe, dass die produktionsästhetische Entscheidung des Modellurteils nicht nur den Text als immanente Einheit steuert, sondern auch die Anschlussproduktionen, die sich – explizit und implizit, durch Adaption und Subversion, als Hermeneutik und Kritik – in ihrer eigenen Modellbildung auf ihn beziehen. Und dies nicht im Sinne einer Determination der Deutung, sondern der Ermöglichung von Rekursionen im dynamischen remodelling.

Was also im Gefesselten genau geschieht, lässt sich vor diesem Hintergrund noch deutlicher erfassen, wenn man es im Kontext einer allgemeinen Modelltheorie reflektiert. Bevor zu diesem Theorieproblem ein Vorschlag unterbreitet wird, erfolgt zunächst ein Blick auf den historischen und aktuellen Theoriehorizont.

3. Modell-Parabeln

3.1 Theorieverluste

Eine literaturwissenschaftliche Modelltheorie im engeren Sinne gibt es bisher nicht. Das mag nicht nur als produktionsästhetischer Verzicht erstaunen, da die Tätigkeit ästhetischer Verfertigung, Verwandlung und Beurteilung ja stets auch eine Antizipation externer Auffassungen mitumfasst – ein Anwendungskalkül. Auch ontologisch bietet der Modellbegriff sich als Vermittler von empirisch-realistischen und ideell-konstruktivistischen Verhandlungspositionen an, zumal er sich als Schnittpunkt zweier ontologischer Bewegungen erweist: Er reguliert zum einen die Bewegung vom realen Pol des Quellsystems (der Empirie) zum konstruktiven des Entwurfs (der Auffassung), zum andern die Bewegung vom Objekt (als Gegenstand der Wahl und Emergenzprozessor) zum Modellobjekt (als Trigger einer Anwendung). Die Idealität der Modellierung ist auf diese Weise dreifach auf die Empirie bezogen: als mimetische, transformative und begründende Operation. Gerade hier ist mimesis auch poiesis – die Modellierung eines operationalen Wirklichkeitsbezugs, in dem neuralgische Aspekte wie die Differenz von fact und fiction oder das Problem von Repräsentation und Performanz methodisch aufgehoben sind. Gerade hier liegt die zentrale Stärke des Modellkonzepts: es bindet nicht nur (wie das Schema Kants) Begriffe an konkrete Anschauungen, sondern Kognitionen an ein Handlungsziel. Es geht somit um die allmähliche Verfertigung der Relation von Konzeption und Handlung, Planung und Verwirklichung im Modellieren, kurz: um eine Denkpragmatik, welche man gemeinhin als Entwerfen charakterisiert.30

Die Gründe jener überraschenden Modellvergessenheit sind wissenschaftsstrategischer Art. So ist die Neuausrichtung des Modellbegriffs im kybernetischen Diskurs zwar in der Theoriebildung der Geisteswissenschaften als Option verhandelt worden, wurde aber rasch zugunsten anderer Konzepte (der Struktur, des Zeichens, des Systems, etc.) verworfen. Ungeachtet seiner Nähe zu den mathematischen und kybernetischen Projekten seiner Zeit hat der kulturpoetische Diskurs von Lévi-Strauss bis Greenblatt keine Modelltheorie etabliert. Dies ist bedauerlich, da das dynamische Profil des Modellierens, einer Tätigkeit, die konstruktive Idealität, empirische Bestandsaufnahme und erkenntnisleitende Pragmatik ineinanderführt, dem oft betrauerten Entwicklungsdefizit des Strukturalen einen Ausweg hätte weisen können – umso mehr als die Modellbildungsfunktion von Texten zu den großen unvollendeten Projekten des Strukturalismus, also auch zur Basis literaturwissenschaftlicher Arbeit gehört. Man kann hier einen echten Theorieverlust, ja Theorieverzicht beklagen, wenn man konstatiert, dass am Beginn der strukturalen Theoriebildung nicht die Strukturen stehen, sondern das Modell. Modelle, so die überraschende Erkenntnis, sind das epistemische Arkanum, das verdeckte Andere des strukturalen Theoriedesigns.

3.2 Modell und Struktur

Schon 1959 hat Claude Lévi-Strauss in seiner Strukturalen Anthropologie Strukturen auf Modelle gegründet:

Das Grundprinzip ist, daß der Begriff der sozialen Struktur sich nicht auf die empirische Wirklichkeit, sondern auf die nach jener Wirklichkeit konstruierten Modelle bezieht. […] Die sozialen Beziehungen sind das Rohmaterial das zum Bau der Modelle verwendet wird, die dann die soziale Struktur erkennen lassen.31

Die Modelle dienen also der Strukturerkenntnis, sie verwenden Empirie als Material. Modelle, nicht Strukturen, bilden hier »das eigentliche Objekt der Strukturanalysen«. Damit wird die Frage drängend, »woraus diese Modelle bestehen«.32 Lévi-Stauss versucht hierauf – in expliziter Anlehnung an John von Neumann – eine erste Antwort:

Wir glauben, daß Modelle, wenn sie den Namen Struktur verdienen sollen, vier Bedingungen unbedingt erfüllen müssen. Erstens zeigt eine Struktur Systemcharakter. Sie besteht aus Elementen, die so angeordnet sind, daß die Veränderung eines [dieser Elemente] eine Veränderung aller übrigen nach sich zieht.33

Damit freilich ist zunächst ein Merkmal der Struktur beschrieben und, da das Modell ja offenbar den Status der Struktur erreichen soll, die Unterscheidung von Strukturen und Modellen wieder aufgehoben. Ein verdienstvolles Modell, so kann man schließen, ist nichts anderes als eine funktionierende Struktur.34 »Zweitens«, heißt es weiterhin, »gehört jedes Modell zu einer Gruppe von Umwandlungen, deren jede einem Modell derselben Familie entspricht, so daß das Ganze dieser Umwandlungen eine Gruppe von Modellen bildet.«35 Diese Anleihe bei einem gruppentheoretischen Konzept von Modellierung bleibt in dieser Form schlicht unverständlich, weil sie zwar Transformation behauptet, aber keine Übertragung auf ihr eigenes Objekt betreibt.36 Gemäß der dritten These, die man als Prognostik charakterisieren kann, »erlauben die eben genannten Eigenschaften vorauszusagen, wie das Modell bei einer Veränderung eines seiner Elemente reagieren wird.«37 Abgesehen davon, dass ja keine Eigenschaften des Modells benannt worden sind, zielt diese These offenbar auf eine Änderung nicht etwa der mit Hilfe des Modells analysierten Quellsysteme (etwa der Sozialstrukturen), sondern auf Veränderungen der Modelle selbst. Die Änderung der Elemente durch Vernetzung oder Kopplung war jedoch (in These 1) als ein Systemverhalten der Struktur beschrieben worden, womit hier nur die Behauptung folgt, Strukturveränderungen seien aus sich selbst vorhersagbar. »Und letztlich«, so die Abschlussthese, »muß das Modell so gebaut sein, daß es allen festgestellten Tatsachen Rechnung tragen kann«.38 Da aber gar nicht klar ist, welche Tatsachen hier angesprochen sind, bleibt Lévi-Strauss’ Modellbau ein Fragment. Auf dieser brüchigen, im Grunde gar nicht existenten Basis eruiert der strukturale Denker dann den Unterschied (bzw. dessen Fehlen) von bewusstem und unbewusstem Modell:

Ein Modell mag bewußt oder unbewußt sein, diese Tatsache berührt seine innerste Natur nicht. Man kann nur sagen, daß eine oberflächlich im Unterbewußten verborgene Struktur die Existenz eines Modells, das diese Struktur dem kollektiven Bewußtsein verhüllt, wahrscheinlicher macht. Tatsächlich zählen ja die bewußten Modelle – die man allgemein Normen nennt – zu den armseligsten, die es gibt, wegen ihrer Funktion, die mehr darin besteht, den Glaubensinhalten und Bräuchen zur Dauer zu verhelfen, als ihre Quellgründe freizulegen.39

Problematisch ist hier die erneute Konfundierung des Modell-Struktur-Bezugs, zumal Modelle jetzt zu Normsystemen eingeschränkt und mit dem Malus ausgestattet werden, nicht erkenntnistheoretisch tätig, weil nicht investigativ zu sein. Verdunkelt wird auf diese Weise die Funktion verschiedener Modelltypen wie der normierenden (regulativen), analytischen (prognostischen), mimetischen (reproduktiven) und entwerfenden (auf Emergenz basierenden) Modellbildung. Sie könnte man heuristisch als Modellverfahren deuten, die als transdisziplinäre auch strukturbildend sind.40 Bemerkenswert an Lévi-Strauss’ Bemerkung ist indessen etwas anderes: Modelle gelten ihm hier als soziale Produktionen, die Strukturen sichtbar machen, aber auch verbergen und durch sie verborgen werden können. Wenn Strukturen aber nur mit Hilfe von Modellen sichtbar werden, diese wiederum von den Strukturen (zumal unbewussten) oftmals selbst verborgen sind, dann ist der Zugang zu Modellen und Strukturen gleichermaßen unbequem.

Der Theoretiker begegnet dieser Problematik mittels dreier Unterscheidungen: 1. empirische Beobachtung vs. Modellbau, 2. Modellbau vs. Modellanalyse, 3. mechanische vs. statistische Modelle.41 Die Ebene der Phänomenbeobachtung führt zur Genese von Modellen ›erster Ordnung‹, dem Modellbau, der nicht mit der Analyse von Modellen zu verwechseln sei: »Die Beobachtung der Phänomene und die Erarbeitung von Methoden, die ihre Anwendung auf die Konstruktion von Modellen gestatten [Modellbau], dürfen nie mit dem Experimentieren an den Modellen selbst verwechselt werden [Modellanalyse].«42 Dieses Experimentieren mit Modellen ist ein klassisches Verfahren der Modelltransformation, die in der Modellierung mit bereits vorhandenen abstrakten Modellierungen, wie etwa bei der Übertragung von Modellen zwischen Disziplinen, besteht. Mechanische Modelle werden dabei aus den Elementen der beobachteten Phänomene selbst gebildet, während die statistischen Modelle, grob gesprochen, Modelle aus Modellen sind. Aus strukturaler Perspektive wäre hier von einer Tätigkeit der Übersetzung (nicht der Metaphorisierung) auszugehen, die sich auf die Existenz universaler Grundstrukturen (auf Strukturhomologien und -analogien) bezieht: »Die strukturalen Untersuchungen wären kaum von Inter-esse, wären die Strukturen nicht auf Modelle übertragbar, deren formelle Eigenschaften unabhängig von den Elementen, aus denen sie sich zusammensetzen, miteinander vergleichbar sind.«43 In diesem Sinn besteht die Aufgabe der strukturalen Tätigkeit darin, Modelle mit Modellen zu vergleichen und Modelle von Modellen zu entwerfen.44 Sie verfolgt, so Lévi-Strauss in wünschenswerter Klarheit, »nur ein Ziel, nämlich Modelle zu erstellen, deren formelle Eigenschaften vom Standpunkt des Vergleichens und Erklärens auf Eigenschaften anderer Modelle zurückgeführt werden können, die selbst zu anderen strategischen Ebenen gehören.«45 Diese Überlegung ist der erste Teil der Antwort auf die Frage, welche Art Modell den Namen ›Struktur‹ verdient: ein intermodellares Modell. Der zweite Teil der Antwort lautet: ein Modell, das jenen Teil der Wirklichkeit repräsentiert, der sich von selbst zur Modellierung eignet. Welcher Teil der Wirklichkeit sich allerdings zur Modellierung eignet, sein ›strategischer Wert‹, ist das Entscheidungsprivileg des Theoretikers: »Der Strukturalist hat die Aufgabe, jene Ebenen der Wirklichkeit zu erkennen und zu isolieren, die von seinem Standort aus einen strategischen Wert besitzen, anders ausgedrückt, die, wie immer sie aussehen mögen, in Form von Modellen dargestellt werden können.«46 Neben Kopplung, Restriktion, Ermöglichung, Verhüllung und Entbergung tritt mithin als weitere Modellfunktion die funktionale Ähnlichkeit hinzu. Ein gut gewähltes resp. gut gelungenes Modell ist also eines, das die ›Ebenen der Wirklichkeit‹ dort abholt, wo sie selbst bereits im Sinne eines Theoriemodells modellhaft sind (mechanisches Modell) und das, zum zweiten, von den Elementen, die es darstellt, unabhängig ist (statistisches Modell). Entsprechend hat auch Julia Kristeva Semiotik als Modelltheorie definiert:

