Tagebuch und Blog werden seit einiger Zeit als Formen diaristischer Praktiken von der literaturwissenschaftlichen Forschung vergleichend in den Blick genommen. Als solche sind sie, auch wenn die Frage nach ihrem Verhältnis zueinander nicht gänzlich geklärt ist, Medien und Ort der Subjektkonstitution. Die eigene Konstitution war auch beständiger Gegenstand im Schaffen des Regisseurs und Künstlers Christoph Schlingensief (1960–2010). Er hat nicht nur ein Tagebuch einer Krebserkrankung (2009) veröffentlicht und einen Blog (2008–2010) betrieben, die Frage nach der Konstitution seiner eigenen Person war auch in seinen Filmen, Inszenierungen und Aktionen gegenwärtig. Schlingensief trat vor dem Hintergrund postdramatischer Entwicklungen nicht nur als Schauspieler oder Figur auf und ließ sich etwa im Rahmen seiner Aktion Bitte liebt Österreich (2000) von Doppelgängern vertreten, sondern eröffnete auch durch die Verwendung der eigenen Lebensdaten, die zu einer Art »running gag« wurden, eine autobiographische Dimension seiner Arbeiten. Im Folgenden wird untersucht, wie Schlingensief analoges und digitales Medium, vertreten durch Tagebuch und Blog, nutzt, um sich als Subjekt zu entwerfen, und wie darin Authentizität und Autorschaft generiert werden. Der Analyse liegt die Annahme zugrunde, dass das Tagebuch vor allem als autoreferentiell bzw. autofiktiv klassifiziert werden kann, während der Blog vor allem mit dem Potential zum Hypertext über sich hinaus weist.
Tagebuch vs. Blog: analoge vs. digitale Subjektivation
Tagebuch und Blog bieten unterschiedliche Möglichkeiten der Subjektkonstitution, da sie sich etwa in ihrer Medialität und Visualität, Linearität bzw. Chronologie, ihrer Reichweite und Verfügbarkeit unterscheiden und der Blog zudem Möglichkeiten für Interaktion umfasst. Während das Tagebuch einer vorgegebenen Chronologie folgt, sei es einer linearen Zeitabfolge der Einträge oder einer Linearität im Sinne einer Chronologie des Lesens (von vorne nach hinten), funktioniert der Blog in Echtzeit. Blog-Einträge sind ›sofort‹ lesbar und werden in der Regel nicht wie Tagebücher linear bzw. nicht vom ersten zum letzten Eintrag gelesen. Ein entscheidender Aspekt ist auch die Rolle des Lesers, da der Blog nicht nur von der linearen Chronologie eines Tagebuchs abweicht, sondern auch eine gewisse Multilinearität aufweist. Im Gegensatz zur Autobiographie leistet zwar auch das Tagebuch keine Synthese des Lebens, obwohl es eine durchgängige Autorstimme aufweist, im Blog rückt diese Stimme jedoch mehr noch in den Hintergrund, so eine Hypothese vorab. Schließlich übernimmt der Leser einen wichtigen Part und partizipiert an der Narration, wenn er entscheidet und aus einer durch den Autor konstruierten Möglichkeit an Einträgen, Hyperlinks etc. auswählt. Hinzu kommt die Funktion des Kommentars, die auf dem Schlingenblog allerdings schlichtweg nicht genutzt wird bzw. deaktiviert ist. Der Leser tritt somit in einer konstitutiven Rolle auf, die allerdings nicht die Struktur des Blogs o.ä. beeinflusst, sondern vor allem die eigene Lesart betrifft. Insofern nähert sich die Funktion des Lesers – als Ko-Autor – der des Autors auf gewisse Weise an. Entsprechend schließt Claudia Öhlschläger, dass der Blog die »strikte Trennung von Autor- und Leserfunktion aufhebt«, was mindestens im Falle des Schlingenblogs nicht zutrifft, da eine Interaktion zwischen Blog-Autor und Leser ausblieb. Dennoch, es ist für die Frage nach der Konstitution des Subjekts entscheidend, dass der Leser Einfluss auf die Narration nimmt. Genauere Schlüsse bleiben in der unten folgenden Analyse zu ziehen.
Entscheidend für die Narration des Blogs ist auch seine Visualität. Zwar ist das Tagebuch in seiner Haptik im wahrsten Sinne des Wortes greifbarer als der Online-Blog, der nur im Nicht-Raum des Worldwideweb existiert, der Blog aber bietet breitere visuelle Möglichkeiten, über das Einbinden von Bildern und Videos hinaus auch die Möglichkeit, auf Webseiten etc. zu verlinken. Dieses Potential zum Hypertext fehlt dem Tagebuch, das in dieser Hinsicht innerhalb seiner eigenen Grenzen bleibt und eine völlig andere Form und Möglichkeit der Referentialität aufweist. Anders als der Blog folgt das Tagebuch den konventionellen Formen der Intertextualität.