Thus, when we say semiotics, we mean the […] development of models, that is, of formal systems whose structure is isomorphic or analogous to the structure of another system (the system under study). […] Obviously, a theory is always implicit in the models of any science. But semiotics manifests this theory, or rather cannot be separated from the theory constituting it, that is, a theory which constitutes both its object (the semiotic level of the practice under study) and its instruments (the type of model corresponding to a certain semiotic structure designated by the theory. […] This means that semiotics is at once a re-evaluation of its object and/or of its models, a critique both of these models […] and of itself […].47

Selbst wenn man bei Strukturhomologien skeptisch ist, so deutet doch die Vorstellung von einer Kopplung der semiotischen Verfahrenstechniken mit ihrem Untersuchungsgegenstand und ihrer Theorie bereits auf ein modellpragmatisches Konzept voraus. Die ›Manifestation‹ der Modellierungsstrategien – Nachvollzug, Rekonstruktion und Reflexion – ist in der Tat die Hauptaufgabe der modellpoetischen Lektüre. Während allerdings bei Kristeva die Differenz von impliziter Theorie (der wissenschaftlichen Modelle) und semiotischer Objektgenese (der semiotischen Lektüre) zur Semiotik aufgehoben wird (als wäre die semiotische Lektüre eine Leistung der Objekte selber oder diese ein Produkt der Theorie), wird ein modellpoetisches Konzept den unabhängigen Charakter beider Modellierungsweisen – der poetischen Modellbildung und ihrer Analyse – als Problem entwerfen. Dies liegt nicht zuletzt am notwendig erweiterten Modellbegriff, der gegenüber logisch-mathematischen Konzepten zu berücksichtigen ist. Wie Reinhard Wendler pointiert bemerkt: »Materielle, bildhafte, poetische, produktiv unscharfe Modelle sind keine sozusagen umgangssprachlichen oder laienkulturellen Privatisierungen eines vermeintlich eigentlichen formalsprachlichen Modellbegriffs.«48

Da Lévi-Strauss zufolge modellierte Wirklichkeit die Wirklichkeit sozialer Formen ist (und nicht natürlicher im Sinne der exakten Wissenschaften), ist die Konstruktivität derselben unschwer einzusehen. Der Modellbeobachter beobachtet auf diese Weise eine Matrix, die man als modellaffin beschreiben kann. Nun könnte man auch literarische Produkte als soziale Formen fassen, die durch ihre Konstruktivität modellaffin und daher für Modellbeobachtung besonders aufgeschlossen sind. Was aber wäre ihre Rolle und Funktion im Rahmen von Modellbildungsprozessen? Und wie liegen sie als Texte vor?

3.3 Modell und Text

Niemand wird bestreiten, dass man fiktionale Texte als Akteure in Entwurfsprozessen charakterisieren kann. Dies findet quasi täglich auf der Ebene von Zitationen, Aufführungen oder medialen Aneignungen statt, wo immer ein Entwurfsgeschehen sich an fremdem textuellen Material bedient. Prekärer ist die hier erprobte These, derzufolge Texte selbst Entwurfsprozesse sind. Sie bilden, so die Überlegung, einen Typus von Entwurfsprozessen, der mimetische, regulative und entwerfende Modelle integriert. Es wird im Sinne dieser These also nicht nur mittels Texten, sondern auch in Texten modelliert. Ein solcher Ansatz ist nicht ohne Schwierigkeiten, weil er sich zu wesentlichen Argumenten der Text-Kontext-Theorie verhalten muss.

Bevor man also danach fragen kann, wie Texte selbst modellhaft werden oder modellieren, muss man sich noch einmal vergewissern, was man unter ›Text‹ verstehen will. Ein Text, so Moritz Baßler, ist nicht nur ein Kombinat aus Paradigma und Syntagma, sondern eine Repräsentation, die so beständig ist, dass man sie jederzeit und wiederholt analysieren kann.49 Mentale Repräsentationen, Performanzen und Computerspiele sind nach dieser Ansicht keine Texte, da sie erst analysierbar werden, wenn sie – nachträglich – vertextet worden sind. Dann freilich sind sie auch nicht mehr sie selbst. Um Texte von dynamischen Systemen abzugrenzen, kommt der Kontextanalytiker dabei zu ebenso markanten wie bedenkenswerten Thesen: Einerseits, so Baßler kühn, sind Texte »keine Aussagen« und keine Kommunikationen: »Man kann Texte lesen, auch wenn einen ihre Aussagen nicht weiter betreffen, und man kann Texte sogar dann noch lesen, wenn ihnen niemals eine Aussage zugrundelag, so wie man Fährten lesen kann ohne oder gar gegen die Absicht des Wildes.« Dementsprechend wären Texte zu begreifen »als etwas […], das nicht selbst Kommunikation ist, auf das Kommunikation jedoch zurückgreifen kann, indem sie sie als Aussagen konstruiert«.50 Aus diesem Grund, so Baßlers Lösung, seien »Texte nicht als Teile, sondern als Umwelten sozialer Systeme zu begreifen«.51 Damit aber haben Texte, streng genommen, keine Agency, bzw. sie erhalten Agency erst dadurch, dass sie Teil von Kommunikationen werden. Es ist ihnen keine eigene Pragmatik inhärent. Auf diese Weise unterscheiden Texte sich im Grundsatz von Systemen: »Systeme sind keine Texte, und vor allem sind Texte keine Systeme«, heißt es bei Baßler prägnant.52 Der Kontexttheoretiker kann sich hier ausdrücklich auf Luhmann selbst berufen, der denselben Gegensatz nicht weniger prägnant markiert: »die Gesellschaft besteht aus Kommunikationen (nicht etwa: aus Texten), und Kommunikationen sind Ereignisse, nicht Objekte.«53 Texten mangelt also der Charakter der Ereignishaftigkeit, der Temporalität. Als Dauerspeicher mit unendlicher Verfügbarkeit und Wiederholbarkeit kommt ihnen Dingcharakter zu, und dieser erst verleiht ihnen den kulturellen Wert als Analysegegenstand. Die Statik aber, die den Texten als Objekten, Materialien oder Medien eignet, gilt es ernstzunehmen, umso mehr, wenn man die Dimension von Text und Anwendung, die literarische Modellbildung zum Thema macht. Denn wie, so Baßler, »soll man je Ereignisse […] zum Gegenstand von Beschreibung oder zum Ausgangspunkt für Abstraktionen machen, solange sie keine Objekte sind, die stillhalten?«54

Auf diese Frage könnte man zwei Antworten versuchen. Die radikalere zielt auf die Temporalisierung der gewählten Analysetechnik, während sich die zweite auf die Möglichkeit der Speicherung von Temporalität im Text bezieht. Wo Analyse selbst dynamisch wird und der Dynamik ihres Gegenstandes folgt, dort könnte sie auch in der Lage sein, abstrakte Modellierungen gewissermaßen in progressu über ihren Gegenständen zu errichten. Diese Form der Analyse ist vielleicht noch keine Interpretation und überdies ein Leistungsmerkmal von Maschinen, aber doch ein Analysetool, das temporale Abläufe – Systemverläufe und -ereignisse – auch und gerade dann erfassen kann, wenn diese instantan, nicht-wiederholbar, also nicht vertextet sind. Die Analyse selbst bringt hier im Nachvollzug den Text hervor, der dann zwar nicht mit dem beschriebenen Prozess identisch, aber durchaus mehr als nur ein Protokoll desselben ist. Die Analyse ist hier nämlich – so die These – derart eng mit der Entwicklung ihres Gegenstands verwoben, dass sie sich von diesem nur heuristisch unterscheidet und die Sekundärvertextung, die sie leistet, als primär erscheinen lassen kann. Hier wird der Unterschied von Gegenstand und Analyse selbst auf eine Weise uneindeutig, die zugleich die herkömmliche Vorstellung von Flüchtigkeit und Dauer suspendiert. Der Gegenstand analysiert sich hier in seiner Prozessierung und mit Hilfe seiner Analysetools gewissermaßen selber, er entwickelt eine Agency, die im Verschwinden Permanenz erzeugt. Er produziert dann nicht nur, wie das Wild, prekäre, nämlich ephemere Spuren, sondern eine dichte Selbstbeschreibung, die auch wiederholbar und für Anschlussinterpretationen, aber auch für Anschlussprozessierungen, für Redynamisierungen und -temporalisierungen geöffnet ist. Ein solcher Text, der mit der Analyse quasi gleichursprünglich ist, gehört dann immer noch zur Umwelt von sozialen Kommunikationssystemen, doch er wird auch selbst systemisch aktiv.

Der zweite Punkt, die Speicherung von Temporalität in Texten, ihre Repräsentation und Archivierung, lässt sich aus der Perspektive einer literarischen Modellpoetik als ›latente Agency‹ beschreiben, als modales Potenzial poetischer Modellbildung. Wenn Baßler daher vorschlägt, »Schnittstellen zu […] Diachronie-Theorien zu formulieren«, da »Entwicklungsmodelle, die archivanalytische Befunde in diachrone Aussagen überführen […] einer synchron operierenden Texttheorie und einer archivanalytischen Methodik nicht zu entnehmen« sind,55 so greift die literarische Modellpoetik diesen Vorschlag nachdrücklich auf. Indem sie den archivpoetischen Zentralgedanken, die Strukturen im Archiv der Texte aufzusuchen,56 mit der jeder Modellierung inhärenten Doppelgliedrigkeit von Adaption und Rekursion verbindet, hat sie eine ›dynamische Archivpoetik‹ im Blick.

3.4 Modell, System und Spiel

Künstlerische Texte, so der zweite Hauptsatz Juri Lotmans, sind Systeme, die Modelle bilden; als poetische Systeme sind sie gegenüber nicht-poetischen Systemen sekundär. Der künstlerische Text ist freilich mehr als die poetische Verdichtung eines vorgegebenen, primären Sprachgebrauchs. Er ist ein eigenständiges Entwurfsgeschehen, das mit Hilfe einer eigenen, der »sekundären Sprache« modelliert:57 »Die Sprache eines künstlerischen Textes ist ihrem ganzen Wesen nach ein bestimmtes künstlerisches Modell der Welt und gehört in diesem Sinne mit ihrer ganzen Struktur zum ›Inhalt‹ […]«.58 Das Modell wird somit in der Tat – als »Weltmodell« und als Strukturmodell – zum Inhalt der poetischen Fiktion.

Mit Blick auf diese Leistung der Modelle zeichnet sich bereits bei Lotman eine Abkehr von der Abbildtheorie des Modellierens ab: »Ein sekundäres modellbildendes System vom Typ Kunst konstruiert sein eigenes System von Denotaten, das nicht etwa eine Kopie, sondern ein Modell der Welt der Denotate in allgemeinsprachlicher Bedeutung darstellt.«59 Dabei tritt das Textmodell zugleich auch in Distanz zu seinem Quellsystem, auf das es differentiell reagiert: »Ein künstlerischer Text ist keine Kopie eines Systems: er fügt sich aus bedeutsamen Erfüllungen und bedeutsamen Nichterfüllungen der Forderungen des Systems zusammen.«60 Wo gleichwohl von Abbildung die Rede ist, wird sie zum Synonym für amimetische Modellbildung im angeführten Sinne. Sie ersetzt zugleich den Dualismus Inhalt/Form durch eine ›idealreale‹ Wirkstruktur:

Eine Idee ist in der Kunst ist immer ein Modell – denn sie schafft ein Abbild der Wirklichkeit. Infolgedessen ist eine künstlerische Idee außerhalb einer sie realisierenden Struktur undenkbar. Der Dualismus Form – Inhalt muß ersetzt werden durch den Begriff der Idee, die sich in einer adäquaten Struktur realisiert und außerhalb dieser Struktur nicht vorhanden ist.61

Dies gilt auch für die Ebene der Zeichen: »Eine Abgrenzung von Ausdrucks- und Inhaltsebene in dem in der strukturellen Linguistik üblichen Sinne ist [in der Kunst] überhaupt schwer vorstellbar. Das Zeichen ist hier das Modell seines Inhalts.«62 Die künstlerische Poiesis entwirft dabei aus ihren Materialen, welche »ihrem Wesen nach systemhaf[t]« sind, in ihrer sekundären Modellierung »ein Modell des Nichtsystemhaften«.63 Die Kreuzung der am künstlerischen Text beteiligten Systeme, des primären und des sekundären, bringt hier also ein Modell hervor, das etwas Nichtsystemhaftes hervorbringt – ein Entwurfsmodell. Es löst das Repräsentationsmodell strategisch ab. Hier nähert sich das Lotmansche Verfahren einer Theorie poetischer Erkenntnis, die auf zwei Voraussetzungen ruht: zum einen bildet das Modell des Nichtsystemhaften die Matrix einer neuen Modellierung, die als sekundäre wieder selbst systemhaft wird (als künstlerischer Text). Zum zweiten stellt sich bei der sekundären Modellierung das Problem der künstlerischen Agency. Dieselbe sei, so Lotmans These, von der lebensweltlichen Pragmatik strikt zu trennen – wenn auch niemals ganz: »Im Bereich der Verhaltensweisen [sind] praktische Tätigkeit und ›Arbeit am Modell‹ scharf getrennt, obwohl sie miteinander korrelieren.«64 Dieses Korrelieren, die geteilte Agency von lebensweltlicher und fiktionaler Praxis an der Grenze von Systemhaftem und ›Nichtsystemhaftem‹, gerät nun zusehend ins Zentrum von Lotmans Modelltheorie. Wenn die Systeme nämlich mit der Modellierung erst entstehen, dann befriedigt eine strikte Trennung nicht. Hier findet sich zum Glück, so Lotman, »eine modellierende Tätigkeit, der eine solche Abgrenzung nicht eigentümlich ist: das Spiel.«65 Mit dieser Tätigkeit des Modellierens, die real und irreal, pragmatisch und symbolisch, regelhaft und zufällig zugleich erscheint, gelingt es Lotman, das Modell des künstlerischen Textes auf drei Phänomene hin zu öffnen: Kontingenz bzw. Indeterminiertheit, Emergenz und Performanz: »Das Spiel modelliert die Zufälligkeit, die unvollständige Determiniertheit, die Wahrscheinlichkeit von Prozessen und Erscheinungen […]. Das Spiel reproduziert auf besondere Weise die Vereinigung von gesetzmäßigen und zufälligen Prozessen.«66 Sein »Mechanismus« ist sein Modalitätsmanagement:

Der Mechanismus des spielerischen Effekts beruht nicht auf einer statischen gleichzeitigen Existenz verschiedener Bedeutungen, sondern auf dem ständigen Bewußtsein der Möglichkeit anderer Bedeutungen. Der spielerische Effekt besteht darin, daß die verschiedenen Bedeutungen eines Elementes nicht unbeweglich koexistieren, sondern »flimmern«.67

Als »quasi-Tätigkeit« erhält das Spiel bei Lotman die Funktion, die Modellierung fiktionalen Handelns darzustellen. Sein Pendant ist die Modellbildung der Wissenschaft. Aus Spiel und Wissenschaft entsteht, so Lotmans kühne These, das Modell der Kunst:

Künstlerische Modelle nun stellen eine in ihrer Art einzige Vereinigung von wissenschaftlichem und Spielmodell dar, indem sie gleichzeitig den Intellekt und das Verhalten organisieren. Das Spiel erscheint im Verhältnis zur Kunst als inhaltslos und die Wissenschaft als wirkungslos.68

Die Spiel- und Wissenschaftsmodelle liefern hier die rein formalen Mechanismen für das Kunstmodell. Mit diesem Hinweis auf die Leistung nicht-poetischer Modelle im poetischen Modell führt Lotman einerseits die Frage nach der Existenz und Art poetischer Systeme auf die Frage nach Modelltypen zurück und gibt, zum anderen, den Auftrag, diese nicht-poetischen Modelle als Konstituenten literarischer Systeme ernstzunehmen. Auch in diesem Sinne ist die literarische Modellpoetik ein ›intermodellares‹ Projekt. Das Faszinierende an Lotmans Ansatz ist jedoch der Umstand, dass der Kunstwerktypus, den er hier beschreibt, zu seiner Zeit noch gar nicht existiert: das digitale Spiel. Im digitalen Spiel, so meine These, zeigt sich erstmal die Struktur des künstlerischen Textes, die der Theoretiker prophetisch proklamiert. Sein Proprium ist – neben der geteilten Agency von Produzent und Rezipient im Spielen und Erzählen – sein Modalitätsmanagement.

Nach Darin Tenev funktioniert das Kunstwerk als Prozessor fiktionaler Potentialitäten, die es im Verlauf des (zwischen Produzent und Rezipient geteilten) Narrativs nicht etwa aktualisiert – z.B. dadurch, dass es sie in Plot verwandelt –, sondern als Potenzen sichtbar macht. Auf diese Weise aber ›potenzialisiert‹ das Kunstwerk auch die Aktualisierung seiner Potentiale – und limitiert sie zugleich. Als Aktualisierung eines Werkes treten theoriegeleitete Lektüren in Erscheinung, die dann freilich nicht mehr dessen Potenzialisierungstrategie beschreiben, sondern Darstellungen ihrer eigenen Prinzipien (Vorannahmen, Theorien, Klassifikationen und Verfahren) sind. Im Sinne dieser Aktualisierungen ist das konkrete Werk stets prädeterminiert; tatsächlich aber tritt das Kunstwerk als Ermöglichungsbedingung seiner Aktualisierungsweisen auf. Der Weg zum nichtdeterminierten Raum der Möglichkeiten ist nach Tenev daher nicht durch Kategorisierungen (im Sinne theoriegeleiteter Konzepte), und auch nicht durch theoriefreie Divinationen (etwa als Verweis auf Exemplarität) zu finden,69 sondern nur durch eine Freilegung der Potenzialisierungstätigkeit des Kunstwerks selbst. In dieser individuellen, nicht-verallgemeinerbaren Regulierung seiner Möglichkeiten liegt das theoretische Kalkül des Werks verborgen, sein Modell. Das Kunstwerk funktioniert hier aber nicht als ›Möglichkeitscontainer‹, der vom Rezipienten gleichsam zu ›entleeren‹ wäre, sondern als Prozessor der modalen Rekursivität. ›Modellidentität‹ im Sinne dieses Ansatzes ist der beständige re-entry der gemeinsam prozessierten Aktualisierungen in den Kontrollbereich der textuellen Materialität. Der Zugang zum Modell gelingt dabei nach Tenev nicht durch den direkten Zugriff, sondern nur durch eine Analyse jener Aktualisierungen, die in den theoriegeleiteten Lektüren immer schon geleistet sind. Um also ein poetisches Modell auf seine Potenzialisierungskraft zu testen, müsse man, so Tenev, auf der Basis der im Werk verfügbaren Parameter Lektüren produzieren, die sich gegenseitig regulieren, kontrollieren, ergänzen und ersetzen. Diese Forderung bedeutet freilich nichts Geringeres als die Beteiligung an der Modellbildung des Textes selbst, den Eintritt ins Entwurfsgeschehen, der die Interpretation als Produktion im eigentlichen, nämlich nicht-metaphorischen Sinne versteht. Schon Lévi-Strauss hat diese Partizipation – als virtuelles Management der Möglichkeiten – in seinem Konzept eines modèle reduit eruiert:

Allein durch die Betrachtung gelangt der Zuschauer […] in den Besitz anderer möglicher Modalitäten des gleichen Werkes, als deren Schöpfer er sich mit größerem Recht fühlt denn der Schöpfer selbst […]; und jede dieser Möglichkeiten bildet eine zusätzliche Perspektive, in der das verwirklichte Werk gesehen werden kann. Anders ausgedrückt, die innere Kraft des verkleinerten Modells besteht darin, daß sie den Verzicht auf sinnliche Dimensionen durch den Gewinn intellektueller Dimensionen ausgleicht.70

Tenev wiederum betont hier noch entschiedener den ‚nicht-verwirklichten‘ Charakter eines Textes und beschreibt ein partizipatives Interpretationsgeschehen, das das Spektrum der im Kunstwerk modellierten Möglichkeiten gleichsam mitmodelliert.71Damit aber wäre die Bezugnahme zum Textmodell nicht länger eine analytische (im Sinne des Erklärens), keine deutende (im Sinne des Verstehens), und auch keine nur-supplementäre (des Ersetzens und Ergänzens), sondern eine simulierende, entwerfende. Poetische Simulation löst somit die empirische Beschreibung und die hermeneutische Erschließung als Verfahren ab. Man könnte formulieren: Sie ›spielt‹ den poetischen Text. Der gleichsam ludische Progress, der jenseits von Erklären und Verstehen auf die Teilhabe am literarischen Entwerfen zielt, kann also die der Modellierung eigenen Kalküle oder Algorithmen simulierend mitvollziehen, kurz: er resoniert.

Was hier abstrakt erscheint, im Gaming wird es evident. Denn jeder Spieldurchgang vollzieht ja faktisch eine Tenevsche Lektüre, die den Raum der Möglichkeiten und mit ihm die Form – von Tenev auch ›Transform‹ genannt – der Spiele und des Spielens aktualisiert. Die Aktualisierung bleibt dabei auf höchst konkrete Weise temporär – als Ausdruck und Bewusstheit ihrer zahlreichen Alternativen, die den Text / das Spiel im Sinne Lotmans ›flimmern‹ lässt. In diesem Flimmern wird auch das Verhältnis von Modell und Form justiert.