Bezüglich der Frage nach der Konstitution des Subjekts ist zudem die Kategorisierung von Tagebuch und Blog auf rezeptioneller Ebene entscheidend. Während das Tagebuch – nach wie vor – meist vor einem Privatheitsparadigma gelesen wird, sind Blogs bisher der Absicht nach differenziert worden, die ihren Urhebern über Inhalt und Gestaltung unterstellt werden kann. Christian R. Hoffmann unterscheidet entsprechend das dem Tagebuch am nächsten stehende internet diary, den career weblog und den commerical weblog, wobei eine Zuschreibung nicht immer eindeutig ausfallen muss. Der Blog ist also nicht bloß als digitale Form des Tagebuchs zu verstehen, andererseits können Aspekte der Karriere und Eigen-Werbung sicher auch dem literarischen Tagebuch zugeordnet werden. Dennoch schwebte über dem folgenden Vergleich von Schlingensiefs Tagebuch und Blog der Eindruck, dass diaristische Praktiken im digitalen Zeitalter von Social Media & Co. eine neue Radikalität (bzw. Quantität) erreicht haben müssten und der Blog folglich ein radikaleres Medium der Subjektkonstitution als das Tagebuch bietet. Vor allem der potentielle live-Charakter des Blogs mag dazu beitragen, dass seine Einträge und sein Inhalt als besonders unmittelbar und insofern authentisch wahrgenommen werden. Wenn das Subjekt sich gemeinhin mit Michel Foucault und Ulrich Bröckling als ›unternehmerisches‹ benennen ließe, das ohnehin der ständigen Selbstvermarktung unterliegt, so scheinen der ökonomischen Selbstinszenierung im digitalen Zeitalter doch kaum noch (zeitliche oder räumliche) Grenzen gesetzt und auch die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion scheinen immer mehr zu verschwimmen. Doch auch für das Tagebuch wurde eine Entwicklung von einem Medium der Selbstbeobachtung hin zu einem Medium der Selbstvermarktung konstatiert. Dabei unterscheidet sich die diaristische Praktik, ob nun analog oder digital, im Falle von ›Personen des öffentlichen Lebens‹, zu denen Schlingensief als Künstler zählt, von denen ›normaler‹ Bürger. Selbstdarstellung und -vermarktung haben hier eine besondere Tradition und Rolle und Tagebücher, private Aufzeichnungen und Briefkorrespondenzen von Künstlerinnen und Künstlern erfreuen sich eines besonderen Interesses. Oftmals reflektieren ihre Urheber darin das eigene Künstler-Sein. Aber, so ein Eindruck der Recherche, Künstler – Maler, Performer, Regisseure – bloggen gemeinhin nicht, ganz im Gegensatz zu Schriftstellern – und zu Christoph Schlingensief, der in seinem Blog gerade die Etablierung seiner Künstlerschaft unternimmt, die mit einer sozialen Verortung und besonderen Referentialität einhergeht.
Schlingensiefs Präsenz
Christoph Schlingensief verfügt auch nach seinem Tod über ein nicht öffentliches Facebook-Profil, das 2010 angelegt wurde, einen Twitter-Account, der nach wie vor (vermutlich vom Nachlass) genutzt wird, eine Homepage sowie zahlreiche Internetseiten zu verschiedenen Projekten und über den Schlingenblog. Die eigene Person bzw. seine Erkrankung an Krebs sind auch Gegenstand seines Tagebuchs So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein. Tagebuch einer Krebserkrankung sowie einiger seiner Opern, darunter Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Fluxus-Oratorium (2008) und Mea Culpa. Eine ReadyMadeOper von Christoph Schlingensief (2009). Eine seiner grundlegenden künstlerischen Strategien war seine ständige mediale Präsenz und Offenheit bzw. Öffentlichkeit, die vermeintliche Offenlegung des Privaten, die aufgrund seiner exzessiven Vehemenz mitunter als »manische Nabelschau« bezeichnet worden ist. Schlingensiefs künstlerisches Schaffen drehte sich permanent um die Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten der eigenen Konstitution als Subjekt durch Selbsttechniken, durch die Thematisierung und Darstellung des Selbst. Besonders deutlich ist die Auseinandersetzung mit dieser Thematik in seinem Tagebuch, das folgend als ›klassische‹ Selbsttechnik untersucht wird.
Schlingensiefs Tagebuch
Das Tagebuch einer Krebserkrankung ist aus Aufzeichnungen entstanden, die Schlingensief zu Beginn seiner Krebsdiagnose im Jahr 2008 mit einem Diktiergerät aufgenommen hat und die als Text- und Ton-Material in verschiedenen Inszenierungen, u.a. in Mea Culpa verwendet wurden. Anlass seines Sprechens und der Auseinandersetzung und Konfrontation mit sich ist die Krankheit als tiefer Einschnitt in sein bisheriges Leben; eine durchaus geläufige Motivation des Tagebuch-Führens. Mit der Verschriftlichung der Tonbandaufnahmen liegt das Tagebuch als Objekt vor, als ein ›Geschlossenes‹. Von dessen Buchumschlag blickt der Künstler dem Leser von einer Schwarz-Weiß-Aufnahme entgegen. Nun definiert Philippe Lejeune autobiographische Schriften über die Identität von Autor und Erzähler, die durch die Verwendung des Autornamens auf paratextueller und textueller Ebene garantiert wird. Ausgehend davon konstituiert Lejeune den autobiographischen Pakt als Kontraktverhältnis zwischen Leser und Text bzw. Autor. Indem Schlingensief in Bild und Name zentral auf dem Cover erscheint, scheint diesem Pakt demonstrativ Ausdruck verliehen zu werden. Seinen Aufzeichnungen ist als Paratext ein Motto vorangestellt: »Auf dass die kreisenden Gedanken endlich ihren Grund finden. (C. S.)« (S. 7). Dem folgt ein Vorwort, das datiert und mit Namen unterschrieben ist: »Wien, den 24.3.2009 / Christoph Schlingensief« (S. 11). Darin benennt Schlingensief das Tagebuch als »Dokument einer Erkrankung«, »gegen die Sprachlosigkeit« und »den Verlust der Autonomie« (S. 9). Zudem erklärt er den Anlass der Aufzeichnungen: Es gehe darum, »die Erkrankung vor sich zu stellen, sie und sich selbst von außen zu betrachten« (ebd.), ganz im Geiste einer Arbeit am Ich. Entsprechend bezeichnet der Klappentext das Tagebuch als »Protokoll einer Selbstbefragung«. Schlingensief behauptet hier die Funktion des Tagebuchs als Medium und Ort eines intimen Für-sich-Schreibens, das in seinem Fall ursprünglich ein Sprechen ist, in der veröffentlichten Buchform hingegen nach außen dringen soll. Auch indem die Absicht des Sich-Betrachtens benannt wird, bedient Schlingensief typische Rechtfertigungsformeln, die vor der Lektüre seines Tagebuchs noch einmal stark gemacht werden. Zudem wird Authentizität des abgebildeten Subjektes behauptet, das sich vor dem Hintergrund seiner Erkrankung sich seiner selbst – und seiner Konstitution – vergewissern will.