3.5 Modell und Form

Die naheliegendste Beschreibung des Zusammenwirkens von Modell und Form ist die generische der Gattungsbildung und des Gattungswandels. Hierbei zeigt sich idealtypisch, dass der Prozess der Modellierung in bestimmten Formen, aber stets auch mit Bezug auf vorgefundene und angestrebte Formen verläuft. Zu dieser materialen oder medialen Konzeption von Form gehören aber auch die literarischen Verfahren unter- oder oberhalb generischer Bestimmungen: als Paradigma und Syntagma, tropus und figura, Fabel und Sujet. Auf diese Weise ist die Form Voraussetzung und Ziel des Modellierens, ja sie kann auch selbst modellhaft werden, nämlich dort, wo eine modellierende Instanz sie zum Modellobjekt erklärt. Im Gegensatz zu dieser materialen Auffassung von Form steht eine, die man als transzendental bezeichnen könnte, die ihr Schöpfer aber als ein operationales Verfahren beschreibt. In Niklas Luhmanns Welt bezeichnet ›Form‹ den Akt des Unterscheidens:

Der Beobachter benutzt eine Unterscheidung, um das zu bezeichnen, was er beobachtet. […] Will man aber beobachten, ob es geschieht und wie es geschieht, muß man die Unterscheidung, die benutzt wird, nicht nur verwenden sondern bezeichnen. Und dazu dient uns der Begriff der Form. Als Form bezeichnen wir also das Beobachtungsinstrument Unterscheidung […]. Wer Formen beobachtet, beobachtet mithin Beobachter, und dies in dem strengen Sinne, daß er sich nicht für ihre Materialität, ihre Motive, ihre Erwartungen oder ihre Äußerungen interessiert, sondern streng und ausschließlich für ihren Unterscheidungsgebrauch.72

Modellpoetik ist in diesem Sinne eine Formbeobachtung der zweiten Ordnung, insofern sie die Modellurteile der Modellinstanzen, also deren Unterscheidungen beschreibt. Da Modellieren wesentlich Intervenieren ist – als Prozessierung, Umgestaltung, Auflösung und Rekombination des Vorgefundenen –, erfüllt es selbst schon die Beobachtungsfunktion des Unterscheidens. Unterschieden wird hier nämlich etwas, das modellhaft werden kann, von etwas, das im Sinne der Modellinstanz und ihres Urteils nicht modellfähig ist:

Hier freilich zeigt es sich bisweilen, dass modellhaftes Verhalten dort entsteht, wo es gerade nicht erwartet oder sogar ausgeschlossen worden ist:

Emergenz wird also dort modellhaft, wo die Unterscheidung von modellfähigen und nichtmodellfähigen Aspekten ihrerseits beobachtet und in die Modellierung eingetragen wird. Das Nicht-Modellhafte wird somit selbst modellhaft, das Modellhafte wird kontingent. Wie aber kann das Nicht-Modellhafte sich überhaupt zur Geltung bringen? Dadurch, dass es mit dem zum Modellobjekt erwählten Gegenstand verbunden ist – als dessen »Eigensinn«, als Agency, die von der modellierenden Instanz nicht eingerechnet worden ist. An dieser Stelle also taucht die Materialität, die Luhmann aus der Formerfassung ausgegliedert hatte, wieder auf. Im Modellieren nämlich wird die Unterscheidung von der Agency des Modellierungsgegenstandes doppelt mitbestimmt: von der modellhaften genauso, wie von jener, die als nicht-modellhaft ausgegliedert worden ist. Im fiktionalen Modus dient die dunkle Agency zur Destabilisierung des Modellurteils. Man kann sie sich als eine operationale Leistung denken, die die Unterscheidbarkeit ununterscheidbar, nämlich unentscheidbar macht – durch Transformation. Wenn also das Beobachten sich als re-entry des Bezeichnens in die Unterscheidung zeigt:

dann wäre Modellieren als Beobachtung der zweiten Ordnung aufzufassen, deren Leistung ein Gestalten, ein aktives Umgestalten ist. Man könnte also schreiben:

Oder einfach:

Im Transformieren nämlich greift Modellbildung auf das systemische Verfahren selber zu: auf jene Differenz von Unterscheiden und Bezeichnen, welche Luhmann ausdrücklich als »Form« bezeichnet hat – als Form »im Sinne einer Möglichkeit, Grenzen zu überschreiten und daraus die Konsequenzen zu ziehen«:73

Die differenztheoretische Formentheorie behandelt […] Formen als reine Selbstreferenz, ermöglicht nur dadurch, daß die Form selbst durch eine Grenze markiert ist, zwei Seiten trennt, also als Form eigentlich eine Grenze ist. Die Form gibt die Möglichkeit der Grenzüberschreitung. Die forma formans ist die forma formata.74

Die Stanley Parable hat dieses Grenzverfahren eindrucksvoll dynamisiert. Poetische Modellbildung verwischt in ihren Setzungen die Grenze wieder, die sie zwischen beiden Seiten der Beobachtung platziert, indem sie ihre Formen transformiert. Sie aktualisiert die Möglichkeit der Form gerade dadurch, dass sie im Prozess des Formenwandels neue Möglichkeiten modelliert. Sie wird – mit Tenev ausgedrückt – als Transform prozessiert.

Es bleibt die Frage, wie man die Dynamik auf der analytischen und interpretativen Seite wieder einholt, also auch den eigenen Diskurs dynamisiert.

4. Ein »Modell des Modellseins«

4.1 Das Funktionsmodell

Mit seinen Grundlagen einer allgemeinen Modelltheorie hat der Berliner Informatiker und Wissenschaftstheoretiker Bernd Mahr vor kurzem einen Ansatz vorgelegt, der den Modellbegriff auch für die Analyse literarischer Prozesse fruchtbar machen kann.75 Dies zeigt sich insbesondere an jenen Stellen, wo die Argumentation tradierte Theoriekonzepte – Abbildungs- und Repräsentationsfunktion, Objektcharakter, Operationalität und Kontext von Modellen – neu justiert.

Bernd Mahr beschreibt den Modellierungsvorgang als Zusammenspiel der folgenden sechs Komponenten: der Modellinstanz und ihrer Auffassung;76 der Matrix, also eines Quellsystems; des zum Modellobjekt erhobenen Objekts der Modellierung; den von Matrix, Urteil und Modellobjekt bestimmten Cargo und der zukünftigen Anwendung, des Applikats (vgl. Abbildung 5, S. 24). ›Modell‹ im Sinne dieser Darstellung beschreibt den temporalen Akt der Auffassung (das Urteil, die Entscheidung), mittels dessen die Modellinstanz ein schon vorhandenes bzw. im Modellprozess entworfenes Objekt auf eine Weise als Modell betrachtet, die den Gegenstand als ein ›Modell von etwas‹ (nämlich einer Matrix) auffasst und zugleich als ein ›Modell für etwas‹ (nämlich eine Anwendung) versteht.77 Der Cargo wiederum bezeichnet jene Eigenschaften des Objekts, die es im Sinne der Modellinstanz modellhaft machen; er vereinigt dabei Elemente seines Quellsystems mit den Erwartungen, die die Modellinstanz bezüglich ihres Applikats beschreibt. Im Cargo aber zeigt sich auch der ›Eigensinn‹ des zum Modellobjekt erhobenen Objekts, da dieses immer auch Aspekte mitführt, die von der Modellinstanz nicht vorgesehen sind.78

Gerade dieser Eigensinn fungiert indessen oft als Quelle der modelltypischen Emergenz; er macht den Gegenstand zum epistemischen Agenten des Modellgeschehens, der auf diese Weise an die Seite der Instanz und ihrer Konzeptionen tritt. Getestet werden diese Eigenschaften im Prozess der offen simulierten Anwendung. Dieselbe wiederum führt zum re-entry der Simulationsergebnisse sowohl in die Erwartungen der modellierenden Instanz und ihrer Urteile,79 als auch in die Struktur der Matrix und des Applikats. Den Rahmen hierfür bildet die Modellsituation, der Kontext der Modellbildung. Der Umfang dieses Kontexts hängt von der Spezifik des Modellgeschehens und vom Untersuchungsinteresse ab. Im Sinne einer literarischen Modellpoetik ließe dieser Kontext sich auf einer Skala situieren, die von einer einzelnen formalen Einheit bis zum literarischen Gesamtsystems des Untersuchungszeitraums reicht. Der Charme der Mahrschen Metamodellierung liegt darin, die faktische Dynamik des Modellgeschehens selbst zu modellieren, also die Beziehungen der Modellierungselemente als Funktionen anzuzeigen, die per Rückkopplung auf ihre Träger wirken. Damit wird der Operator zum Modellobjekt. Das Skandalon des Mahrschen Ansatzes, vor allem im Vergleich mit herkömmlichen operationalen Theoriemodellen, liegt in der Verankerung des Modellierungsakts in einer Auffassung. Den Status als Modell erhält ein Gegenstand bzw. ein Konzept nach dieser Ansicht erst, wenn er als solcher aufgefasst, d.h. durch ein Modellurteil aus anderen Objekten ausgewählt und für ein Anwendungsprofil entworfen wird. Dies ist v.a. auch aus der historischen Beschreibungsperspektive, also für die Analyse von vergangenen Modellbildungen relevant. Da die Modellinstanzen nicht mehr aktuell befragbar sind, rückt die Befragbarkeit der modellierten Auffassungen in den Mittelpunkt. In diesem Sinn ermöglicht die historische Modellpoetik eine produktionsästhetische Evaluierung des Modellgeschehens, also jener Modellierungsakte, die im Produktionsprozess als solche ausgezeichnet worden sind.

Abb. 5: Modellbildung nach Bernd Mahr

Im Rahmen dieses Ansatzes lässt sich zugleich die faktische Komplexität der Modellierung dadurch simulieren, also simulierend nachvollziehen, dass man die sechs leitenden Modellfunktionen im infragestehenden Modellverbund lokalisiert. Entsprechend der Modelldynamik nimmt die Analyse diese Zuordnungen mehrfach vor und lotet so den Modellierungsraum – die Freiheitsgrade und den Raum der Possibilitäten – des Modellgeschehens aus.

4.2 Der regulative Text

Für Aichingers Gefesselten ergeben sich aus einer solchen Zuordnungsdynamik eindrucksvolle Lösungen:

Versteht man den Gefesselten zum Beispiel als Modellobjekt des Zirkus, diesen folglich als Modellinstanz, so recherchiert man eine Auffassung, die ihr Modell (die ›Fesselung der Zuschauer‹), mit Hilfe des Gefesselten (des ausgewählten Gegenstandes) applizieren will. Die Matrix (Freiheit durch Beschränkung) fließt hier in Modell und Applikat mit ein; der Cargo (Anmut durch Selbststeuerung) wird zum sozialen, ökonomischen und administrativen Applikat erweitert; das Modellobjekt als ›Act‹ in der circensischen Performance aufgeführt. Der Eigensinn des zum Modellobjekt erwählten Helden ist hier gleichermaßen eine Quelle der Modellentwicklung wie der möglichen Gefährdung, nämlich der Erwartung der Modellinstanz. Hier setzt auch die lakonische und gleichsam kafkaeske Kommentierung der Erzählinstanz, nach welcher der Gefesselte sich hätte »selbst befreien [können], wann immer er Lust hatte«,80 die Modellinstanz des Zirkus unter Druck. Er offenbart zum anderen den faktischen Simulationscharakter des Systems aus Fessel und Gefesseltem als temporär stabile Einheit, deren Aggregatzustand sich ständig ändern kann. Zugleich wird dadurch aus der regel-, wenn nicht zwanghaften Struktur der Ausgangsmodellierung ein Moment der freien Aneignung.81 In dieser Hinsicht lässt sich, zweitens, der Gefesselte auch selber als Instanz verstehen, insofern er durch den Eigensinn des zum Modellobjekt erhobenen Objekts, der Fessel, die Sozialinstitution des Zirkus ebenso wie den Sozialverband der Zuschauer manipulieren kann. So wird er selbst modell- und vorbildhaft: »Die Kinder in der Gegend spielten nur mehr ›Der Gefesselte‹.«82 Als role model erhält der Modellierer damit ebenso Modellautorität wie – intradiegetisch und bezüglich der Gesamterzählung – Titelrang.83 Er avanciert zum Titelgeber einer (fiktionalen) Performanz, die ebenso lokal (im Außerhalb des Zirkus) als auch temporal (als Spiel der jeweils nächsten Generation) vom Ursprungssetting unabhängig wird. So aber kann der rätselhafte Held, zum dritten, auch als Matrix intradiegetischer Modellerzählungen, konkret: als Quelle von »Gerüchte[n]« dienen,84 die sich um die Herkunft (Matrix), die Funktion (Applikation) und die durch sie vermittelte Bedeutung (Cargo) seiner Fessel drehen:

Die einen sagten, er hätte sich selbst gebunden und dann die Geschichte mit den Dieben erfunden […]. Andere milderten es dahin, daß sie erklärten, er hätte sich auf seinen eigenen Wunsch fesseln lassen, es konnte sein, daß alles auf einer Übereinkunft mit dem Zirkusbesitzer beruhte.85

Es liegt nahe, dass, sobald die Fessel fällt, auch die Erzählung (und mit dieser jede intradiegetische Erzählung oder Deutung) endet – nicht als Zeichen der Befreiung oder Schließung, sondern als Verweis auf jene liminale Grundstruktur, die dem Modellzusammenhang als ganzem eignet. Sie markiert den Umstand, dass erst durch die Widerständigkeit, die agency und ›Eigensinnigkeit‹ des zum Modellobjekt gewordenen Realobjekts (der Fessel resp. des Gefesselten) der Handlungs- und Gestaltungsraum des Modellierens, also des Erzählens, möglich wird. Hier wäre gleichsam der re-entry des Erzählungs-content in die Konzeption des Modellierens anzusiedeln: als Befragung des Modellseins der Erzählung selbst. Auf dieser Ebene gilt folglich die Devise: mit dem Fall der Fessel fängt die Deutung an. Zugleich erscheinen hier die intra- oder extratextuellen Referenzen, etwa der Bezug zu Kleists Marionettentext als Matrix, um so mehr als der bei Kleist thematisierte Widerspruch von Kognition und Anmut in der Aichinger-Textur als Cargo aufgerufen wird.86 Im Sinne dieses liminalen und zugleich dynamischen Verfahrens wird der Spielraum für die Regeln und die Emergenzen der Erzählung als Erzählung modelliert und inszeniert. Es gibt, so kann man schließen, also nicht nur regulative Ideen, sondern auch und insbesondere den regulativen Text.87

Die Stanley Parable ist gleichsam die Parabel dieses Regulierens an der Schnittstelle von Produzent und Rezipient. Auch hier wird ein Funktionsmodell des literarischen Modellseins performiert: als Spiel. Der Avatar veranschaulicht dabei als sichtbar Handelnder die modellierende Systemstelle, die Spiel und Narrativ verändert und durch sie verändert wird. ›Erzählhandlung‹ erweist sich hier als viergliedrige Agency: der körperlosen Stimme des Erzählakteurs, der gleichfalls körperlosen weiblichen Erzählerstimme, die extradiegetisch bliebt, des stimmlosen Agenten Stanley und des stimm- und körperlosen Spielers, der sich durch sein Handeln im Agenten Stanley personifiziert. In diesem Sinne ist das Spiel tatsächlich eine Stanley Parable, da Stanley, das Objekt des Spiels, zusammen mit dem Spieler zum Modellobjekt (und Kommentarobjekt) der Modellierung wird. Das Spiel mit Stanley (und dem Spieler) dient auf diese Weise als Parabel nicht nur des Erzählens, sondern eines Modellierens, das den ludischen Aktionsraum mit dem narrativen Interpretationsraum vollständig zur Deckung bringen will. Zur Deckung kommen sollen dabei – technisch formuliert – drei Typen von Modellen: Labyrinth, Entscheidungsbaum, sowie das Storyboard der narrativen endings. Es wird kaum verwundern, dass die Stanley Parable gleich alle drei Modelle in-game (und das heißt auch: intradiegetisch) zur Verfügung stellt. Das Spiel verwandelt dabei seine eigene Modellbildung zum Artefakt. Im eigenen Museum wird das Spiel als Handlungs- und Erzählmodell zugleich analysiert (in seine Einzelteile ausgegliedert), archiviert und kommentiert, und somit für den Spieler als Modell beobachtbar (Abbildungen 6–8). Besonders eindrücklich wird dies am Kommentar zur Ausgangsgabel der zwei Türen, die als Emergenzmoment des Spiels und seines Narrativs bezeichnet werden und zugleich den kritischen re-entry des Modells ins Spiel markieren (Abbildung 9).

Abb. 6: Stanley-Modelle 1: Entscheidungsbaum

Abb. 7: Stanley-Modelle 2: Storyboard – Confusion Ending (Ausschnitt)

Abb. 8: Stanley-Modelle 3a: Museum – Blick auf einen Ausschnitt des Labyrinths
von Stanleys Büro (vorne) zum Raum mit den beiden Türen (hinten)

Abb. 9: Stanley-Modelle 3b: Museum – Kommentartafel zu »The Two Doors«

Das Verfahren, zur Markierung solcher Rekursionen Schilder aufzustellen, hat im Gaming Tradition. Man denke etwa an das Schild des Zwergen, der in Gothic II dem hinter die Fassade eines Orklagers gelangten Spieler das gesamte Narrativ als Scheinwelt präsentiert (Abbildung 10).

Abb. 10: Gothic II – Das Schild des Zwergen

Der Spieler als Modellobjekt des Spiels beobachtet auf diese Weise seinen eigenen mise en abyme. In diesem Sinne inszeniert und parodiert auch das Modell der Stanley Parable nichts weniger als ein Modell des Modellseins – seiner Funktionalität und seines Modalitätsmanagements.

Ist in der Stanley Parable wie im Gefesselten Modellbildung als gleichsam personifiziert synchrones Narrativ gegeben, so erscheinen literarische Modelle nicht zuletzt auch auf der Ebene der literarhistorischen Modellbildung. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist das Kipp-Modell des Poetischen Realismus.88 Der berühmte Dualismus aus Entsagung und Verklärung, der den postromantischen Diskurs des neunzehnten Jahrhunderts bis ins frühe zwanzigste bestimmt, ist kein bzw. mehr als ein poetisches Verfahren. Er ist kein bzw. mehr als ein Symbol der schwankenden Gemütslage des Bürgertums bzw. einer literarischen Diskursverweigerung der Produzenten. Er ist ein Modell. Die Unentscheidbarkeit der realistischen Poetik zwischen alltagswirklichem Beschreibungs- und symbolischem Bedeutungsanspruch, die strategisch unauflösbar bleibt, wird intradiegetisch als Verhältnis von Entsagung der Figuren (als Modellobjekte) und Verklärung des Entsagungsvorgangs (als Codierung eines Cargo) stillgestellt. Entsagt wird hierbei letztlich einer anti-realistischen Bedeutsamkeit (der Matrix des romantischen Unheimlichen und Wunderbaren), die gleichwohl als Basiselement des Narrativs (als Cargo) mitgeführt, ja letztlich modellbildend wird. Entsagt wird aber auch dem Ausweg ins Naturalistisch-Drastische, der als Option seit Georg Büchners Dramen zur Verfügung steht. So strukturiert ein metafiktionales, intertextuelles Narrationsmodell die Applikate einer literarischen Epoche und erscheint auch noch als Matrix ihrer Folgezeit.

Auch zeigt sich hier die Grenze dessen, was aus analytischer und interpretativer Perspektive noch als literarisches Modell beschrieben werden kann. Nur dort, so meine These, wo der literarisch-fiktionale Text Objekt (und somit auch Modellobjekt) der Analyse wird (und nicht zu ihrer Matrix), wo die Steuerung des fiktionalen Textes selbst zum Cargo seiner Analyse wird und deren Potentialitäten mitbegründet und ›mit-limitiert‹, nur dort liegt Interpretation im strengen Sinne vor (vgl. Abbildung 11). In allen anderen Bezugssystemen wird der fiktionale Text zur Quelle von historischen, politischen und theoretischen Inanspruchnahmen jenseits des ihm eigentümlichen Modells. Dies also ist das ontologische Kalkül poetischer Modellbildung: sie funktioniert als Kooperation der Teilsysteme – Text und Deutung – durch geteilte Steuerung. Dieselbe wiederum ist keine Determination im Sinne eines technischen Systems der Regulierung, sondern die Eröffnung und Begrenzung eines Deutungsraums. Eröffnet wird der Deutungsraum, indem das deutende System die Steuerungsverfahren des Beobachteten mit den eigenen Verfahren konfrontiert und korreliert; begrenzt hingegen wird der Deutungsraum durch den re-entry seiner Emergenzen in die Auffassung der jeweils modellierenden Instanz.89 In diesem Sinne liefert die Modellpoetik nicht nur Ansätze zu einer neuen Analytik oder Hermeneutik,90 sondern auch zu einer praktischen Ontologie der Fiktion.

5. Poetik der Modelle

Auf welche Frage also kann die literarische Modellpoetik eine Antwort ist? Es ist die Frage nach der Agency des literarischen Objekts. Die faktische Entmächtigung, die literarische Produkte im Verlauf der Theoriedebatten zu verkraften hatten, steht zum einen quer zur allgemeinen Auffassung, nach welcher dem vermeintlich Sprach- und Machtlosen im Theoriegeschehen eine Stimme zu verleihen sei. Sie bleibt zum anderen weit hinter den Erkenntnissen des wissenschaftshistorischen Diskurses, der seit Jahren auf die Agency der epistemischen Objekte setzt, zurück. Selbst Steven Greenblatts vielbeachtetes Bonmot, er wolle mit den Toten reden, führte keineswegs zur Aufwertung der literarischen Modelle, sondern zum gezielten Abbau ihrer Steuerungsverfahren in der Flut des diskursiven Materials. In deren Folge kam die Theoriedebatte praktisch zum Erliegen, da ihr stimmloses Objekt nicht länger auskunftsfähig war. Stattdessen kehrte andernorts der Autor, von der Theoriedebatte praktisch unbeschädigt, in sein Ausgangsdomizil zurück, und das prekäre Masternarrativ des Narrativen ebnete die Individualität der Genres, Medien, Modi und Verfahren bis zur Unkenntlichkeit ein. Nicht nur aus diesem Grunde ist es an der Zeit, die Theorieverspätung oder Theorieverweigerung des literarhistorischen Diskurses abzulösen durch ein Theoriebegehren, welches nach der Agency der literarischen Produkte fragt. Hier schließt die literarische Modellpoetik insbesondere an jene von Bernd Mahr, Horst Bredekamp und Reinhard Wendler angestoßene Debatte an, die transdisziplinäre Formen der Modellbildung im kunst- und wissenschaftshistorischen Diskurs diskutiert.91 Im philologischen Bereich sind es v.a. Überlegungen zur Theorie und Historizität poetischer Verfahren, zur Archivpoetik und zur Fiktionstheorie, die für modellpoetische Konzepte anschlussfähig sind.92

5.1 Historische Modellpoetik – Literarische Modelltheorie

Wie wäre also eine literarische Modellpoetik als Methode zu entwerfen, die den literarischen Modellpoetiken der Texte und der Textlektüren folgt? Zunächst mit einer vorläufigen Eingrenzung des Gegenstandsbereichs, der dann am Beispiel dreier Modellierungstrategien die Funktionen literarischer Modelle für den Produktions- und Interpretationsprozess markiert.