Auf den paratextuellen Vorbau folgen auf einer Länge von 242 Seiten insgesamt 46 datierte Einträge, deren Umfang von einer bis 18 Seiten variiert. Die Zeit der Diagnose und Chemotherapie, die das Tagebuch umfasst, reicht vom 15.01.2008 bis zum 27.12. desselben Jahres. Die einzelnen Einträge des Tagebuchs sind meist durch weitere Absätze gegliedert, die unterschiedlichen Zeiten eines Tages entsprechen. Sie sind fragmentarisch, fügen sich aber durch die chronologische Zusammenstellung und auch inhaltlich auf der Ebene der Erzählung zu einem Ganzen zusammen. Zwar ist kein bildhaftes Material in das Buch eingefügt, das den Lesefluss unterbricht, aber zahlreiche Motti sind dem Fließtext, aus dem sie stammen, in unregelmäßigen Abständen beigestellt. Diese Wiederholungen und Hervorhebungen stützen den Ratgeber-Charakter des Tagebuchs, den auch das Vorwort stark macht, und sie spiegeln den Notiz-Charakter der Aufzeichnungen wider, die zugleich vor allem durch eine inhaltliche Verknüpfung ein Text-Ganzes ergeben, die ihre strukturelle Fragmentarität auffängt. Oft werden die Einträge mit einem Rückblick begonnen, der den vergangenen Tag resümiert, und vielen ist mit einer Verabschiedung ein klares Ende gesetzt. Sehr selten geht es um das ›Jetzt‹, um die Gegenwart des Sprechens, sondern um das Bewerten des Geschehenen, vor allem aber des Gedachten und Empfundenen. Ereignisse sind eher nebensächlich, die Auseinandersetzung mit Emotionen und dem Inneren hingegen von Bedeutung.
Während sich Schlingensief zu Beginn täglich seinem Tagebuch zuwendet, sind die Einträge in den späteren Monaten rar. Nach einer letzten Meldung im April folgen erst im Dezember drei Einträge, die jedoch inhaltlich wie formal nahtlos an die vorherigen anschließen. Die Lücke, die zwischen den Einträgen besteht, klafft dem Leser insofern nicht entgegen, dennoch verdeutlicht sie die Selektivität der (ausgewählten) Einträge. Die neueren Einträge beginnen zudem mit der Begründung für das lange Schweigen und das erneute Sprechen:
Nun ist fast ein Jahr seit der Diagnose vergangen – und eine lange Zeit, seitdem ich das letzte Mal in mein Diktiergerät gesprochen habe. […] Der Krebs ist wieder da. […] Die Woche vor dieser Nachricht war ich guter Dinge. […] Inzwischen bin ich fast sicher, dass ich nicht mehr viel Zeit haben werde auf der Erde. (S. 235)
Auch die übrigen kleineren Auslassungen und Unregelmäßigkeiten werden meist explizit benannt und aufgefangen, mit der schlechten emotionalen Verfassung, der Operation sowie der Chemotherapie des Autors begründet, sodass auch die Zeit Gegenstand ist, für die es keine Einträge gibt. Zudem wird an der oben zitierten Stelle des Tagebuchs die Redesituation direkt thematisiert – und dafür lassen sich viele weitere Beispiele nennen: »Das war der Bericht von heute« (S. 35), heißt es und »Ich merke, wie wahnsinnig schwer es mir fällt […] in den Mülleimer hier zu sprechen […]« (S. 251). Da wird das Reden ins »Gerät« (S. 124) benannt und das Ich als Beobachter seiner selbst bezeichnet. Reden und Sprechen werden hier deutlich als Selbsttechniken markiert. Derartige Hinweise auf die Tonbandaufzeichnungen bewirken einen Effekt des Authentischen, denn das Sprechen erscheint unmittelbarer als das Schreiben, zugleich aber wird dem Leser die Medialisierung des Gesprochenen in geschriebene Sprache bewusst gemacht und die Verschriftlichung, die auch Auswahl und Zensur bedeuten kann. Trotz der Sequenzierung des Tagebuchs versucht das Subjekt sich über die Selbsttechnik als ein einheitliches zu etablieren, weil es sich in einer ständigen Auslotung befindet. Entscheidend ist, dass das Subjekt artikuliert, dass es spricht (oder später für die Buchform verschriftlicht wird) um sich zu manifestieren. Neben dem Akt des Aussprechens auf Tonband als Form des Wahrsprechens bildet die Verschriftlichung des Gesprochenen noch einmal eine weitere Dimension dieses Manifestieren-Wollens ab.