Poetik der Modelle: Schon im Titel dieses Beitrags werden Deutungs- und Verhandlungsräume sichtbar, die der Einsatz des Modellkonzepts im literarischen Diskurs erwarten lässt. Da Dichtung immer schon Modelle aufgreift und entwirft, erlaubt die Neuperspektivierung des poetischen Prozesses als Modellbildung93 sowohl die transdisziplinäre Einbindung poetischer in nicht-poetische Verfahren, als auch eine Neubewertung des poetischen Realitätsbezugs. Modelle nämlich sind stets ontologisch dreifach ausgewiesen: als pragmatische Bezugnahmen auf diskursive Umwelten, die selbst als faktisch gelten (Empirizitäten); als erkennbar entpragmatisierte Konstruktionen, die durch Intention und Kreativität, zugleich jedoch durch Kontingenz und Emergenz bezeichnet sind (Fiktionen); und als repragmatisierte Anwendungskalküle, die auf künftige Kontrollen ausgerichtet sind (Prognosen). Damit aber wird die Frage spannend, wie das Genre der poetischen Fiktion sich in Bezug auf andere Modelle als Modell verhält. Hier schließen Forschungsfragen zum Verhältnis literarischer und außerliterarischer Modelle an, durch die man sich der Frage nähern kann, was die poetischen von anderen Modellbildungen unterscheidbar macht: Inwiefern gehen außerliterarische Modelle den poetischen voraus bzw. sind in ihnen und durch sie repräsentiert – als Möglichkeitsbedingung, als Verfahren, als Motiv und Sujet? Treten außerliterarische Modelle in der Dichtung als Agenten auf, die in der Tarnung der Fiktion poetische Diskurse steuern? Oder werden diese außerliterarischen (sozialen, technischen und weltanschaulichen) Modelle im poetischen Diskurs erst als Modelle sichtbar, weil sie nicht in ihrer Anwendung ›verschwinden‹? Hieraus könnte eine erste These mit Bezug auf genuin poetische Modelle folgen: Könnten nicht das Ziel poetischer Prozesse die Modelle selber sein – Modelle, die nicht verschwinden? Man kann sich andererseits die Frage stellen, ob nicht außerliterarische Modelle selbst bereits poetisch modelliert zu denken sind – im Sinne etwa einer ›epistemischen Poetik‹, die den Austausch literarischer und außerliterarischer Diskurse steuert, reflektiert und kontrolliert. Die Antworten, die man auf solche Fragen gibt, bestimmen nicht zuletzt die Perspektive eines Forschungsfeldes, das man als historische Modellpoetik charakterisieren kann: als Genealogie poetischer Modellbildung und modellhafter Poiesis.94

Vergleichbar mehrdeutig ist das Konzept einer ›literarischen Modelltheorie‹. Es impliziert zum einen eine Theorie poetischer Modelle, die – im Sinne einer immanenten Poetologie und intertextuellen Gattungspoetik – von künstlerischen Texten selbst hervorgebracht, beobachtet, begründet und bewertet werden. Diese Theoriebildung ist selber literarisch; sie ist das Ergebnis 1. einer literarischen Bearbeitung und Kommentierung innerdiskursiver Traditionen und Verfahren (etwa der Gattungsgeschichte), 2. einer literarischen Bearbeitung und Reflexion der Modellierungsweisen außerliterarischer Diskurse, sowie 3. einer Metareflexion der eigenen Modellsituation und ihrer Komponenten: der Modellinstanz, des Kontexts, des Modellobjekts, der Matrix und des Applikats (vgl. Abbildung 5). Zugleich vermittelt der poetische Modelldiskurs auch solche Äußerungen der Modellinstanzen, die expositorisch, also nicht-poetisch sind. Sie bilden einen Übergang zur zweiten Form der Theorie poetischer Modelle: zur Modellbildung der Literaturwissenschaft. In ihr – wie im semiotischen Verständnis Kristevas – sind literarische Modelle Applikate wissenschaftlicher Modelle (etwa einer strukturalen Analyse oder einer literarhistorischen Epochenklassifikation). Bedenkt man weiterhin, dass eine Theorie poetischer Modellbildung den literarischen Diskurs auch dort begleitet, wo er weder wissenschaftlich, noch poetisch und expositorisch ist (im literarischen Personenkult, im Feuilleton, etc.), dann zeigt sich einmal mehr die Reichweite des Modellierungskontexts, der Modellsituation.

5.2 Aspekte einer literarischen Modellpoetik

Im Folgenden sind exemplarisch drei Funktionen literarischer Modellbildung benannt, die man im Sinne Lotmans als Kriterien eines sekundär modellbildenden Genres isolieren kann: Die Inszenierung von modalen Praktiken, die Darstellung der Modellierungstätigkeit als Plot, die Programmierung einer zukünftigen Rezeption.

I. Modalitätsmanagement. Im literarischen Diskurs wird die Dynamik des Modellseins – der Zusammenhang von Auffassung (der modellierenden Instanz), Modellgewinnung und Modellanwendung – nochmals ontologisch verschärft. Bereits die außerfiktionale Modellierung nämlich operiert im ontologisch heiklen Grenzbereich von Imagination, Faktizität, Prognostik, Funktionalität und Kontingenz. Die Abgrenzung des epistemischen Objekts ›Modell‹ (Idee) vom physischen Objekt der Modellierung (Empirie) und beider vom ›Modellobjekt‹, dem eigentlichen Träger des Modellverfahrens, deutet diese Sonderstellung gegenüber technischen Prozessen erster Ordnung an. Tatsächlich aber ist im Akt des Modellierens die Entscheidungsdifferenz von fact und fiction, Realismus und Konstruktivismus faktisch aufgehoben, ihre Reibungskraft strategisch eingepreist zugunsten einer operablen Testkultur, die man als ›Praxis zweiter Ordnung‹ charakterisieren kann. Wer modelliert, der testet Nicht-Reales (das Modell) mit Hilfe eines Halb-Realen (des Modellobjekts) auf seine Tauglichkeit (als Applikat) für eine Praxis des Realen, die er im Modellverfahren simuliert. Dass das Ergebnis eines derart volatilen Managements der Seinsbezüge in der Praxis des Realen so erfolgreich ist, macht Hoffnung für die literarische Fiktion.

II. Modellerzählung. Im Modellszenario erscheint die literarische Fiktion als ein Modellbildungsverfahren dritter Ordnung, da sie das modale Management der zweiten Ordnung entpragmatisiert. In ihren Formen produziert sie – und erzählt – Modelle des Modellseins, die im entpragmatisierten Rahmen der Fiktion drei ›Wirklichkeiten‹ simulierend reflektieren: 1. die der Fakten, Quellsysteme und Matrizen, 2. die der vorgefundenen Modelle über sie und 3. die der eigenen Modellbildung, des Narrativs. Modellerzählungen in diesem Sinne sind nicht nur Erzählungen bestehender Modelle sondern einer strukturierenden Modellsituation. Als solche können sie auch exemplarischen Charakter für die Tätigkeit des Modellierens überhaupt erlangen, insofern als das »Modellsein eines Gegenstands« erst »durch die Struktur der Modellsituation zu erklären [ist], in der dieser Gegenstand durch seine Auffassung als Modell steht«.95 Sie werden Teil der typischen Modellpragmatik, die nicht nur Strukturen freilegt und semiotische Prozesse sichtet, sondern Wirklichkeitsbezüge erprobt. Die Deutung einer solchen exemplarischen Modellerzählung ist die ›Anwendung‹, ihr Applikat. Versteht man Interpretation als Applikat der literarischen Modellerzählung, so wird diese selber zum Modellobjekt im Rahmen einer überzeitlichen Modellsituation, die eine der Erzählung vorgängige Matrix aus Diskursmodellen mit der Auffassung der sie erzählenden Modellinstanz und diese mit der deutenden Applikation verknüpft (die Interpretation kann dabei selber literarisch oder literaturwissenschaftlich sein).

III. Poetische Steuerung. Bernd Mahr hat ausdrücklich die Perspektivität betont, die bei der Analyse von historischen Modellen zu flexiblen Zuschreibungen führen kann: was gestern noch Modellobjekt gewesen ist, kann morgen schon als Applikat gehandelt werden. Diese Flexibilität ist selber Teil des interpretativen Testverfahrens; sie markiert den Möglichkeits- und Handlungsrahmen der Modellerzeugung zwischen Matrix (Quellsystem) und Applikat (dem Ziel der Modellierung). Daher kann man fragen, wie historische Modelle (etwa Aichingers Gefesselter) als epistemische Akteure auch die Freiheitsgrade ihrer möglichen Applikationen, sprich: der Deutungen, strategisch mitbestimmen. Wie sie jenem Raum der Possibilitäten, der vom Modellieren selbst eröffnet, am Modellobjekt entwickelt und im Cargo applikabel wird, ein limitierendes Profil entgegenstellen, das nicht nur die Modellierung steuert, sondern auch – durch Rekursion – das Urteil der Modellinstanzen reguliert. Der Cargo transportiert und transformiert dabei die Direktiven, welche in der Ausgangsmatrix, in der Auffassung der modellierenden Instanz sowie im Eigensinn des vormodellhaften objet trouvé enthalten sind. Im literarischen Gebilde gibt es daher, so die These, ein Verfahren poetischer Steuerung, das freilich seinerseits von der Modellbildung der Rezeption gesteuert wird. Es trifft auf die Modellinstanz der Analyse, deren Auffassung auf diese Steuerung gerichtet ist. Indem sie die externe Steuerung (Modellbildung im Kunstobjekt) zum Zentrum ihrer eigenen Modellbildung (zu ihrem Cargo) macht, lässt sich die Analyse also von der literarischen Modellbildung des Kunstwerks steuern. Damit aber folgt aus der geteilten Agency der epistemischen Modellakteure ein Verfahren der ›geteilten Steuerung‹ (Abbildung 11).

Abb. 11: Zwei Modellierungen – ein Text-Modell: geteilte Agency im literarischen Text

Die Eingangsfrage: ›Was ist ein Modell?‹ ist also falsch gestellt. Sie müsste lauten: ›Wo ist ein Modell?‹ An welcher Stelle wird die Modellierung sichtbar, die als Raum der Möglichkeit im Kunstwerk angesiedelt ist? Die Antwort hierauf kann nur lauten: An der Grenze zweier Modellierungen: der Produktion und Rezeption. Erst am Berührungspunkt der beiden Modellierungen, der künstlerischen und der deutenden, wird das Modellverfahren als Modellgeschehen sichtbar und beobachtbar. In der Verschränkung zweier Auffassungen – jener, welche die Modellbildung des Textes zum Modellobjekt der eigenen Modellbildung erhebt, und jener, die im Applikat der eigenen Modellbildung die andere antizipiert, entsteht das literarische Modell. In beiden Fällen zielt das Anwendungskalkül auf Modellierungen, die nicht verschwinden, anders ausgedrückt: in beiden Fällen wird das literarische Modell zum Applikat. Die interaktionistische Verschränkung dieser Modellierungen wird nirgends deutlicher als im Bereich des Gaming. An der Schnittstelle von ludischem Programm und Spieler, also im Vollzug des Spielens, wird die Modellierung im direkten Sinne sichtbar, eine Modellierung, die den Raum der ludischen, vor allem aber auch der narrativen Möglichkeiten öffnet, steuert und begrenzt.

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WENDLER, Reinhard: Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft. München 2013.