Einige der Einträge enden zwar unvermittelt in einem Gedankengang, aber ebenso häufig und vor allem zum Ende des Tagebuchs wird eine ausdrückliche Verabschiedung und Zuwendung vorgenommen, die über den Moment des Sprechens hinausweist, indem die Einträge mit »Gute Nacht« (S. 57), »Bis dann« (S. 80) oder »Ein schöner Abend und bis morgen dann« (S. 180) geschlossen werden. Auch wenn dies nicht unbedingt einem Selbstgespräch entspricht, wird das Selbstgespräch ständig behauptet, benannt und auf seinen Sinn hin befragt. Dem Selbstgespräch, dem Zwiegespräch mit sich selbst gemäß, nimmt das Ich des Tagebuchs selten eine genaue Adressierung vor, doch es werden durchaus Dritte angesprochen, darunter Schutzengel, Geister, Heilige und Gott sowie der tote Vater. Auch wird die Adressiertheit – und zugleich der Sinn und die Funktion – des Ausgesprochenen befragt:
Mit wem rede ich da eigentlich? Du sagst ja doch nix. […] Wer ist das? Ich bin sehr enttäuscht und traurig. […] Ach ihre Heiligen und ihr, ich weiß nicht, ihr Geister […]. (S. 47)
Ein besonders dominanter Punkt in Schlingensiefs Tagebuch ist die Begründung des Sprechens, die schon im Vorwort vorgenommen wird. Im Tagebuch wird problematisiert, dass das Subjekt sich nicht mehr mit sich selbst identifizieren kann, weil sich gegensätzliche Gefühlslagen und Ansichten abwechseln. Schlingensief bezeichnet sich nicht nur als ›ich‹, sondern auch als ›er‹, ›du‹ und ›wir‹. Und demonstrativ verklausuliert er an einer Stelle: »Ich bin nicht mehr der, der ich bin« (S. 68). Die Aufzeichnungen werden als eine Maßnahme auf ethischer Ebene gegen dieses Uneins-Sein, das Vergessen und die permanente Veränderung argumentiert. Das Ich beschreibt ausdrücklich erinnern zu wollen, was es in der Zeit der Krankheit war. Aus diesem Grund werden nicht der Verlauf der Krankheit oder Befunde geschildert, sondern dessen Gedanken. Explizit weist es darauf hin, dass die Aufzeichnungen die Möglichkeit des erneuten Hörens und Auseinandersetzens bieten: »Ich kann mich mit den Aufzeichnungen hier beschäftigen, mal hören, was ich da alles gedacht habe« (S. 161). Auch dies ist ein typischer Topos des Tagebuchs, das zur Stabilisierung der Persönlichkeit geführt wird, indem es wieder gelesen und das Gelesene erinnert und verinnerlicht werden kann. Foucault beschreibt diese Funktion für die Hypomnemata als Form der Askese, die als Erinnerungsform und als »Akt des Erinnerns« dienen. Nachdenken und Aussprechen sind dem erzählenden Subjekt in Schlingensiefs Tagebuch Kompensationsmoment gegen die geistige Gespaltenheit und daher wichtige Kategorien. Sie erlauben ihm, eine Form der Wahrheit im Sinne von Wahrhaftigkeit zu erkennen und auch zu schaffen, die auch in der eigenen Iterabilität besteht. In Schlingensiefs Tagebuchaufzeichnungen wird insofern eine Auseinandersetzung mit dem ›Selbst‹ direkt inszeniert, wobei die Bezeichnung als Inszenierung nicht meint, dass die Auseinandersetzung nicht stattgefunden haben mag, sondern ihr Gebrauch betont, dass sie geradezu in Szene gesetzt, mit Erika Fischer-Lichte »zur Erscheinung« gebracht wird.