Creative Commons Lizenzvertrag

Poetik der Modelle von Robert Matthias Erdbeer ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

 

  • 1. The Stanley Parable. Galactic Cafe 2015 (zugänglich über Steam, http://store.steampowered.com), Startsequenz. Das Spiel verfügt über keine Kapitel sondern über eine Startsequenz und (je nach Zählung) über bis zu 22 endings, denen die entsprechenden Erzählpassagen zugeordnet sind. Es wird daher im Folgenden nach diesen endings zitiert. Da hierfür unterschiedliche Bezeichnungen kursieren, übernehme ich die folgende Einteilung (mit Karte): http://thestanleyparable.wikia.com/wiki/Endings; siehe auch http://www.gamefaqs.com/pc/727960-the-stanley-parable/faqs/68794 (zuletzt eingesehen am 14.10.2015).
  • 2. The Stanley Parable, Startsequenz.
  • 3. Ebd.
  • 4. Ebd.
  • 5. Ebd., Phone/Apartment-Ending.
  • 6. Ebd., Confusion Ending.
  • 7. Ebd.
  • 8. Ebd., The Metal Jaws / Museum Ending.
  • 9. Ebd., Boss’s Office / Launch Pod Ending.
  • 10. Ernest Hirschlaff Hutton: »The Rôle of Models in Physics«. In: British Journal for the Philosophy of Science 4 (1953), S. 284–301, hier S. 295. Den Hinweis gibt Reinhard Wendler: Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft. München 2013, S. 29.
  • 11. Andres Lepik: »Das Architekturmodell der frühen Renaissance Die Erfindung eines Mediums«. In: Bernd Evers (Hg.): Architekturmodelle der Renaissance. Die Harmonie des Bauens von Alberti bis Michelangelo. München, New York 1995, S. 10–20, hier S. 20; vgl. Wendler: Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft (Anm. 10), S. 114.
  • 12. Es ist hier – leider – nicht der Ort, den Stand der vornehmlich natur- und technikwissenschaftlichen Modellforschung zu referieren, die gleichwohl für die im Folgenden erprobten Übertragungen bedeutsam ist. Für einen grundsätzlichen Einblick, der die Forschungslage souverän aus wissenschafts-, kultur- und kunsthistorischer Sicht diskutiert, vgl. Wendler: Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft (Anm. 10). Für den transdisziplinären Ansatz dieses Bandes und des vorliegenden Beitrags maßgeblich sind Überlegungen des Informatikers Bernd Mahr zu einer allgemeinen Modelltheo-rie. Vgl. insbesondere Bernd Mahr: »Das Wissen im Modell«, http://www.flp.tu-berlin.de/fileadmin/fg53/KIT-Reports/r150.pdf (zuletzt eingesehen am 14.10.2015), und ders.: »On the Epistemology of Models«. In: Günter Abel u. James Conant (Hg.): Rethinking Epistemology. Berlin, New York 2011, S. 301–352. Aus physikalistischer und formallogischer Perspektive argumentiert der klassische Text von Herbert Stachowiak: Allgemeine Modelltheorie. Wien 1973, der »drei Hauptmerkmale des allgemeinen Modellbegriffs« definiert: das »Abbildungsmerkmal« (Originaltreue), das »Verkürzungsmerkmal« (Relevanzkriterium) und das »pragmatische Merkmal« (Kontextbezogenheit). Ebd., S. 131f. Zum Problem von Modell und Semantik vgl. Klaus Robering: »What is the Role of Model Theory in the Study of Meaning?« In: Journal of Pragmatics 17 (1992), S. 511–522.
  • 13. Vgl. Wendler: Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft (Anm. 10), sowie aus literaturwissenschaftlicher Perspektive die Fallstudie von Karin Krauthausen: »Der unmögliche ›Teste‹ und der mögliche ›Léonard‹. Zu Paul Valérys Modellierung (in) der Literatur«. In: Friedrich Balke, Bernhard Siegert, Joseph Vogl (Hg.): Modelle und Modellierung. München 2015, S. 57–72. Zum Kontext der Autobiographie vgl. den Beitrag von Martina Wagner-Egelhaaf: »Norm, Form und Modell. Paradigma Autobiographie«. In: Matthias Uecker u. Dirk Göttsche (Hg.): Norms, Normality and Normalization. Nottingham 2014, S. 119–131 (http://eprints.nottingham.ac.uk/3611/).
  • 14. Die Kunst des Gaming als shared modelling ist der re-entry der poetischen Modellbildung (und seiner Reflexion der Modi) in die technische Modellbildung.
  • 15. Vgl. dazu Bernd Mahr: »Das Mögliche im Modell und die Vermeidung der Fiktion«. In: Thomas Macho u. Annette Wunschel (Hg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur. Frankfurt / M. 2004, S. 161–182.
  • 16. Ilse Aichinger: »Der Gefesselte« (1951). In: Dies.: Der Gefesselte. Erzählungen. Frankfurt / M. 1991, S. 12–29, hier S. 13.
  • 17. Art. »Freiheitsgrad«. In: Robotik-Initiative Niedersachsen: Glossar zum Thema Industrierobotik. Dortmund 2010, http://www.robini-hannover.de/robini_glossar/freiheitsgrad.html (zuletzt eingesehen am 14.10.2015).
  • 18. Aichinger: »Der Gefesselte« (Anm.16), S. 14.
  • 19. Alfred Tarski: »A General Method of Proofs in Undecidability«. In: Ders., Andrzej Mostowski, Raphael M. Robinson: Undecidable Theories. Amsterdam 1953, S. 1–36, hier: S. 11. Vgl. ebd., S. 12: »Consistency and completeness can also be characterized in terms of models. A theory T is consistent if and only if it has at least one model; it is complete if and only if every sentence of T which is satisfied in one model is also satisfied in any other model of T.«
  • 20. Stanislaw Lem: Solaris. München 1983, S. 93.
  • 21. Ebd., S. 96f.
  • 22. Aichinger: »Der Gefesselte« (Anm. 16), S. 14.
  • 23. Ebd., S. 15.
  • 24. Ebd., S. 16.
  • 25. Ebd.
  • 26. Ebd., S. 21.
  • 27. Ebd., S. 25.
  • 28. In der Theoriedebatte wird der Fesselungscharakter der Modelle durchaus als Problem beschrieben, etwa wenn Horst Bredekamp mit Blick auf Michelangelos Modellkritik von einer »Fesselung der Denk- und Konstruktionspotentiale« spricht. Der Aichingersche Text ist also auch eine Theorie-Kontrafaktur. Horst Bredekamp: »Modelle in der Kunst und der Evolution«. In: Sonja Ginnow u. Kathrin Künzel (Hg.): Modelle des Denkens. Berlin 2005, S. 13–20, hier S. 16.
  • 29. So das Credo Bernd Mahrs. Vgl. Bernd Mahr: »Modelle und ihre Befragbarkeit. Grundlagen einer allgemeinen Modelltheorie«. In: EWE 26.3 (2015), S. 329–342, hier S. 335.
  • 30. Vgl. zum Programm einer ›reflexiven Entwurfsforschung‹ aus wissenschaftstheoretischer Perspektive Sabine Ammon u. Eva-Maria Froschauer (Hg.): Wissenschaft Entwerfen. Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfsforschung der Architektur. München 2013. Vgl. auch Reinhard Wendler: »›Es gibt Dinge, die dulden keine Herstellung in einem Modell‹. Zur Rolle der Geltung von Entwurfsmedien«. In: Friedrich Balke, Bernhard Siegert, Joseph Vogl (Hg.): Modelle und Modellierung. München 2015, S. 73–83.
  • 31. Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie. Frankfurt / M. 1967, S. 301.
  • 32. Ebd.
  • 33. Ebd., S. 301f.
  • 34. Diese Konfusion durchzieht die Strukturale Anthropologie als ganze und verhindert letztlich auch die Möglichkeit, das Potential des aufgerufenen Modellbegriffs tatsächlich auszuschöpfen. Vgl. etwa Lévi-Strauss’ Bezug zu Meyer Fortes Überlegungen zur Differenz »zwischen Modell und Wirklichkeit: ›Die Struktur kann nicht direkt aus der ›konkreten Wirklichkeit‹ herausgeholt werden. Wenn man sich bemüht, eine Struktur zu definieren, stellt man sich sozusagen auf das Niveau der Grammatik und der Syntax und nicht auf das der gesprochenen Sprache‹ […].« Ebd., S. 330.
  • 35. Ebd., S. 302.
  • 36. Der tautologische Charakter dieses ›Grundsatzes‹ wird deutlich wenn man ihn aufzulösen versucht: 1. Ein Modell gehört zu einer Gruppe von Transformationen. 2. Jede dieser Transformationen gehört zum selben Transformationstyp, und zwar so, dass 3. dieser Transformationstyp eine Gruppe von Modellen bildet. Leider handelt es sich hier auch um kein Übersetzungsproblem: »En second lieu, tout modèle appartient à un groupe de transformations dont chacune correspond à un modèle de même famille, si bien que l’ensemble de ces transformations constitue un groupe de modèles.« Claude Lévi-Strauss: Anthropologie structurale. Paris 1958, S. 131f.
  • 37. Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie (Anm. 31), S. 302.
  • 38. Ebd.
  • 39. Ebd., S. 304.
  • 40. Man könnte die Struktur- und Formbildung sogar als Evaluationsmoment bei der Bewertung des Modellerfolgs verstehen, etwa beim Modellvergleich in Anwendungsszenarien.
  • 41. Unklar bleibt, auf welcher Ebene die Unterscheidung von mechanischen Modellen und statistischen Modellen erfolgt. Ist sie ein Phänomen der Modellanalyse, so bleibt die Kategorie des Modellbaus erster Ordnung unterbestimmt. Ist sie hingegen dem Modellbau zuzurechnen, so ist unklar, warum Lévi-Strauss sie in der (ohnehin prekären) Zuordnung zu Einzeldisziplinen vom Modellbau trennen kann (vgl. ebd., S. 309, Schaubild).
  • 42. Ebd., S. 302.
  • 43. Ebd., S. 307.
  • 44. Dieses Subsumtionsverhältnis wird bisweilen auch als »Ordnung von Ordnungen« beschrieben, wobei die »›gedachten‹ Ordnungen« die »›gelebten‹ Ordnungen« organisieren. Ebd., S. 342f.
  • 45. Ebd., S. 308.
  • 46. Ebd.
  • 47. Julia Kristeva: »Semiotics: A Critical Science and/or a Critique of Science«. In: Dies.: The Kristeva Reader. Hg. von Toril Moi. New York 1986, S. 74–88, hier S. 76f.
  • 48. Wendler: Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft (Anm. 10), S. 20.
  • 49. Vgl. Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005.
  • 50. Ebd., S. 123f.
  • 51. Ebd., S. 132.
  • 52. Ebd., S. 117.
  • 53. Niklas Luhmann: »Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst«. In: Hans Ulrich Gumbrecht u. Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichte und Funktion eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt / M. 1986, zit. nach Baßler: Die kulturpoetische Funktion (Anm. 49), S. 117.
  • 54. Vgl. Lévi-Strauss’ Bemerkung, er sei »weiterhin der Auffassung, daß der Zeitbegriff nicht im Mittelpunkt der Debatte steht«. Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie (Anm. 31), S. 309.
  • 55. Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv (Anm. 49), S. 355.
  • 56. Baßler spricht von einem »archivimmanenten Strukturalismus« und konstatiert: »Was in einem theoretisch definierten Sinne Text ist, ein wiederholt zugängliches Objekt mit Bedeutung, ist ipso facto Teil eines kulturellen Archivs und daher im Prinzip nahezu unendlich semiotisierbar«. Ebd., S. 336, vgl. S. 361f.