Schlingensiefs Tagebuch nimmt eine stetige Analyse und keine abschließende Synthese vor. Abgebildet werden in seinem Fall eine Genese und eine Art geistige Genesung. Beginnend mit der Diagnose der Erkrankung führt das Tagebuch über das seelische und körperliche Auf und Ab und endet mit einem hoffnungsvollen und zuversichtlichen Ausblick in die Zukunft. Im (aller)letzten Eintrag heißt es:
Guten Morgen. Es ist halb neun, und das Logbuch von Mister Spock tut jetzt hier Folgendes kund: Was bisher geschah, ist nicht wichtig, aber was heute geschehen wird, ist wichtig. Heute ist ein besonderer Tag […]. Jetzt ist also der Tag da und ich kann ehrlich sagen: Gut, soll er kommen. […] Und ich weiß jetzt, es geht nicht um ein paar Stunden und Tage, sondern es geht um ein ganzes Leben […] – es ist ganz einfach ein Leben. Und dieses ganze Leben werde ich jetzt in der Röhre auf medizinische Art und Weise abhandeln, aber in mir […] wird es noch ganz anders seine Kraft entfalten. Davon bin ich fest überzeugt. Und jetzt fahren wir gleich los. (S. 251–255)
Der Leser verharrt in der Erwartung einer Zukunft des sprechenden Subjekts. Gemäß des Motivs des sich Findens hat das Ich sich am Ende abgefunden mit der Erkrankung. Insofern scheint das Ziel der Subjektivation erreicht, wenn abschließend resümiert werden kann, dass Schlingensiefs Tagebuch sich in den Dienst einer Arbeit am Ich stellt und in seiner klassischen Erinnerungsfunktion als Art Hypomnemata konstruiert wird. Das Subjekt spricht bzw. schreibt, um Gedachtes festzuhalten und zu materialisieren, um es erinnern und sich erneut aneignen zu können und sich letztendlich ganz im Sinne einer Selbsttechnik und Arbeit am Ich als eine ständige Aushandlung als einheitliches Subjekt konstituieren zu können, wie es am Ende des Tagebuches erreicht scheint. Es bleibt am Rande darauf hinzuweisen, dass Schlingensief bei der Lesereise 2009 zum Tagebuch den Erfolg dieses Unterfangens zurückwies und das in seinem Tagebuch Beschriebene der Vergangenheit zuordnete, das er nun nicht mehr nachvollziehen könne. Er negierte insofern die Abschließbarkeit dieses Unterfangens. Unabhängig davon bietet das Tagebuch als Selbstgespräch dem Subjekt eine Form der Manifestation, die durch die Veröffentlichung des Buches auf anderer Ebene erfolgt. Man mag erwarten, dass sich Schlingensief auf seinem Blog, als nächste Dimension der Öffentlichkeit und Präsenz, ebenso exponiert selbst thematisiert wie in seinem Tagebuch. Allerdings trifft dies kaum zu, wie gezeigt werden soll, hingegen spielt Schlingensief hier als Künstler im sozialen Gefüge eine Rolle.
Schlingensiefs Schlingenblog
Schlingensiefs Blog mit dem eingängigen wie bezeichnenden Namen Schlingenblog wurde von 26.11.2008 bis zum 07.08.2010 betrieben, drei Wochen vor seinem Tod am 21.08.2010. Seither ist der Blog inaktiv im Worldwideweb archiviert, wohlgemerkt in mehreren Varianten. Diese unterscheiden sich in ihrem Erscheinungsbild und ihrer Nutzbarkeit, jedoch nicht in den Blogeinträgen, die identisch sind. Dabei sind auf beiden Blogs zahlreiche Bilder und Videos sowie Hyperlinks nicht mehr verfügbar und teilweise nur noch ihr Name sichtbar, der zur Markierung einer Leerstelle wird.
Auf den Blog www.peter-deutschmark.de/schlingenblog, der sich selbst als aktueller Blog von Schlingensief vorstellt, gelangt man über die Homepage von Schlingensiefs Galerie und seine eigene Homepage. Er ist insofern eher im künstlerischen Kontext verortet und zeigt dementsprechend auf seinem Banner im oberen Bereich die professionelle Fotografie vom Cover des Tagebuchs, die auch prominent auf Schlingensiefs Homepage zu sehen ist, sowie einige Installations- und Inszenierungsansichten. Der Blog schlingenblog.wordpress.com zeigt auf einer weniger gestellten Fotografie in schlechter Auflösung den Künstler mit zerzausten Haaren und Brille in einer Seitenansicht, neben dem Hinweis, dass es sich um den persönlichen Blog von Schlingensief handle. Während die Einträge auf diesem Blog als endloser Fließtext untereinander erscheinen, entspricht der Aufbau des anderen der gängigen Form eines Blogs. In der Übersicht sind die Beiträge für eine umfangreichere Ansicht gekürzt. Um sie ganz zu lesen, muss man ihren Links auf eine eigene Seite folgen. Hier ist jeder Eintrag mit einer Betitelung versehen, die eine Orientierung ermöglicht und erleichtert, mit Datum der Veröffentlichung sowie dem Namen des Urhebers – Christoph Schlingensief – und dem Hinweis: »Comments are closed«, was den heutigen statischen Zustand des Blogs markiert. Neben der Auswahl aus einzelnen Monaten lassen sich auch Kategorien wie Audio, Tagebuch und Video aufrufen, zudem gibt es Tags wie Reise oder Bochum, die eine thematische Orientierung ermöglichen. Außerdem sind verschiedene Projekte von Schlingensief in dem Blog verlinkt. Während der Deutschmark-Blog von 2008 bis 2010 archiviert ist, reicht der ›private‹ Blog nur von 2009 bis 2010, ältere Einträge sind nicht mehr verfügbar. Aus der Betrachtung der archivierten Einträge beider Blogs kann geschlossen werden, dass Schlingensiefs Blog mit durchschnittlich einem Post pro Woche dieselbe Frequenz wie das Tagebuch des Künstlers hat. Unabhängig davon, wie weit die Blogs zurückreichen, beide werden vom letzten Eintrag dominiert, der nun immer sichtbar auf der ersten Seite erscheint, die Leseerwartung und Lesart prägt und die eigene Funktion des Bloggens reflektiert. Wenige Wochen vor seinem Tod postete Schlingensief am 07.08.2010 ein letztes Mal. In seinem Eintrag zweifelt der Autor am Sinn des Blogs, bewertet ihn und weist darauf hin, dass er ausgehend davon nachträglich eine Zensur vorgenommen hat, die keiner Korrektur entspricht.
Unter dem Titel »07-08-2010- DIE BILDER VERSCHWINDEN AUTOMATISCH UND ÜBERMALEN SICH SO ODER SO ! – ›ERINNERN HEISST: VERGESSEN !‹ (Da können wir ruhig unbedingt auch mal schlafen!)« heißt es:
Wie lange war es still… lange stiill. stoße jetzt nach ca. 3 wochen auf das letzte video hier. habe ich gleich gelöscht. wen soll das das interessieren? vielleicht sind solche vidoeblogs oder einträgen nur dann von intererrägen, wenn die angst zu gross wird. die angst, weil diese kleine illussion von — aber nun nach den knapp 4 wochen scheint es anderes zu sein. die bilder (ixen) sich aus… da ist ja kein sentimentaler schmerz. die bausupsanz ist erstaunlich gut… und nun? wieder ein neues bild? wieder infos zu neuen dingen, die ,…… ja eigentlich was ?….. alles sehr oberflächlich und rechtschreibefehler häufen sich die dinge …. das baut läufz seit tmc auf. der appetetit läßt rasant nach. – ARD- TATORTREKA7 …(warum werde ich icht nicht denn nicht wenigstes einer meiner halbwegs siution normalererenen situatuin aufgeklärt. so macht es mich nur traurig, piasch und
So bricht der rudimentäre Eintrag einfach ab, der durch seine erschwerte Lesbarkeit eine authentische und unmittelbare Gestalt erhält. Er vermittelt den Eindruck, dass er einfach drauflos getextet, in ›Echtzeit‹ und ohne Korrektur veröffentlicht wurde. Dabei deutet der Eintrag selbst auf die Zensur des Schreibers hin, der im erneuten Lesen seines Blogs, ausgehend von seinen aktuellen Einstellungen, nachträgliche Veränderungen vornimmt, die seiner eigentlichen Unmittelbarkeit gegenübersteht. Dabei hat Schlingensief das Video nur auf einer der beiden Blog-Versionen gelöscht, über den Deutschmark-Blog kann es nach wie vor aufgerufen werden.
Auch wenn es Schlingensief in seinem letzten Post um den Eindruck und das Bild geht, das der Leser seines Blogs vom ihm erhält, der Blog selbst setzt sich keineswegs so durchgängig wie der Eintrag mit dem schreibenden und sich konstituierenden Subjekt auseinander, wie es suggeriert wird. Obgleich der letzte Blogeintrag nun eingangs über allen anderen Beiträgen schwebt und einen spezifischen Eindruck vermittelt, bedeutet er einen Bruch, denn Reflexivität ist dem Blog nicht gerade eigen. Dass das Subjekt in einer ständigen Auslotung des eigenen Selbst begriffen ist, wie es auch für das Tagebuch nachgezeichnet wurde, ist nicht Gegenstand des Blogs. Er ist fragmentarisches Archiv einzelner Geschichten, die jeweils eine eigene narrative Struktur haben. Oft werden aktuelle Geschehnisse kommentiert, am 22.03.2010 etwa der Tod von Wolfgang Wagner unter der Überschrift »HEUTE FRAGEN VIELE NACH EINEM STATEMENT – Deshalb diese kleine Geschichte… kann gerne benutzt werden!«, andernorts der Fall Helene Hegemann, das Minarett-Verbot in der Schweiz, eine Sendung von Anne Will und dergleichen mehr. Schlingensiefs Posts sind gesammelte News, Notizen, Kommentare, Berichte, Gedanken, die sich kaum mit einer einzelnen Bezeichnung charakterisieren lassen, das Subjekt allerdings über das Einbinden verschiedener Positionen und Ereignisse immer mitkonstituieren.
Den jeweiligen Titeln der Einträge folgen unterschiedlich lange Texte, meist Fließtexte, die nur selten durch Kursiv- und Fett-Setzungen oder auch Großschreibung gegliedert sind. Dies scheint weniger auf einen Dilettantismus Schlingensiefs zurückzuführen, als in der Ästhetik eines Schreibens im Worldwideweb verortbar zu sein. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird nicht oder kaum vom Schriftbild gelenkt, sondern vor allem von den zahlreichen Materialien, den Artikeln, den Bildern und Medien verschiedener Art und Qualität sowie verschiedenen Inhalts bestimmt. Die Hierarchie dieser Medien wurden eine Zeit lang auch davon geprägt, dass Videobeiträge in dem Blog automatisch starteten, sodass der Leser irritiert von der Bild-Ton-Schere nach unten scrollen musste, bis er auf das Video stieß, dessen Audioinhalt er bereits ausgesetzt war. Dabei ist das visuelle Material eher rudimentär in die Narration der Einträge eingebunden. Dem Video-Post MATTHIAS LILIENTHAL WIRD 50 ! folgt beispielsweise die Unterschrift: »›Das Video wurde auf der Geburtstagsfeier gegen 1 uhr nachts aufgenommen‹«. Dann nimmt Schlingensief den Geburtstag zum Anlass, über seinen verstorbenen Vater zu berichten, um sich selbst zensierend zu kommentieren: »Aber das soll hier eigentlich gar nicht stehen… hier soll eigentlich stehen, dass mich matthias lilienthal zum theater gebracht hat […]«. Dem folgt ein längerer Abschnitt über das Kennenlernen und die gemeinsame Arbeit, bis sich Schlingensief schließlich einer Geburtstagsrede gleich an Lilienthal selbst wendet:
Und damit das hier kein nachruf wird , darf ich noch schreiben: lili danke für vieles, danke für deine lange freundschaft !, und danke für dieses letzte jahr 2009, wo du mich direkt nach kamerun begleitet hast, weil du angst hattest, dass ich das nicht durchststehe, was ja auch fast der fall gewesen ist. Matthias ich freue mich auf viele weitere arbeiten. Nicht unbedingt wieder ein wiencontainer, den du damals auch erstritten hast, aber vor allem flächen, um theater auch etwas sagen zu lassen , was noch nicht ausformulierbar ist ! gedankenarbeit eben. Philosophie.. fragen über fragen… dein christoph!