  • 57. »›Sekundär im Verhältnis zur (natürlichen) Sprache‹«, so Lotman, sei hier »nicht nur zu verstehen als ›die natürliche Sprache als Material nutzend‹« – die Bestimmung deutet vielmehr auf den Text als ordnende und regulierende Modellinstanz sowie als Generator von »Bedeutungen, die auf suprasprachlichem Niveau entstehen und den sekundären Systemen als solchen zugehören«. Juri Lotman: Die Struktur literarischer Texte. 3. Aufl. Frankfurt / M. 1989, S. 22, 69 (in Fußnote 14); vgl. ebd., S. 272f.: »Die Integration der Sinnkomponenten und die Entstehung neuer Bedeutungen vollzieht sich nicht auf der sprachlichen Ebene, sondern auf der suprasprachlichen der poetischen Struktur.«
  • 58. Ebd., S. 35.
  • 59. Ebd., S. 77.
  • 60. Ebd., S. 324.
  • 61. Ebd., S. 27. (Hervorhebung R.M.E.)
  • 62. Ebd., S. 40. Solche Mikromodellierung unterstützt auch Lotmans Insistieren auf einer ›Sprache der Kunst‹: »So bewirkt die bloße Aufnahme eines Wortes in einen dichterischen Text eine entscheidende Veränderung seiner Natur: aus einem Wort der Sprache wird es zu einer Reproduktion dieses Wortes der Sprache und verhält sich zu ihm ebenso wie das Abbild der Wirklichkeit in der Kunst zu dem reproduzierten lebendigen Vorbild. Das Wort wird zum Zeichenmodell eines Zeichenmodells und unterscheidet sich damit auch durch seinen semantischen Sättigungsgrad ganz entscheidend von den Wörtern der nichtkünstlerischen Sprache.« Ebd., S. 212.
  • 63. Ebd., S. 96.
  • 64. Ebd., S. 97.
  • 65. Ebd., S. 97.
  • 66. Ebd., S. 102.
  • 67. Ebd., S. 107.
  • 68. Ebd., S. 110.
  • 69. Vgl. Darin Tenev: »Literaturnata tvorba: vuzmozhnost, identichnost, unikalnost« [»The Literary Work: Possibility, Identity, Uniqueness«]. In: Sociological Problems 3–4 (2013), S. 165–175. Tenev postuliert hier im Gefolge Ingardens und Isers »a potentiality subsisting despite the essence, or structure [of the literary work], so that it makes possible the different readings and yet saves the uniqueness of the work. […] So we have to conclude that the actualizations are inscribed in a generally indeterminate way. This very inscription is a potentialization.« Ebd., S.167 (Übersetzung des Autors). Die Potenzialisierung tritt hier also nicht in Widerspruch zur Theorie bzw. zum Präsenzgeschehen, sondern dient ihnen als Einlass oder Ansatzpunkt.
  • 70. Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. 16. Aufl. Frankfurt / M. 2013, S. 38.
  • 71. Tenev spricht in diesem Kontext von einer »retrospective justification«, die jedoch, genau genommen, eine ›concurrent justification‹ ist. Darin Tenev: »The Threshold of Meaning (Notes on Literary Phenomenological Archeology)«. In: Teresa Dobryńska u. Raya Kuncheva (Hg.): Vision and Cognition. Literary, Linguistic and Cultural Aspects. Koritsa 2011, S. 332–339, hier S. 333.
  • 72. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt / M. 1995, S. 111.
  • 73. Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt / M. 1984, S. 114.
  • 74. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 72), S. 50.
  • 75. Vgl. Bernd Mahr: »Modelle und ihre Befragbarkeit« (Anm. 29), Mahr: »On the Epistemology of Models« (Anm. 12).
  • 76. Der Begriff ›Modellinstanz‹ ersetzt hier das »Konzept Subjekt« als Träger einer Auffassung, um dessen antipersonalen Zuschnitt zu betonen. Insbesondere bei Lotman neigen personalisierte Termini zur Psychologisierung des als operational gedachten Vorgang – im Sinn der cognitive poetics freilich ein erwünschter Effekt: »Unter ›Subjekt eines Systems‹ verstehen wir ein Bewußtsein, das fähig ist, eine derartige Struktur hervorzubringen und das folglich bei der Rezeption rekonstruiert werden kann.« Lotman: Die Struktur literarischer Texte (Anm. 57), S. 375. Entsprechend lassen sich Modellentscheide auf der Basis strukturaler und archivpoetischer Beschreibungen rekonstruieren.
  • 77. Auf diese Weise trägt der Informatiker dem Hinweis Rechnung, den schon Lévi-Strauss mit Blick auf die Funktion des künstlerischen Modellierens gibt, der Warnung nämlich, im Prozess der Kontingenzbearbeitung das Werk nicht »auf den Rang eines Abbildes (als Ergänzung zum Modell) oder des Instruments (als Ergänzung zum bearbeiteten Material) absinken« zu lassen. Lévi-Strauss: Das wilde Denken (Anm. 70), S. 44.
  • 78. Vgl. Wendler: Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft (Anm. 10), S. 27ff. Vgl. ebd., S. 203: »Modelle wechseln ihre Rollen und zwar nicht nur auf Geheiß eines Subjekts, sondern auch auf eigene Initiative hin, weil sie die Auffassungen verändern, von denen wiederum die Rollen abhängig sind, die man ihnen zuweist.«
  • 79. Lotman spricht hier analog von einer »doppelten Aufgabe der gleichzeitigen Modellierung des Objekts und des Subjekts« in der »Sprache der Kunst«. Lotman: Die Struktur literarischer Texte (Anm. 57), S. 36. Vgl. auch den Hinweis zum Problem der Umcodierung, die das Verhältnis von Modellinstanz und Modellobjekt diskutiert: »Eine pragmatische Umkodierung tritt dort auf, wo die Möglichkeit stilistisch divergierender Berichterstattung über ein und dasselbe Objekt verwirklicht wird. Es ändert sich also nicht das Modell des Objektes, sondern die Beziehung zu diesem Modell, d.h. es wird ein neues Subjekt modelliert.« Ebd., S. 77. Vgl. auch Wagner-Egelhaaf: »Norm, Form und Modell« (Anm. 13), S. 125ff. (mit Bezug zu Bernd Mahr).
  • 80. Aichinger: »Der Gefesselte« (Anm. 16), S. 20.
  • 81. Es handelt sich, modelltechnisch gesprochen, um die kreative Arbeit mit der Fesselung der Konstruktionspotenziale, dem positiven Einsatz der Limitation. Vgl. auch Wendler: Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft (Anm. 10), S. 68.
  • 82. Ebd., S. 16.
  • 83. Autorität, so Reinhard Wendler im Gefolge Mahrs, ist neben der Entwurfsfunktion ein wesentliches Modellattribut. Ist ein Modell erst einmal etabliert, entwickelt es mitunter eine Mächtigkeit, die Argumentationen abkürzt, wenn nicht gar ersetzt. Autorisierung durch Modelle ist in dieser Hinsicht eine Grundfunktion der wissenschaftlichen wie der ästhetischen und weltanschaulichen Diskurse gleichermaßen. Vgl. Wendler: Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft (Anm. 10), S. 63ff.
  • 84. Aichinger: »Der Gefesselte« (Anm. 16), S. 20.
  • 85. Ebd., S. 21.
  • 86. Vgl. Heinrich von Kleist: »Über das Marionettentheater«. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd.2. Hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. München 2010, S. 425–433.
  • 87. Was Reinhard Wendler für das Medium des Bildes feststellt, kann man hier am literarischen Objekt erkennen: eine Modelltheorie im Medium der Literatur.
  • 88. Vgl. Moritz Baßler (Hg.): Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne. Berlin, Boston 2013.
  • 89. Dies alles schließt nicht aus, dass man den fiktionalen Text auch mit Gewinn zur Matrix einer eigenen Modellbildung erklären kann. Hier freilich ändert sich das ontologische Kalkül: Die Interpretation versteht sich dann nicht mehr als Applikat des fiktionalen Textes und der Regeln seiner Steuerung, sie produziert vielmehr aus seinen Elementen ein Modellobjekt, das einem anderen applikativen Interesse folgt. Insofern demarkiert poetische Modellbildung zugleich die Grenze zwischen literarischen und außerliterarischen Lektüren fiktionaler Kunst.
  • 90. Nämlich einer, die sich sich »allen Horizontverschmelzungsphantasien verweigert und die sequenzielle Umbesetzung induktiver und deduktiver Übertragungsvorgänge als konstitutiv offenen Prozess begreift, der in die eher statisch geführte Gattungs- und Formdebatte ein Moment funktionaler Differenzierung und Veränderung einführt«. Wagner-Egelhaaf: »Norm, Form und Modell« (Anm. 13), S. 128. Ähnlich projektiert schon Lévi-Strauss eine posthermeneutische »Vereinigung im Innern eines Werkes, das vom Menschen geschaffen ist und somit virtuell auch vom Beschauer, der durch das Kunstwerk hindurch, zwischen Strukturordnung und Ereignisordnung, dessen Möglichkeit entdeckt.« Lévi-Strauss: Das wilde Denken (Anm. 70), S. 39.
  • 91. Vgl. Wendler: Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft (Anm. 10) und Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurt / M. 2010, S. 288.
  • 92. Zur Fiktionstheorie vgl. exemplarisch Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Aspekte literarischer Anthropologie. Frankfurt / M. 1990. Vgl. dazu Enyo Stoyanov: »The Fictive Glance. Wolfgang Iser’s Invention of the Real«. In: Teresa Dobryńska u. Raya Kuncheva (Hg.): Vision and Cognition. Literary, Linguistic and Cultural Aspects. Koritsa 2011, S. 369–386. Vgl. auch Wolfgang Iser: Emergenz. Nachgelassene und verstreut publizierte Essays. Hg. von Alexander Schmitz. Konstanz 2013. Zur Verfahrenstheorie und -geschichte vgl. Moritz Baßler: Deutsche Erzählprosa 1850–1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren. Berlin 2015, und Robert Matthias Erdbeer: »Der Text als Verfahren. Zur Funktion des textuellen Paradigmas im kulturgeschichtlichen Diskurs«. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 46/1 (2001), S. 77–105. Zur Archivpoetik vgl. Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv (Anm. 49).
  • 93. ›Modellbildung‹ bezeichnet hier im Gegensatz zur Konzeption Bernd Mahrs nicht nur die programmatische Erzeugung des Modells aus einer Matrix (als Pendant zur späteren Modellanwendung), sondern den gesamten Modellierungsverlauf. Modellbildung wird nämlich durch das Applikat nicht abgeschlossen, sondern wirkt auf das Modell (und mit ihm auf die Auswahl des Modellobjekts und seinen Cargo), auf das Urteil und die Auffassung der modellierenden Instanz zurück. Vgl. Bernd Mahr: »Modelle und ihre Befragbarkeit« (Anm. 29).
  • 94. Dies betrifft auch die Geschichtlichkeit der Rezeption. Aspekte einer solchen literarischen Modellgeschichte werden gegenwärtig am Münsteraner DFG-Graduiertenkolleg ›Literarische Form. Geschichte und Kultur ästhetischer Modellbildung‹ sowie im Kontext der deutsch-bulgarischen Forschergruppe ›Literary Modeling‹ erprobt. Vgl. dazu Darin Tenev: Fiktia i Obraz. Modeli [Fiktion und Bild. Modelle]. Plowdiw 2012. Zur interdisziplinären Modelltheorie und -geschichte vgl. insbesondere Wendler: Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft (Anm. 10), zur Autofiktionsforschung Wagner-Egelhaaf: »Norm, Form und Modell« (Anm. 13).
  • 95. Mahr: »Modelle und ihre Befragbarkeit« (Anm. 29), Manuskript-S. 28.

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