Schlingensief konstruiert sich auf seinem Blog vor allem durch Verwendung derartiger Dokumente und Verlinkungen als Person in einem sozialen Gefüge. Trotz der direkten Anrede, die einer persönlichen Nachricht, aber öffentlichen Rede entspricht, richten sich der Blog als öffentliches Medium und der Post an alle seine Leser. Das Video, das eingebundene Medium, ist in gewisser Weise nur ein Dokument, das die Geburtstagsfeier belegt und Referentialität und Verortung schafft. Dabei thematisiert der Blog zwar nicht die Frage der Subjektkonstitution wie das Tagebuch, dennoch scheint sein Inhalt umso deutlicher mit dem vergleichbar, was Foucault als Hypomnemata beschrieb:
Im technischen Sinne konnten die hypomnemata Rechnungsbücher, öffentliche Verzeichnisse und individuelle Hefte sein, die als Notizbucher dienten. […] In diese Hefte trug man Zitate, Auszüge aus Werken oder Beispiele von Handlungen ein, deren Zeuge man geworden war oder von denen man eine Darstellung gelesen hatte, sowie Reflexionen oder Überlegungen, die einem zu Gehör oder in den Sinn gekommen waren. Sie stellten ein materielles Gedächtnis der gelesenen, gehörten oder gedachten Dinge dar und machten aus diesen Dingen einen aufgehäuften Schatz für das spätere Wiederlesen und Meditieren.
Auch wenn das Tagebuch den Anspruch stellt, im Dienste der Arbeit am Ich den Hypomnemata verwandt zu sein, ist es in seiner Form kein Gesammeltes wie der Blog. Die verschiedenen Videos, Fotos, Links, Zeitungsartikel und Pressemitteilungen sowie Texte, die in dem Blog vereint werden, stammen von verschiedenen Autoren, die meist nicht explizit genannt werden. Gelegentlich wird ihr Inhalt lediglich geteilt und sie bleiben von Seiten Schlingensiefs unkommentiert. Geht man etwa bei den Fotografien in dem Blog davon aus, dass Schlingensief der Urheber ist und sie seinen ›Blick‹ auf etwas zeigen, so fällt der Irrtum erst auf, wenn Schlingensief selbst auf einem Bild erscheint. Es gibt also mehrere Stimmen und das ist ein entscheidender Unterschied zu Schlingensiefs Tagebuch, in dem die Stimmen einem Subjekt gehören, das im Kontext postmoderner Theorien und Konzepte nicht mit sich identisch, sondern stets temporärer Natur ist. Es gibt in dem Blog keinen Autor wie im Tagebuch, der sich beständig zeigt und Zusammenhänge herstellt. Aus dem Umstand und Kontext, dass es sich um den Blog von Christoph Schlingensief handelt, weiß der Leser hingegen um dessen Autorschaft. Selten unterschreibt der Autor auch explizit mit C, CS, Christoph S oder Christoph Schlingensief. Und nur selten wird der Leser direkt adressiert, und dann mit »liebe Freunde« oder Ähnlichem als Kollektiv – anders als im Tagebuch.
Dabei kommt dem Leser, wie bereits zu Beginn dargelegt, eine entscheidende Rolle zu, da er an der Narration des Blogs oder genauer der Narration des Materials maßgeblich beteiligt ist, sofern er den Fließtext des Wordpress-Blogs nicht einfach von hinten nach vorne runterscrollt und liest. Ein Feature, das in Bezug auf den Leser für das Medium Blog zudem eigentlich entscheidend ist, ist die Kommentarfunktion. Diese ermöglicht dem Leser eine Interaktion, indem er sich äußern oder nachfragen und so möglicherweise an dem Inhalt des Blogs teilhaben kann. Dieser Aspekt der Partizipation an der Narration fehlt bei Schlingensief, wenngleich er die Funktion des Kommentierens nicht deaktiviert hat. Auf seinem gesamten Blog findet sich nur ein einziger Kommentar, der zeitnah an den kommentierten Beitrag anschließt, selbst jedoch von Seiten Schlingensiefs unkommentiert blieb. Insofern gleicht die Sprechsituation, wenn auch eventuell unfreiwillig oder zufällig, der des Tagebuchs und entspricht einem Monolog, keinem Dialog. Vor der Diskussion um die Ökonomie der Aufmerksamkeit in Bezug auf die Sozialen Medien würde dies vermutlich als Problem empfunden werden. Dennoch kommt dem Leser auch auf seinem Blog naturgemäß eine entscheidende Rolle zu, der als Rezipient die Narration bestimmt, sodass der Blog auch aus diesem Grund letztlich nicht als eine Erzählung zu verstehen ist. Dabei ist es sicher möglich, dass Leser sich auch dem Tagebuch in ähnlicher Weise nähern, es in seiner Struktur aber nicht darauf ausgelegt ist. Dem lässt sich der Fall des Lesers hinzufügen, der einen abonnierten Blog regelmäßig in (relativer) Echtzeit und linear liest. Während Lore Knapp in Bezug auf den Schlingenblog schließt, der Leser schaffe die Narration, soll hier stattdessen abschließend resümiert werden, dass der Leser entscheidet, welcher narrativen Struktur er folgt. Die Struktur basiert dabei auf Überschriften, Tags, Verlinkungen etc. Entscheidender erscheint an dieser Stelle aber, dass nicht mehr die Kausalität im Mittelpunkt steht, die aus einer Linearität folgt, und dass anders als im Tagebuch ein kausaler Zusammenhang oftmals nicht als solcher ausgewiesen wird. So stellt sich beim Blog-Leser das Gefühl ein, er würde den Zusammenhängen der Einträge und dem Denken des Subjekts selbst auf die Spur kommen und das Künstler-Subjekt eigens entziffern. So kann der Eindruck entstehen, dass das Bild des Autors, das sich aus dem Lesen seines Blogs ergibt, authentischer ist, weil dieser nicht die explizite Darstellung einer Subjektkonstitution ist wie das Tagebuch, das diese Funktion ausschreibt.
In dieser Hinsicht ordnet Knapp den Schlingenblog dem Bereich der Autofiktion zu und betont den fiktiven Charakter des autobiographischen Materials, den sie auf der medialen Vermittlung begründet. Sie schließt, dass zwar Authentizität behauptet werde, sich aber durch die mediale Vermittlung ein fiktiver, inszenierter Charakter ergebe und die Zuordnung zur Autofiktion auch aus dem Verhältnis von Autor (des Blogs) und Erzähler (der teilweise fremden Beiträge) folge. Zwar kann aufgrund des oben Festgehaltenen Knapps Beobachtung zugestimmt werden, dass der Blog als »Wir-Erzählung« und das Tagebuch als »Ich-Erzählung« funktioniert, aber ihrer Annahme, der Schlingenblog knüpfe an die Gattung der Autofiktion an oder sei als Autofiktion lesbar, kann entgegengehalten werden, dass sich im Blog kaum ein Subjekt konstituiert, das neben seiner Authentizität zugleich seine Fiktionalität ausweist. Somit wäre das Subjekt nicht mit dem Begriff der Autofiktion zu charakterisieren, den Serge Doubrovsky als die »Fiktion strikt realer Ereignisse« beschrieben hat. Das Subjekt wird allerdings dort zur Fiktion, wo die Einträge und Medien von anderen Autoren stammen, weil das Festgehaltene nicht im Subjekt zu verorten ist, sondern dieses zu Ort der Sammlung wird. Und eindeutiger als der Blog wäre das Tagebuch als Autofiktion lesbar, weil darin die Subjektkonstitution als Aushandlung der eigenen Zersplitterung permanent thematisiert wird und sich das Subjekt insofern selbst permanent als Fiktion behauptet, während dies im Blog nur mit dem letzten Eintrag geschieht, der seinen eigenen Sinn und die Oberflächigkeit des Subjekts im Blog anzweifelt.
Fazit: Tagebuch, Blog und Subjekt
Tagebuch und Blog dienen als verschiedene Medien der Subjektkonstitution. Als Selbstgespräch, als das das Tagebuch inszeniert wird, stellt es selbst naturgemäß explizit die Frage nach der Möglichkeit der Konstitution und Manifestation eines einheitlichen Subjekts und betont unter dem Aspekt der Selbstsorge die Arbeit am Ich, in deren Dienst es gestellt wird. Das Tagebuch befragt permanent das erzählende Autoren-Ich und richtet sich zumindest auf textueller Ebene an das Subjekt selbst. Es reflektiert insofern ständig seine eigene Funktion im Dienste der Arbeit am Ich und im Kontext der Krankheit und des Zerfalls des zersplitterten Subjekts. Damit einher gehen die strukturelle Sequenzierung des Tagebuchs, das u.a. mit notizhaften Motti versehen ist, und demgegenüber die inhaltliche Verknüpfung zu einem einheitlichen Ganzen. So findet die Aushandlung des Subjekts im Modus der Offenheit und Autofiktion statt. Dem Blog hingegen fehlt die reflektierende Metaebene, die sich der eigenen Fiktionalität widmet, wenngleich diese umso mehr vom letzten Eintrag verkörpert wird. Hierin generiert Schlingensief vor allem seine Künstlerschaft über den Modus der Sichtbarkeit und Öffentlichkeit sowie über eine soziale und referentielle Verortung durch das Sammeln des Materials als Hypertext. Somit wird die Nicht-Fiktionalität des Blogs mehr noch von dem darauf befindlichen Material suggeriert, das der Künstler in seinem Blog collagiert. Die Offenheit auf der einen, die Öffentlichkeit auf der anderen Seite, sind insofern unterschiedliche Elemente der Subjektkonstitution.
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